Chaos im Nachbarland Völlige Kehrtwende
Bis zuletzt wollten der Bundespräsident und alle Parteien außer der FPÖ eine Kanzlerschaft von Herbert Kickl verhindern. Diese Blockade ist nun vorbei.
Österreichs Politik steht vor einer historischen Zäsur. Zumindest Österreichs liberale Medien sehen düstere Zeiten auf das Land zukommen. So würden die aktuellen Ereignisse rund um die Regierungsbildung nach den Parlamentswahlen das "Ausmaß an Chaos" des Rücktritts von Ex-Kanzler Sebastian Kurz im Jahr 2021 sogar noch übertreffen, schreibt "Die Presse".
Denn nachdem eine Regierung unter Beteiligung der demokratischen Parteien ÖVP, SPÖ und Neos gescheitert ist, steuert Österreich nun auf eine Koalition zwischen der rechtspopulistischen FPÖ und der konservativen ÖVP zu. Das kommt überraschend, hatten doch alle Parteien ein Bündnis mit der in Teilen als rechtsradikal geltenden FPÖ bislang stets ausgeschlossen.
Dennoch kündigte Bundespräsident Alexander van der Bellen nach dem Scheitern der bisherigen Koalitionsverhandlungen für Montag ein Treffen mit FPÖ-Chef Herbert Kickl an. Etwas anderes blieb ihm auch nicht übrig, schließlich zeigte sich die ÖVP offen für Gespräche über eine Regierungsbildung mit der FPÖ. "Wenn wir zu diesen Gesprächen eingeladen werden, dann werden wir diese Einladung auch annehmen", sagte der geschäftsführende ÖVP-Vorsitzende Christian Stocker. Das hatte die Partei zuvor ausgeschlossen.
Am Wochenende änderte sich die Lage jedoch. Mit dem Rücktritt von ÖVP-Chef Karl Nehammer öffnete sich unter dessen designiertem Nachfolger Stocker die Tür zu einer Koalition mit der FPÖ. Auch Van der Bellen betonte am Sonntag, dass nach dem Rückzug von Nehammer als Bundeskanzler und ÖVP-Chef eine neue Situation eingetreten sei.
Nehammer habe ihm berichtet, dass die Stimmen innerhalb der ÖVP, "die eine Zusammenarbeit mit einer FPÖ unter Herbert Kickl ausschließen, deutlich leiser geworden sind". Dies bedeute, "dass sich möglicherweise ein neuer Weg auftut, der so davor nicht existierte", fügte der Präsident mit Blick auf ein mögliches Bündnis zwischen ÖVP und FPÖ hinzu. Es gehe jetzt darum, "dass Österreich eine Regierung bekommt, die handlungsfähig ist". Handlungsfähig vielleicht, aber zu welchem Preis? Das fragen sich nicht nur viele Österreicher, sondern auch der Präsident selbst.
Van der Bellen: "Wenn, wenn, wenn"
Er werde weiterhin darauf achten, dass die "Grundpfeiler unserer Demokratie respektiert werden", betonte Van der Bellen. Dazu zählten der "Rechtsstaat, die Gewaltenteilung, Menschenrechte und Minderheitenrechte, freie und unabhängige Medien und die EU-Mitgliedschaft".
Ob diese Grundpfeiler unter einer Regierungsbeteiligung der FPÖ und Kickl allerdings auch weiterhin Bestand haben, ist zumindest fraglich. Kickl ist überaus EU-kritisch, Putin-freundlich und soll sich mit dem Konzept autoritärer Staatsführung anfreunden können. Er sei ein "Hetzer", für den "Menschenrechte, Meinungsfreiheit und Medienvielfalt" nichts zählen, schreibt etwa der Wiener "Standard". Im Wahlkampf inszenierte sich Kickl als "Volkskanzler".
Der Nachfrage eines Journalisten, ob er Kickl nach dem Treffen am Montagvormittag den Regierungsauftrag erteilen könnte, wich Österreichs Präsident mit den Worten "wenn, wenn, wenn" aus. Der rechtsradikale FPÖ-Chef hat bisher deutlich gemacht, dass er nur als Kanzler in eine Koalition gehen würde. Die FPÖ war schon mehrmals an der Regierung in Wien beteiligt, allerdings bisher nur als Juniorpartner.
Stocker sagte, falls die FPÖ seine Partei zu Verhandlungen einlade, werde die ÖVP diese Gespräche "ebenso ernsthaft führen" wie zuvor mit den anderen Parteien. "Und wenn dann ein Nenner gefunden wird, dann stellen sich die personellen Fragen", fügte er hinzu.
Der 64-jährige Stocker, der am Sonntag zum geschäftsführenden ÖVP-Vorsitzenden ernannt wurde, war in der Vergangenheit als entschiedener Gegner der FPÖ in Erscheinung getreten. "Aber seit gestern stellt sich die Situation anders", sagte er nun. "Es geht daher jetzt nicht um Herbert Kickl oder um mich, sondern es geht darum, dass dieses Land gerade jetzt eine stabile Regierung benötigt und wir nicht fortlaufend Zeit in Wahlkämpfen oder Wahlen verlieren können, die wir nicht haben."
SPÖ: "Jetzt droht genau das, wovor wir immer gewarnt haben"
FPÖ-Chef Kickl reagierte am Sonntag zurückhaltend. "Manches scheint heute um einiges klarer zu sein als in den letzten Tagen, manches liegt noch im Ungewissen", schrieb er im Onlinedienst X.
Der Tiroler FPÖ-Chef Markus Abwerzger sagte der österreichischen Nachrichtenagentur APA, er gehe davon aus, dass Van der Bellen Kickl am Montag den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen werde. Danach werde seine Partei "intern beraten".
Der Politikberater Thomas Hofer sagte der APA mit Blick auf die Äußerungen des Bundespräsidenten und des ÖVP-Interimschefs, dass "die Tore sehr weit in Richtung einer blau-schwarzen Zusammenarbeit geöffnet wurden".
"Jetzt droht genau das, wovor wir als SPÖ immer gewarnt haben. Blau-Schwarz mit Herbert Kickl als Kanzler", sagte der SPÖ-Vorsitzende Andreas Babler. Er warf der ÖVP und den Neos vor, in den Verhandlungen "Parteitaktik über die Zukunft dieses Landes" gestellt zu haben. Ähnlich bewerten politische Beobachter die Situation, sie geben allerdings allen drei demokratischen Parteien die Schuld am "politischen Chaos" im Nachbarland. "Dass die Elite dreier sich selbst als 'staatstragend' bezeichnenden Parteien in drei Monaten keine Einigung erzielt, ist der vorläufige Tiefpunkt des politischen Handwerks in diesem Land", schreibt "Die Presse".
Nehammer hatte Rücktritt angekündigt
Die rechtspopulistische FPÖ war bei der Wahl im September mit 28,85 Prozent der Stimmen erstmals stärkste Kraft im Parlament geworden. Die konservative ÖVP erzielte 26,3 Prozent, gefolgt von der sozialdemokratischen SPÖ mit 21,1 Prozent. Jüngste Umfragen sehen deutliche Zuwächse für die FPÖ. Sollte es doch zu Neuwahlen kommen, könnten die Rechtspopulisten mit einem Ergebnis von 35 Prozent und mehr der Stimmen rechnen.
ÖVP und SPÖ versuchten nach der Wahl, den Einzug von Kickl ins Kanzleramt zu verhindern. ÖVP, SPÖ und die liberalen Neos nahmen Koalitionsverhandlungen auf. Die Neos stiegen aber am Freitag aus den Koalitionsgesprächen aus, am Samstag dann scheiterten die Verhandlungen auch zwischen ÖVP und SPÖ. Nehammer kündigte an, in den kommenden Tagen als Kanzler und Parteichef zurückzutreten.
Van der Bellen sagte am Sonntag, das Scheitern der Koalitionsverhandlungen sei auch für ihn überraschend gekommen. Es sei lange der Eindruck vermittelt worden, "als gäbe es eine gute Basis" zwischen den Parteien. "Und selbst nach dem Ausstieg der Neos wurde mir berichtet, dass eine Einigung möglich sei." Er werde nach Nehammers angekündigtem Rückzug im Laufe der kommenden Woche einen neuen Kanzler der Übergangsregierung ernennen, sagte der Bundespräsident.
- derstandard.at: Die Selbstaufgabe der ÖVP
- diepresse.com: Zeitenwende in der ÖVP macht den "Volkskanzler" möglich
- Nachrichtenagentur AFP