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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ex-General Domröse "Dramatischer geht es ja nicht mehr"
Russlands Niederlage in der Ukraine ist nahe, hofft man im Westen. Sind die Erwartungen an die ukrainische Offensive übertrieben? Ex-General Hans-Lothar Domröse ordnet die Lage ein.
Einst war Russlands Armee gefürchtet, doch am Widerstand der Ukraine droht sie zu scheitern. Nun soll eine Offensive der ukrainischen Streitkräfte die Besatzer aus dem Land treiben, wobei westliche Kampfpanzer helfen. Kann dieser Gegenstoß gelingen?
Hans-Lothar Domröse, früherer General der Bundeswehr, warnt vor zu großen Erwartungen: Das russische Militär sei keineswegs untätig gewesen, zudem nehme Wladimir Putin selbst massive Verluste in Kauf. Wie trotzdem ein Frieden möglich werden könnte, warum Verteidigungsminister Boris Pistorius vieles richtig macht und wann die Bundeswehr Gegner wieder abschrecken kann, erklärt Domröse im t-online-Interview.
t-online: Herr Domröse, Putins Truppen haben sich verschanzt, nun hofft der Westen auf eine erfolgreiche Offensive der ukrainischen Armee. Wie stehen die Chancen?
Hans-Lothar Domröse: In der Ukraine werden die Russen den Knock-out wohl nicht erleiden. Bei aller Sympathie für die Angegriffenen widerspricht meine Erfahrung als Truppenführer dieser Hoffnung. Und auch die Lage am Boden spricht leider nicht dafür.
Also wird die Offensive nicht der erhoffte Schritt zu einem Waffenstillstand sein?
Die Hoffnungen bei uns im Westen hinsichtlich der ukrainischen Frühjahrsoffensive sind überzogen. Die Lage lässt sich mit einem Boxkampf vergleichen: Die Ukrainer haben westliche Kampf- und Schützenpanzer bekommen, auch verschiedene Distanzwaffen. Damit können sie die Besatzer hart treffen, erst ins Taumeln und schließlich zu Boden bringen. Wie dramatisch die Lage aber tatsächlich ist, findet weniger Beachtung. Die Russen haben sich personell und materiell, zusätzlich das Gelände mit Minen, Gräben und Sperren, nachhaltig verstärkt.
Hans-Lothar Domröse, Jahrgang 1952, ist General a. D. des Heeres. Der Berufsoffizier trat 1973 in die Bundeswehr ein, an der Universität der Bundeswehr Hamburg studierte er Wirtschaftswissenschaften mit Abschluss Diplom-Kaufmann. Domröse war in seiner Dienstzeit Truppenführer auf allen Ebenen, daneben im Verteidigungsministerium, im Bundeskanzleramt und bei der EU/Nato tätig, dort zuletzt bis zu seiner Pensionierung 2016 als Befehlshaber des Allied Joint Force Command Brunssum (Niederlande).
War die westliche Waffenhilfe nicht ausreichend?
Wenn ich richtig mitgezählt habe, stehen der Ukraine mittlerweile rund 300 gepanzerte Systeme aus dem Westen zur Verfügung. Bei der Bundeswehr entspräche dies etwa zwei Brigaden. Das ist nicht schlecht, aber noch keine "Übermacht" – bezogen auf rund 1.300 x 100 Kilometer besetzter Gebiete.
Was also vermögen die Ukrainer mit den Panzern auszurichten?
Der naheliegende Gedanke ist, dass sie die russische Front an einem Punkt durchstoßen und die besetzte Krim so weitestgehend isolieren wollen.
Ist das falsch? Wahrscheinlich fürchtet Putin doch nichts mehr als den Verlust der 2014 annektierten Halbinsel.
Vermutlich ist das so. Aber das ist nicht das Problem der Ukrainer. Diese müssen zunächst einmal die russischen Frontlinien mit Schwung und Stoßkraft durchbrechen. Das wird sehr hart, denn die Russen haben sich eingegraben und Verteidigungsanlagen errichtet. Gelingt den Ukrainern mit Überraschung und Geschwindigkeit trotzdem der Durchbruch, finden sie sich in einer extrem fordernden Situation wieder: nämlich den freigekämpften Raum nach beiden Seiten zu verteidigen. Es wäre ja eine Art Keil im russisch besetzten Territorium. Nehmen wir einmal an, die Ukrainer kommen bis ans Asowsche Meer, dann sind zwei Brigaden nicht sehr viel, um diesen Streifen dauerhaft zu halten.
Falls die ukrainische Armee allen Widrigkeiten zum Trotz erfolgreich ist: Ab wann wären Verhandlungen zwischen den beiden Kriegsparteien denkbar?
Die Situation ist verfahren. Der Kreml will seine Eroberungen in der Ukraine behalten, Präsident Selenskyj will sie ihm wieder wegnehmen. Es gibt also derzeit keine Kompromisslösungen. Deswegen wollen und müssen beide Seiten am Boden eine Situation "herbeischießen", die dann die jeweils andere Seite an den Verhandlungstisch zwingt. Mit anderen Worten: Solange eine Kriegspartei noch auf Erfolge hofft, werden die Waffen nicht schweigen. Und davon völlig losgelöst weiß ich nicht, ob Putin überhaupt verhandeln will.
Also könnte das Kriegsende noch in ferner Zukunft liegen.
Das kann, muss aber nicht so sein. Letzten Endes ist Krieg auch ein Zahlenspiel. In der Ukraine wird beispielsweise mehr verschossen, als wir bei uns in Deutschland überhaupt produzieren können. Wenn die Kugeln ausgehen, sieht es düster aus.
Die einst gefürchtete russische Armee hat dramatische Verluste erlitten. Wie lange kann Putin das selbst durchhalten?
Die Russen können noch lange so weitermachen. 200.000 Tote spielen für die Regierung offensichtlich keine Rolle. Bei Bedarf können mehrere Millionen Männer einberufen werden, heißt es. Die Rüstungsindustrie produziert dort 20 Panzer im Monat, hierzulande bringen wir es gegenwärtig auf 20 im Jahr. Leider kann ich auch keine Revolutionsstimmung in Russland ausmachen. Einen Grafen Stauffenberg erkenne ich nicht. Wäre es anders, würde Putin anders auftreten.
Sollten Deutschland und die anderen westlichen Länder der Ukraine noch mehr schwere Waffen liefern, um ihr die Möglichkeit zu geben, die russische Armee entscheidend zu schlagen?
In Bezug auf Deutschland halte ich das für wünschenswert, aber eher unwahrscheinlich.
Warum?
Weil zumindest hierzulande schlicht nicht genügend Gerät vorhanden ist. Die Ukraine-Kontaktgruppe mit 50 Nationen kann sicher insgesamt noch etwas dazulegen. Es geht um das Überleben der Ukraine!
Verteidigungsminister Boris Pistorius hat eingestanden, dass die Bundeswehr selbst nicht "verteidigungsfähig" ist.
Diese Formulierung war etwas unglücklich gewählt und muss nun nicht wortwörtlich genommen werden. Verteidigungsbereitschaft betrifft ja nicht nur die Streitkräfte, sondern die gesamte Gesellschaft. Von 2006 bis 2008 habe ich die Division Spezielle Operationen geführt, da waren wir es gewohnt, auch mit relativ wenig Ausrüstung viel zu leisten. Tapferkeit, Mut und gute Führung sind wichtige Bausteine. Und politisch-gesellschaftliche Unterstützung. Die Frage der Resilienz muss natürlich diskutiert werden.
Die "Zeitenwende"-Rede von Bundeskanzler Scholz vor mehr als einem Jahr sollte die Antwort auf die neue Bedrohungslage sein. Diese Wende verläuft nun allerdings quälend langsam.
Es wird dauern. Um die Bundeswehr aus ihrem aktuellen Zustand in eine Verfassung zu bringen, in der sie schlagkräftig und abschreckend wirkt. Das dauert etwa zehn Jahre. Eine Armee wird nie fertig – sie muss immer weiterentwickelt werden und an technologische Fortschritte angepasst werden. Das Ziel ist aber schon heute klar.
Liegt es am Geld?
Das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr war eine klasse Initiative zur Entwicklung der Streitkräfte. Das ist ein ziemlicher Batzen Geld, dazu kann ich nur sagen: Daumen hoch! Die Umsetzung verlief im ersten Jahr leider ziemlich zäh.
Als Nachfolger der heftig kritisierten Christine Lambrecht macht Pistorius nun doch aber Tempo.
Boris Pistorius macht seine Sache sehr gut, wenn ich das als mittlerweile Außenstehender sagen darf. Empathie, Schwung und Entscheidungsfreude hatten wir ja länger nicht mehr gesehen. So musste er feststellen, dass durch die Inflation und andere Umstände die 100 Milliarden Euro Sondervermögen de facto plötzlich nur noch 83 Milliarden wert sind. Umso wichtiger, dass es nun schneller geht, um die notwendigen Systeme in die Kasernen zu bringen und die Bundeswehr wieder attraktiv und schlagkräftig zu machen. Speed matters!
Haben Sie den Eindruck, dass die Brisanz der Weltlage schon überall im Berliner Politikbetrieb angekommen ist? Vonseiten des linken SPD-Flügels werden immer wieder Verhandlungen mit Russland angemahnt, der rechte Flügel hingegen will China nicht zu hart behandeln.
Russland hat die Ukraine völkerrechtswidrig und ohne Grund überfallen. Insofern haben wir eine klare Situation, die von allen politischen Richtungen geteilt wird. Dramatischer geht es ja nicht mehr. Entsprechend sind die Aussichten für die Bundeswehr gut: Es gibt Geld, es gibt gesellschaftliche und politische Unterstützung für die Reformen. Alle Faktoren sprechen dafür: jetzt oder nie ...
Aufgrund politischer Entscheidungen hat der deutsche Verteidigungshaushalt seit vielen Jahren das angestrebte Zwei-Prozent-Ziel der Nato verfehlt. Trotzdem waren es etwa 2020 immerhin mehr als 45 Milliarden Euro. Wo ist das viele Geld geblieben?
Nun, die Bundeswehr mit rund 200.000 Menschen verschlingt allein ein Drittel des Budgets für Personal. Dazu Betrieb der Systeme, Ausbildung, Einsätze, etc. Wir wollen mehr investieren. Ein Problem bestand bislang darin, dass die Bundeswehr bei der Beschaffung immer nach dem "perfekten" System Ausschau gehalten hat. Da wurde dann noch weiter optimiert, es dauerte immer länger und wurde immer teurer. Damit soll jetzt Schluss sein. Marktverfügbarkeit heißt das neue Zauberwort: Kaufen vor Entwickeln, um schneller besser ausgerüstet zu sein. Aber klar ist auch: Die Hightech-Systeme sind sehr teuer.
Die Bundeswehr beklagt aber auch gegenwärtig allerhand Lücken, um die sich Boris Pistorius nun kümmern soll – auch ohne das an die Ukraine abgegebene Material.
Es muss bei der Beschaffung ein gesundes Mittelmaß hergestellt werden zwischen aktuellen und zukünftigen Lücken. Kein Mensch würde heute noch Telefonzellen kaufen – die Vision 2030 plus muss Vorrang haben.
Wie meinen Sie das?
Wir wollen hier in Deutschland doch nicht irgendwann die Schlacht um Bachmut erleben müssen – also das Totschießen in einem blutigen Stellungskrieg. Was die Russen da machen, ist bescheuert, das muss man so hart sagen. Nein, wir wollen lieber eine Bundeswehr, die sich durch Informationsüberlegenheit und Distanzfähigkeit auszeichnet. Das bedeutet, dass wir im Ernstfall wissen, wo sich der Gegner befindet und wie wir ihn aus der Ferne bekämpfen können. Gemeinsam mit Alliierten und Partnern müssen wir Wirkungsüberlegenheit anstreben.
Unter Pistorius' Führung scheint tatsächlich Bewegung in das Ministerium, das Beschaffungsamt und die Bundeswehr zu kommen. "Oberste Priorität ist für uns alle künftig der Faktor Zeit", hat er per Tagesbefehl angeordnet. Haben Sie den Eindruck, dass die Weichen nun wirklich umgestellt werden oder sitzt die Bürokratie das am Ende wieder aus?
Der Besen geht durchs Haus – und keiner will ausgekehrt werden. Das ist eine positive Reaktion, eine gute Motivation, wenn Sie so wollen. Der Minister hat kleinere Strukturreformen im Bundesverteidigungsministerium angekündigt – eine große, notwendige Streitkräftereform erkenne ich bislang noch nicht. Er wird sicher eine Vision im Auge haben – Spitzenpersonal auswechseln alleine reicht nicht. Eine Strategie muss her.
Die berühmt-berüchtigten Goldrandlösungen bei Waffenbestellungen wird es aber nicht mehr geben?
Der Verteidigungsminister hat erklärt, dass gekauft werden soll, was der Markt zur Verfügung stellt. Das macht er richtig. Einfach ist das aber nicht, denn bereits heute muss bestellt werden, was für 2027 geplant ist. Zudem gehen ja nicht nur wir Deutschen im Augenblick auf große Einkaufstour, sondern zahlreiche Staaten. Außerdem sollten die Waffen nicht zu viele Komponenten aus den Ländern enthalten, mit denen es zukünftig schwierig werden könnte. Große Abhängigkeit ist nicht gut, das sollte inzwischen jeder kapiert haben. Ein "Kleeblatt" aus Politik, Militär, Wissenschaft und Industrie kann das schaffen. Sie sehen, es ist komplex.
Sie selbst waren lange bei der Nato tätig. Wie groß ist dort das Befremden über Deutschland, das selbst 2022 das Zwei-Prozent-Ziel deutlich verfehlt hat?
Deutschland muss sich an die Spielregeln halten, so lautet die Erwartung. Wir sind nun einmal das wirtschaftlich stärkste Land Europas mit einer Bevölkerung von mehr als 80 Millionen Menschen. Da erscheint es nur recht und billig, dass wir einen entsprechenden Beitrag leisten. Allerdings muss ich einwenden, dass Deutschland mittlerweile der größte europäische Unterstützer der Ukraine ist, wenn wir alles zusammenzählen. Verstecken müssen wir uns also nicht. Ich komme gerade aus Litauen, wo ich Gast bei den dort eingesetzten Kräften war. Beeindruckend, was mir der litauische Generalstabschef sagte: Deutschland steht in allen Nato-, EU- und UN-Einsätzen sehr überzeugend und zuverlässig "seinen Mann".
Der russische Krieg gegen die Ukraine könnte aber von der nächsten Krise gefolgt werden: Was geschähe, falls China Taiwan angreift? Sind wir auf zwei derartige Konflikte vorbereitet?
Wenn Sie im Spagat sitzen, können Sie sich kaum noch bewegen. Ein chinesischer Angriff auf Taiwan wäre – zeitgleich zur russischen Invasion in die Ukraine – das Worst-Case-Szenario. Ich halte dies allerdings für nicht sehr wahrscheinlich.
Warum?
Weil es für China ein ziemlich verlustreicher Krieg werden würde. Peking braucht den Handel mit uns, um Wohlstand und Wachstum zu erzielen. Die Chinesen neigen nicht dazu, in unklarer Lage unnötige Abenteuer einzugehen. Trotzdem sollten wir vorbereitet sein. Wenn es zum Konflikt kommen sollte, werden unsere Verbündeten auf uns zählen.
Inwiefern?
Wenn amerikanische, britische, meinetwegen auch französische Kriegsschiffe Richtung Pazifik auslaufen sollten, muss jemand hier in Europa an ihre Stelle treten. Das "A" in Nato steht ja für Atlantik. Da wäre Deutschland gefragt.
Wir haben doch schon mit der Bedrohung durch Russland reichlich zu tun.
Absolut. Wir müssen die Russen abschrecken, einen weiteren Schritt Richtung Nato-Territorium zu wagen. Oder die Souveränität anderer Länder zu verletzen. Das würde Putin sehr, sehr teuer zu stehen kommen – so muss die Botschaft an Russland lauten. Es darf und wird sich nicht lohnen.
Herr Domröse, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Hans-Lothar Domröse via Videokonferenz