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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Verfassungsabstimmung erfolgreich Putin steuert Russland in Richtung Sowjetunion
Wladimir Putin ist am Ziel, mit der Volksbefragung sichert sich der russische Präsident für lange Zeit die Macht in Russland. Putin bricht damit nicht nur eigene Versprechen, für sein Land markiert der heutige Tag eine "Stunde null".
Mit einem Lächeln zeigt Wladimir Putin in einem Wahllokal in Moskau seinen Pass vor. In dem pompösen Saal sind viele kleine Tische aufgebaut, an denen Wähler ihre Unterlagen für die Volksbefragung bekommen können. Es ist der letzte Tag der einwöchigen Abstimmung. Für Putin ist es mit Blick auf seine politische Zukunft ein wichtiger Tag, auch deshalb gibt sich der russische Präsident bei seiner Stimmabgabe betont siegessicher.
"Stabilität, Sicherheit, Wohlstand und ein würdevolles Leben der Menschen können wir nur über eine Entwicklung absichern – nur zusammen und nur mit Ihnen", warb er kurz zuvor im russischen Fernsehen für ein "Ja" zu seiner geplanten Verfassungsänderung. Mit Erfolg. Am Abend wird klar: Der russische Präsident gewinnt deutlich, mit den Diskussionen über seinen Rückzug nach der nächsten Wahl im Jahr 2024 ist nun Schluss.
Damit zementiert Putin seine Langzeitherrschaft und verschafft sich zusätzlich noch mehr Macht in einem Staat, der nun völlig auf ihn ausgerichtet ist. Mit der Volksbefragung hat er sich im Schatten von Corona die Macht im Land für die nächsten 16 Jahre gesichert. Damit steuert Putin sein Land immer mehr in eine Richtung, die an die politischen Verhältnisse der Sowjetunion erinnert.
Tiefe Einschnitte in Russland
Internationale Beobachter haben lange darüber gerätselt, wie Putin seine Macht langfristig festigen wird oder ob er sich vielleicht sogar zurückzieht. Eine Antwort darauf gab der russische Präsident Anfang des Jahres. Damals gab Putin bekannt, dass er das russische Parlament und den Staatsrat stärken wolle. Diese Pläne sind nun vorerst vom Tisch, sein Versprechen für mehr Parlamentarismus in Russland hat er gebrochen.
Die Verfassungsänderungen bedeuten tiefe Einschnitte in Russland, trotzdem ist das Ergebnis eindeutig: Bei der siebentägigen Abstimmung votieren rund 75 Prozent der Wähler für Putins Vorhaben. Das eindeutige Ergebnis ist auch damit zu erklären, dass es der Bevölkerung an Alternativen zum jetzigen Präsidenten fehlt und Putin aus Sicht vieler als einziger Stabilität garantieren kann.
Doch die Abstimmung wurde von Berichten über zahlreiche Manipulationen und Wählereinschüchterung überschattet. Die Opposition konnte sich im Vorfeld kaum Gehör verschaffen. Seit Jahren wird sie systematisch unterdrückt. Aktivisten werden unter Terrorvorwürfen mit Prozessen überzogen und oft jahrelang eingesperrt. Viele Menschen, vor allem die jungen, haben ob der politischen und sozialen Stagnation längst resigniert und verlassen das Land.
Die derzeitigen globalen Krisen gaben Putin den perfekten Zeitpunkt, um seinen Machterhalt zu sichern. Seine Verfassungsänderungen trafen laut Meinungsumfragen stets auf große Zustimmung. Trotzdem wollte der Präsident auf Nummer sicher gehen: Er nannte die Abstimmung nicht "Referendum", denn das Ergebnis eines Referendums wäre für ihn bindend gewesen. Dieses Risiko ging er nicht ein – trotz der Mehrheitsverhältnisse im Vorfeld.
Tiefgreifende Veränderungen
Die deutliche Zustimmung der russischen Bevölkerung erreichte Putin auch dadurch, dass er die Frage seiner Amtszeit bei der Abstimmung mit anderen sozial- und sicherheitspolitischen Fragen verknüpfte.
Ein Überblick über die Veränderungen, die nun in Russland in Kraft treten:
- "Stunde null" für Putin: Bisher ermöglicht die russische Verfassung dem Staatsoberhaupt nur zwei Amtszeiten in Folge. Mit Inkrafttreten der neuen Verfassung würden die bisherigen Amtszeiten jedoch nicht mehr gezählt; Putin könnte bei den Präsidentschaftswahlen 2024 und 2030 erneut antreten und damit bis 2036 im Amt bleiben.
- Mehr Macht für den Präsidenten: Das Staatsoberhaupt soll mit der neuen Verfassung das Recht der Parlamentsauflösung bekommen, wenn ein von ihm nominierter Minister dreimal durch die Abgeordnetenabstimmung fällt. Dem Präsidenten soll außerdem ein größeres Mitspracherecht bei der Arbeit der Judikative zustehen, unter anderem dürfte er Richter entlassen und ernennen.
- Mehr Kirche im Staat: Trotz der langen Geschichte Russlands als säkularer Staat soll der "Gottesglauben" in der Verfassung verankert werden. Zudem soll die Ehe als Verbindung zwischen Mann und Frau festgeschrieben werden, was homosexuelle Ehen effektiv verbietet. Die Änderungen zielen auch darauf ab, die "historische Wahrheit" über die Rolle des Landes im Zweiten Weltkrieg zu schützen und das Andenken an "die Verteidiger des Vaterlandes" zu ehren.
- Russischer Nationalstolz: Der neue Wortlaut der Verfassung untersagt die Abgabe von russischem Territorium. Demnach sind auch alle Aufrufe zu einem solchen Schritt verboten. Diese Änderung würde rechtlich zementieren, dass Russland die 2014 von der Ukraine annektierte Krim oder die Kurilen – seit Jahrzehnten ein Konflikt mit Japan – behält.
- Soziale Vorhaben: Mit der Garantie eines Mindestlohns über dem Existenzminimum und der Anpassung der Renten an die Inflation will Putin Kritikern zufolge seine Popularität steigern. Außerdem sollen die Grundsätze der "Gerechtigkeit und Solidarität zwischen den Generationen" in der neuen Verfassung festgeschrieben werden. Damit soll die Stabilität des Rentensystems gewährleistet werden.
Über die Verfassungsänderungen und die Entscheidung über eine noch längere Herrschaft Putins ließ der Kreml im Paket abstimmen, um möglichst viele Menschen anzusprechen. Einerseits gibt es immer mehr Menschen, speziell auf dem Land, die extrem unter Armut leiden und die sich selbst trotz Arbeit nicht über Wasser halten können. Sie sind auf eine Rentenreform und auf einen Mindestlohn angewiesen.
Andererseits warb Putin um die Stimmen jener Russen, die ein sehr christlich-orthodoxes Weltbild haben, und um den Teil der Bevölkerung, der den internationalen Bedeutungsverlust nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht verkraftet hat. Die Zustimmung dieser großen politischen und religiösen Lager in Russland ist allgemein das Geheimnis für den politischen Erfolg des russischen Langzeitpräsidenten.
Putins "Sowjetunion 2.0"?
Das führte in den letzten 20 Jahren dazu, dass Putins Russland immer mehr in Richtung "Sowjetunion 2.0" steuerte, nur dass es in Russland mehr Raum für den christlichen Glauben gibt. Das russische Militär wurde modernisiert, Putin ließ die Krim annektieren, führte Krieg in Syrien und Libyen und der Kreml organisierte in den letzten zehn Jahren Mordanschläge in Europa.
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Wenn Putin bis zum Jahr 2036 regieren sollte, wäre er deutlich länger an der Macht als Josef Stalin in der Sowjetunion. Putin wäre dann 83 Jahre alt, die durchschnittliche Lebenserwartung in Russland betrug im Jahr 2017 72,1 Jahre. Seine erste Amtszeit als Präsident trat Putin im Jahr 2000 an. Zwischendurch amtierte er vier Jahre als Ministerpräsident, um sich dann 2012 und 2018 erneut zum Staatschef wählen zu lassen.
Die Abstimmung über die Verfassungsänderung zeigt aber vor allem auch, dass die Opposition im Land immer unsichtbarer wird. Die Gegner der Verfassungsänderung haben es schwer, mit ihrer Kritik durchzudringen. In den Staatsmedien ist das ein Tabu. Die Propaganda des Machtapparats stempelt jeden, der gegen Putins Grundgesetz ist, rasch als westlichen Spion ab, der Russland auslöschen wolle.
Opposition wird mundtot gemacht
Aus vielen Teilen des Landes gab es Berichte, Sicherheitskräfte würden gewaltsam gegen Kritiker vorgehen und immer wieder Flugblätter und anderes Agitationsmaterial in Beschlag nehmen. Weil Proteste wegen der Corona-Pandemie nicht erlaubt werden, verlagerten sich Aktionen ins Internet. Während Demonstrationen verboten waren, hielt Putin letzte Woche trotzdem die traditionelle Militärparade zum Sieg über Nazi-Deutschland ab. Im Wahlkampf ist in Russland nur für die Opposition Corona-Krise.
Die Initiatoren der "Nein!"-Kampagne riefen aber noch für den Mittwochabend zu Protesten auf Plätzen in Moskau und St. Petersburg auf. Als einige Aktivisten sich Stunden zuvor auf den Roten Platz in Moskau legten und auf dem Pflaster eine 2036 bildeten – als Warnung vor einer Präsidentschaft Putins bis in dieses ferne Jahr –, beendeten Uniformierte den Protest. Die Opposition wirft Putin schon seit Monaten einen Verfassungsumsturz vor.
Der Kreml habe inzwischen auch die Vorzüge der Corona-Pandemie erkannt und das ganze Wahlsystem umgebildet, sagt der Politologe Andrej Perzew von der Denkfabrik Moskauer Carnegie Center. Die Abstimmung wurde nicht nur wegen der Pandemie auf sieben Tage gestreckt. Es gab Gewinnspiele und Gutscheine, Abstimmungen im Internet, zu Hause, im Kofferraum und im Bus und im Hinterhof, wie Carnegie analysierte. Kontrollen seien da fast gar nicht mehr möglich, kritisierten auch unabhängige Wahlbeobachter.
"Russland braucht einen starken Mann"
In den großen Medien kamen dagegen Russen zu Wort, die für Putins Verfassungsänderungen gestimmt haben. "Warum? Weil es die Souveränität unseres Staates garantiert. Die alte Verfassung haben noch die Amerikaner geschrieben", sagte der 60-jährige Elektromechaniker Sergej, der einen Reparaturbetrieb in Moskau hat, der Deutschen Presse-Agentur am Wahllokal 2549 in der Nähe des Kiewer Bahnhofs.
Die Staatsmedien spielen diesen Aspekt seit Tagen rauf und runter. Der damalige Präsident Boris Jelzin habe sich das Grundgesetz des Jahres 1993 von US-Präsident Bill Clinton diktieren lassen. Putin, der eigentlich immer wieder beteuert hatte, das Grundgesetz nicht anzutasten, beerdige nun Jelzins Verfassung, heißt es allenthalben in Kommentaren russischer Medien. Die neue Verfassung zementiert nun nach Meinung von Experten "Putins Erbe" für eine ultrakonservative Ausrichtung des Landes.
Auch der 34-jährige Dmitri sieht mit der neuen Verfassung Chancen für Russland. Er stamme aus Omsk in Sibirien und lebe nun in der Hauptstadt, erzählte Dmitri. "Ich sehe, wie gut sich Moskau entwickelt hat." Russland brauche einen starken Mann, und das sei im Moment Putin.
Aber Putin ist schon über 20 Jahre lang der "starke Mann" und nach seinem Erfolg bei der Volksbefragung kann er auch noch viele Jahre an der Macht bleiben. In Russland dauern manche Momente etwas länger.
- Eigene Recherche
- Abstimmung über Verfassung: Putins Stunde null (F.A.Z.)
- Verfassungsreform in Russland: Präsident Putin bis 2036? (tagesschau.de)
- Mit Material der Nachrichtenagenturen afp und dpa