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Ukraine-Krieg: "Wie wird Putin im Augenblick der Niederlage reagieren?"


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Historiker Jörn Leonhard
"Das war ein verheerendes Signal"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 23.02.2024Lesedauer: 10 Min.
Wladimir Putin: Russlands Präsident fordert den Westen heraus.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Russlands Präsident fordert den Westen heraus. (Quelle: Sergei Fadeichev/dpa)

Seit zwei Jahren bekriegt Russland die Ukraine auf breiter Front, ein Friede scheint weit entfernt. Aber wie enden Kriege überhaupt? Diese Frage beantwortet Historiker Jörn Leonhard – und erklärt, warum die eigentliche Herausforderung nach Friedensschluss beginnt.

Jahrzehntelang glaubten die Europäer, Krieg auf ihrem Kontinent mehr oder weniger überwunden zu haben. Dann überfiel Russland völkerrechtswidrig am 24. Februar 2022 die Ukraine – und entfachte einen Angriffskrieg, dessen Ausgang noch nicht absehbar ist. In welcher Phase eines Krieges werden ernsthafte Friedensgespräche aber überhaupt möglich? Warum bleibt ein Frieden nach seiner Unterzeichnung oft fragil? Und warum sollten die westlichen Staaten dafür sorgen, dass die Ukraine keine Niederlage erleidet?

Diese Fragen beantwortet mit Jörn Leonhard einer der renommiertesten deutschen Historiker, der in seinem Buch "Über Kriege und wie man sie beendet" die gewaltsamen Konflikte der Vergangenheit untersucht hat.

t-online: Professor Leonhard, Wladimir Putin gebärdet sich als eine Art Glaubenskrieger, der Russland nicht nur im Konflikt mit der Ukraine sieht, sondern mit dem Westen an sich. Kann man mit einem solchen Mann einen dauerhaften Frieden schließen?

Jörn Leonhard: Alle Kriege enden irgendwann. Die Mehrzahl aller historischen Wege in den Frieden war aber verschlungen, weil es immer wieder zu Verzögerungen und Unterbrechungen kam. Ob ein dauerhafter Frieden mit Putin – oder einem seiner Nachfolger – möglich sein könnte? Das hängt stark davon ab, wie der Krieg um die Ukraine ausgehen wird.

In Ihrem aktuellen Buch "Über Kriege und wie man sie beendet" schreiben Sie: "Die Natur des Krieges bestimmt sein Ende." Welcher Natur ist Russlands Krieg gegen die Ukraine?

Wir haben es in der Realität selten mit reinen Typen wie einem Staaten- oder einem Religionskrieg zu tun. Wie in den meisten längeren Kriege haben wir es auch in der Ukraine mit einem Hybrid zu tun: Den Menschen in der Ukraine geht es um die Verteidigung ihres souveränen Territoriums, aber auch um die eigene Nationsbildung in Abgrenzung von Russland. Russland führt einerseits einen Eroberungskrieg. Und die gewaltsame Veränderung der Grenzen verweist auf einen imperialen Phantomschmerz, der aus dem Untergang des sowjetischen Imperiums resultierte und geschichtspolitisch instrumentalisiert wird. Andererseits ist es auch ein Krieg gegen die Werte des Westens und schließlich ein Konflikt, in dem geostrategische Gewichte im globalen Maßstab neu justiert werden.

Jörn Leonhard, Jahrgang 1967, lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Sein 2018 erschienenes Buch "Der überforderte Frieden. Versailles und die Welt 1918–1923" beschreibt und analysiert die Entstehung der globalen Nachkriegsordnung von 1918 bis 1923. 2023 erschien "Empires. Eine globale Geschichte 1780–1920" (mit Ulrike von Hirschhausen). Sein aktuelles Buch "Über Kriege und wie man sie beendet" analysiert in 10 Thesen Wege zum Frieden in kriegerischen Konflikten. Für 2024 wurde ihm mit dem Gottfried Wilhelm Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft der mit 2,5 Millionen Euro wichtigste deutsche Forschungspreis zugesprochen.

Russlands Präsident wähnt sich auf einer historischen Mission, wie zuletzt sein mehr als zweistündiges Interview mit dem umstrittenen US-Moderator Tucker Carlson demonstriert hat.

Als Historiker kommt man bei der Dekonstruktion von Putins Lügen und seiner Geschichtsklitterung kaum hinterher. Besonders schockierend ist aber das Versagen von Tucker Carlson als Interviewer. Carlson ist Mitglied der Republikaner, der Partei des früheren US-Präsidenten Ronald Reagan, der in den Achtzigerjahren Afghanistan im Abwehrkampf gegen die Sowjetunion unterstützt hat. Hier erweist sich, welche außenpolitischen Implikationen die innergesellschaftliche Polarisierung in den USA hat. Europa muss eine Antwort auf ein Szenario finden, nach dem Donald Trump die Wahl im November gewinnen könnte.

Was zeichnet den Krieg der Werte und gegen die westlich geprägte Weltordnung aus?

Putin hält den Westen für moralisch dekadent und im Niedergang begriffen, dessen freiheitliche Werte für veraltet und überholt. In der sich jetzt langsam abzeichnenden multipolaren Weltordnung hält sich China zunächst eng an Russland. Aber auch die Reaktionen Indiens, Brasiliens und Südafrikas auf die russische Invasion der Ukraine war ganz anders als vom Westen erwartet – was auch eine Reaktion auf Erbschaften des Kolonialismus und der Konflikte zwischen dem Westen und dem globalen Süden darstellt. Viel wird davon abhängen, wie dieser Krieg ausgeht.

Daher die grundlegende Frage: Wie enden Kriege überhaupt?

Kriege enden ganz unterschiedlich, und immer prägt der Charakter des Krieges sein Ende. Ein Bürgerkrieg geht anders zu Ende als ein klassischer Staatenkrieg, ein Weltkrieg anders als ein lokaler Konflikt. Kriege zwischen Imperien werden wiederum anderes beendet als Kriege um die Bildung neuer Nationalstaaten.

Das "klassische" Ende eines Krieges erhoffen sich die Verantwortlichen durch eine Art Entscheidungsschlacht. Wie es die russische Führung zu Beginn der Invasion der Ukraine am 24. Februar 2022 mit der geplanten schnellen Einnahme Kiews geplant hatte?

In der Neuzeit gab es kaum größere Kriege, die tatsächlich durch eine solche frühe Schlacht militärisch eindeutig entschieden wurden – mit den Ausnahmen von Königgrätz 1866 im preußisch-österreichischen Konflikt und 1870 in der Schlacht von Sedan zwischen Frankreich und den deutschen Staaten. Aber diese Hoffnung von Politikern und Militärs steht oft am Beginn langer Kriege: also mit überlegenen Waffen, einem besonderen Siegeswillen und mit perfekter Vorbereitung einen einmal ausgebrochenen Krieg schnell zu gewinnen, um dann wieder der Diplomatie das Heft des Handelns zu überlassen. Doch historisch ist dieses Szenario die Ausnahme.

Was passiert, wenn ein Siegfrieden ausbleibt?

Häufig entwickelt sich dann ein Erschöpfungs- oder Abnutzungskrieg, so wie an der Westfront im Ersten Weltkrieg seit Ende 1914. In gewisser Weise erinnert das an die Situation zwischen Russland und der Ukraine. Wobei Russland zumindest im Augenblick – auch wegen mangelnder Unterstützung der Ukraine seitens des Westens – immer mehr Fortschritte erzielt, politisch wie militärisch.

Ist das Szenario eines militärischen Sieges Russlands damit gewachsen?

Eine Einschätzung in diese Richtung wäre noch verfrüht, denn die ukrainische Armee und die Zivilbevölkerung haben ihre Fähigkeit zum entschiedenen Widerstand und zu einer beeindruckenden Resilienz bewiesen. Aber es gilt eben, dass ein Krieg in der Regel nicht endet, solange auch nur eine Seite sich noch irgendwelche Chancen auf dem Schlachtfeld ausrechnet. An dieser Stelle lohnt sich auch die Betrachtung einer weiteren Frage, die für das Ende von Kriegen große Bedeutung hat: Gibt es einen glaubwürdigen Vermittler?

Ein solcher ist nicht in Sicht.

Zumindest nicht im Augenblick, und das beunruhigt mit Blick auf die Chancen, einen Ausgang aus dem Krieg zu finden. Ein Vermittler muss für beide Seiten nicht nur glaubwürdig sein, sondern auch ein robustes Mandat besitzen, also in der Lage sein, auch militärisch zu intervenieren, um die Bestimmungen eines Waffenstillstandes oder gar eines Friedensvertrags durchzusetzen. Wer diese Aufgabe übernehmen kann und will? Indien, Brasilien oder die Türkei können politisch vermitteln, aber zum robusten Mandat fehlt ihnen die Basis.

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Am Ende könnte auch ein sogenannter eingefrorener Konflikt stehen. Es gibt keine größeren Gefechte und Schlachten mehr, doch Blut wird in Scharmützeln weiter vergossen. Ist diese Grauzone realistisch?

Sehr viele moderne Kriege nach 1945 endeten nicht mehr mit einem klassischen Friedensvertrag, sondern damit, dass der Konflikt aus der zugespitzten Kriegssituation auf ein niedrigeres Gewaltniveau übergeht. Die Folge sind dann zum Beispiel permanent gebrochene Waffenstillstände, "blutende Grenze", Terroranschläge. So etwas kennzeichnet den Koreakonflikt seit dem Ende des Koreakriegs 1956 bis heute.

Auch die Grenze zwischen der Ukraine und den von Russland okkupierten "Volksrepubliken" im Osten des Landes war seit 2014 trotz Waffenstillstandsabkommen "blutend", bis Russland im Februar 2022 die Vollinvasion der Ukraine startete.

Es gibt viele historische Beispiele, wie sich latente Konflikte auch wieder anheizen lassen. Dann war ein Waffenstillstand eben nur eine taktische Pause, um Ressourcen für den nächsten Angriff zu sammeln. Insofern besteht dann immer wieder die Gefahr, dass der Konflikt erneut in einen regelrechten Krieg eskaliert. Tatsächlich lässt sich oftmals nicht exakt festlegen, wann ein Krieg überhaupt endet. Der Erste Weltkrieg kam 1917 für Russland als Staatenkrieg zu Ende, aber gleichzeitig ging er in einen jahrelangen Bürgerkrieg über. Ebenso begann der Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht erst 2022, sondern 2014 mit der russischen Besetzung der Krim.

2014 reagierten die westlichen Staaten mit eher wirkungslosen Sanktionen gegen den Bruch des Völkerrechts durch Russland, Putin fühlte sich offensichtlich ermutigt. Die Unterstützung der Ukraine mit westlichen Waffen verlief und verläuft auch in unserer Gegenwart schleppend. Haben die westlichen Demokratien ihre historischen Hausaufgaben im Umgang mit aggressiven Diktaturen nicht gemacht?

Sie spielen auf den Umgang der westlichen Siegermächte von 1918 mit Adolf Hitler an? Historische Analogien sollten immer der Anlass sein, genau nach den Unterschieden zwischen Geschichte und Gegenwart zu fragen. Aber für die Einsicht aus den 1930er-Jahren muss man gar nicht auf das oft erwähnte Münchner Abkommen von 1938 und die Zerschlagung der souveränen Tschechoslowakei zu sprechen kommen. 1935 schlossen sich Frankreich, Großbritannien und Italien angesichts der Wiedereinführung der Wehrpflicht im Deutschen Reich zur sogenannten Stresa-Front zusammen und signalisierten Hitler eine rote Linie. Aber die britische Regierung schloss kurze Zeit später ein bilaterales Flottenabkommen mit Deutschland. Das war damals ein ebenso verheerendes Signal, wie es die schwache Reaktion des Westens auf die Krimbesetzung 2014 gewesen ist. Gegen aggressive Staaten braucht es eine glaubwürdige Abschreckung, wenn sie rote Linien überschreiten. Damals wie heute.

Warum ist diese Lektion nicht Allgemeingut? In Deutschland schreitet die sogenannte Zeitenwende auch nach zwei Jahren Krieg nur schleppend voran.

Niemand muss den Menschen im Baltikum, in Polen oder Finnland erklären, was die imperiale Aggression Russlands für das eigene Land immer wieder bedeutete. Aber mit wachsender geografischer Entfernung schwindet offensichtlich das Bewusstsein für die Gefahr. Weil niemand genau wissen kann, was Putin plant, sollten die Europäer sich auf konkrete Bedrohungsszenarien vorbereiten. Zumal wir uns auf die seit 1945 sichere Unterstützung der USA so nicht mehr verlassen können.

Wie bewerten Sie nach zwei Jahren Krieg in der Ukraine die Stimmung in den westlichen Staaten?

Wir sind Zeugen einer doppelten Desillusionierung. Nachdem die ukrainische Armee die russische Hoffnung auf einen schnellen Entscheidungsschlag im Februar und März 2022 abwehren konnte, schien Russland in der Defensive. Im Westen wuchs die Hoffnung, dass die Ukraine nun erfolgreich David gegen Goliath spielen könne, was auch durch die ukrainischen Rückeroberungen 2022 genährt wurde. Dann kam es zur nächsten Desillusionierung, dieses Mal auf ukrainischer und westlicher Seite, als die Frühjahrsoffensive in ihren weitreichenden Zielen scheiterte. Im Augenblick spielt die Zeit für Putin.

Weil er Menschen und Material wortwörtlich ohne Rücksicht auf Verluste einsetzt?

In einem Moment, in dem beide Seiten weiterhin auf eine militärische Lösung setzen, kommt Ressourcen eine immer größere Bedeutung zu. Und Ressourcen umfassen in einem modernen Krieg nicht nur Panzer und Munition, sondern auch Resilienz, also die politische Entschiedenheit, die Ukraine wirksam zu unterstützen. Dafür spielen Deutungshoheit und Meinungsklima im öffentlichen Raum eine Rolle. Während die russische Führung jedem Anzeichen von Opposition in der eigenen Bevölkerung mit brutaler Repression begegnet, gibt es im Westen Anzeichen dafür, dass die Bereitschaft für eine lange Unterstützung der Ukraine erodiert. Nicht zuletzt ist auch Zeit eine kriegsentscheidende Ressource: Sie spielte für die Nordvietnamesen während des Vietnamkrieges eine bedeutende Rolle, weil sie um den Zulauf für die Friedensbewegung in den USA wussten. Heute setzt Russland auf den Wiedereinzug Donald Trumps ins Weiße Haus.

Die russischen Truppen führen nicht nur einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Ukraine, sondern haben auch zahlreiche Kriegsverbrechen begangen. Wie kann so ein beständiger Friede am Ende des Konflikts entstehen, wenn die Schuldigen nicht bestraft werden?

In den Friedensverträgen der Frühen Neuzeit findet sich eine "Oblivionsklausel", das "wohltätige Vergessen", um einen langfristigen und stabilen Frieden zu gewährleisten und die Kriegserfahrungen gleichsam hinter sich zu lassen. Alle wichtigen Friedensverträge bis zum Ende des 19. Jahrhunderts beinhalteten noch Elemente dieser Formel. Nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs wandelte sich dann die Bedeutung des Begriffs Frieden. Es ging nicht mehr allein um die Abwesenheit militärischer Gewalt. Vielmehr stand Frieden auch für moralische Normen, für Gerechtigkeit, für die Anerkennung von Opfern und die Aufarbeitung von Kriegsverbrechen.

Was ist daran falsch?

Daran ist nichts falsch. Aber je mehr Erwartungen es an den Frieden gibt, desto größer muss die Ausdauer sein, ihn langfristig zu gestalten. Es gibt Stimmen, die das Ziel formulieren, dass Russland nur nach einer schweren Niederlage zu einer wirklichen Einsicht gelangen könnte, so wie es 1945 im Falle Deutschlands und Japans der Fall war. Einerseits, um Kriegsverbrechen zu ahnden, andererseits um einen innergesellschaftlichen Lernprozess anzustoßen. Aber wir sprechen hier über eine Atommacht. Wie wird Putin im Augenblick der Niederlage reagieren, nach der ihm nicht nur der politische Tod drohen könnte? Nach einem solchen Ende könnte es zu Diadochenkämpfen oder zu bürgerkriegsähnlicher Gewalt kommen. Diese enorme Unberechenbarkeit in Verbindung mit dem Fehlen eines glaubwürdigen Vermittlers macht den Ukraine-Krieg extrem komplex.

Falls irgendwann ein Friede eintreten sollte: Wie kann er dauerhaft gemacht werden?

Der Erste Weltkrieg endete nicht mit dem Friedensvertrag von Versailles 1919 – diese Tatsache war den Zeitgenossen im Augenblick seiner Unterzeichnung bewusst. Für manche Deutsche endete dieser Krieg erst mit den Locarno-Verträgen 1925, für andere im Juni 1940, als Frankreich im Eisenbahnwaggon vom November 1918 seine Niederlage eingestehen musste, für andere vielleicht erst nach beiden Weltkriegen und den langsamen Schritten hin zur Versöhnung seit den 1950er-Jahren. Aber im Kern ist Frieden kein Moment, sondern ein langfristiger Prozess, den man gestalten muss und in dem Generationen lernen müssen, einander zu vertrauen und die gegenseitigen Feindbilder aus den Köpfen zu bekommen.

Im Vertrag von Locarno verzichten das unterlegene Deutschland ebenso wie Frankreich und Belgien auf gewaltsame Grenzveränderungen untereinander.

Nach dem formalen Ende des Ersten Weltkriegs wirkte die Besetzung des Ruhrgebiets 1923 durch Frankreich und Belgien noch wie eine militärische Fortsetzung des Konflikts. Locarno markierte aus dieser Perspektive tatsächlich den Beginn eines Nachkriegs, dem man trauen konnte. Im deutsch-französischen Verhältnis dauerte es Jahrzehnte, bis der Krieg aus den Köpfen der Menschen verschwinden konnte.

Russland erleidet massive Verluste in diesem Krieg. Geht Putin aufs Ganze oder halten Sie ab einem bestimmten Punkt ein Einlenken des Kremls für möglich?

In der Endphase vieler historischer Kriege spitzte sich die Gewalt oft noch einmal zu, trotz taktischer Konzessionen. Wenn sich kein Siegfrieden mehr erreichen lässt, wollen die Akteure zumindest gesichtswahrend aus dem Konflikt herauskommen, und dazu brauchen sie vorzeigbare Ergebnisse. Oder sie wollen vor sich abzeichnenden Verhandlungen beweisen, dass sie jederzeit wieder losschlagen könnten.

Was wäre Ihr Ratschlag an die westlichen Staaten?

Russland und Putin dürfen nichts erreichen, was sich als Sieg verkaufen ließe und den Erfolg der Aggressionstaktik beglaubigen würde. Die Ukraine muss deshalb weiter unterstützt werden – sehr intensiv und sehr schnell. Würde sich Russland durchsetzen, gäbe es nichts, was Putin daran hindern könnte, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit erneut zu eskalieren und den Krieg wiederaufzunehmen. Davon ginge eine verheerende Signalwirkung aus, denn was sollte China daran hindern, Taiwan zu bedrängen, Aserbaidschan wiederum Armenien? Wenn der Westen es zulässt, dass die Souveränität und territoriale Integrität eines unabhängigen Staates zur Disposition steht, gibt man die Grundlage einer regelbasierten Weltordnung auf.

Die Bundeswehr befindet sich in einem desolaten Zustand, das Geld ist knapp, die Ampelkoalition zerstritten. Kann Deutschland in nächster Zeit überhaupt einen nennenswerten Beitrag zur Abschreckung leisten?

Die Bundesrepublik Deutschland hat Ende der Achtzigerjahre mehr als vier Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für ihre äußere Sicherheit ausgegeben. Damals galt die Bundeswehr in Nato-Kreisen als herausragend organisierte und verlässliche Armee mit vorbildlicher Einsatzquote bei Flugzeugen und Panzerfahrzeugen. Wir müssen neu lernen, dass äußere Sicherheit die Voraussetzung für alles andere ist. Und wir müssen das unmissverständliche Zeichen geben, dass wir diese Erkenntnis in konkrete Politik übersetzen. Sonst bleibt die "Zeitenwende" ein rhetorisches Bekenntnis ohne Wert.

Professor Leonhard, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Jörn Leonhard via Telefon
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