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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg auf dem Balkan? "Das war ein Schlag für Putin"
Im Balkan spitzt sich der Konflikt zwischen Serbien und dem Kosovo zu. Droht gar ein Krieg? Wenn der Westen den Balkan vernachlässigt, wird Russland diese Schwäche nutzen, meint der ehemalige Bundesminister Christian Schmidt.
Der Balkan kommt nicht zur Ruhe. Immer wieder kommt es zwischen den Staaten zu Territorialkonflikten, ein langfristiger Frieden ist nicht in Sicht. Seit dem Zerfall Jugoslawiens 2003 macht die anhaltende Kriegsgefahr die Region zur Achillesferse Europas.
Ein Krisenherd ist weiterhin der Kosovo. Die Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo haben seit dem 24. September erneut zugenommen. An dem Tag hatten rund 30 bewaffnete Serben eine kosovarische Polizeistation im Norden des Landes überfallen. Drei Angreifer und ein Polizeibeamter wurden dabei getötet. Nachdem die USA und die Bundesregierung Serbien zum Rückzug von Truppen aus dem Grenzgebiet aufgefordert hatten, sprach die serbische Armeeführung davon, dass sie die Zahl von 8.350 Soldaten auf 4.500 reduziert habe.
Der von der UN ernannte Hohe Repräsentant für Bosnien-Herzegowina, Christian Schmidt (CSU), spricht im Interview über die aktuelle Kriegsgefahr im Balkan und darüber, welchen Einfluss Russland auf Serbien ausübt.
t-online: Herr Schmidt, wenn man Serbiens Präsidenten Aleksandar Vučić glaubt, ist Serbien ein Unschuldslamm: Weder hat die Regierung etwas mit dem Anschlag auf kosovarische Polizisten zu tun, noch zieht das Land Truppen an der Grenze zum Kosovo zusammen. Wie sehen Sie das?
Christian Schmidt: Das ist schwer zu sagen. Wir wissen aktuell noch gar nicht, was genau eigentlich passiert ist. Es gibt viele Spekulationen, aber unsere Erfahrungen im Westbalkan zeigen: Es ist außerordentlich unwahrscheinlich, dass niemand irgendwo eine Ahnung von Dingen hat. Stattdessen gibt es im Balkan immer viele Parteien, die bei solchen Vorfällen mitmischen.
Christian Schmidt war von 2014 bis 2018 Bundesminister für Ernährung und Landwirtschaft und ab Oktober 2017 zudem kommissarischer Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur. Seit 1. August 2021 ist der CSU-Politiker für die Vereinten Nationen als Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina tätig.
Hat Sie die aktuelle Eskalation überrascht?
Na ja. Ich erinnere daran, dass wir vor einigen Monaten schon die Blockade der LKW im Norden des Kosovo hatten. Es gibt schon länger ein Auf und Ab in dem Konflikt, doch nun sind Menschen zu Tode gekommen. Das macht diese Eskalation besonders schlimm und dramatisch.
Wie geht die serbische Führung damit um?
Es ist zynisch, dass Serbien und die Republik Srpska in Bosnien und Herzegowina einen Trauertag für die bei diesen Gefechten ums Leben gekommenen Angreifer ausgerufen haben. Diese Vorfälle bedeuten nun kein Ende eines politischen Annäherungsprozesses, aber die Lage ist durchaus gefährlich.
Serbien erklärt, dass es seine jahrelangen Bemühungen um eine Annäherung an die EU nicht zunichtemachen wolle. Wie glaubwürdig ist das?
Ich möchte die einzelnen Aussagen nicht bewerten. Aber auch Serbien ist bewusst, dass für das Land eine enge Bindung zur Europäischen Union existenziell wichtig ist. Die EU ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner, alleine deutsche Unternehmen haben 75.000 Arbeitsplätze in Serbien geschaffen.
Das heißt: Serbien braucht die EU?
Zumindest kann es sich Serbien strategisch allein durch seine geografische Lage nicht leisten, mit dem Westen zu brechen. Trotzdem ist es wahrscheinlich, dass es bei der serbischen Schaukelpolitik zwischen Russland und dem Westen bleibt. Leider. Aber die EU und die USA haben Einfluss auf die serbische Regierung, wenn sie stark und entschlossen auftreten.
In jedem Fall ist Russland noch immer der wichtigste Verbündete Serbiens.
Russland hat in der jüngeren Geschichte immer versucht, enge Kontakte zu Serbien zu halten. Beide Länder haben einige Gemeinsamkeiten. Auch Serbien fühlt sich immer als zu kurz gekommen und diese Befindlichkeiten müssen natürlich im politischen Bewusstsein sein, um klug miteinander umgehen zu können. Ich unterstelle deswegen nicht, dass in Belgrad aktuell nur üble Gedanken gehegt werden, aber die serbische Führung muss sich selbst unter Kontrolle halten.
Wie bewerten Sie die persönliche Beziehung zwischen Wladimir Putin und Serbiens Präsidenten Vučić?
Die kenne ich nicht. Wir haben allerdings bei der Generalversammlung der Vereinten Nationen gesehen, dass im Konflikt um den russischen Angriffskrieg in der Ukraine Serbien mit dem Westen gegen Russland gestimmt hat. Das war sicherlich ein Schlag für Putin. Ich würde deshalb nicht sagen, dass Vučić in allen Fragen bedingungslos an der Seite Moskaus steht. Doch wenn der Westen den Westbalkan vernachlässigt, profitiert Russland davon. Das ist die Gefahr.
Russland hat sich durch seinen Angriffskrieg in der Ukraine geschwächt. Kann die EU mit Blick auf Serbien vielleicht sogar im Balkan davon profitieren?
Die Statur Russlands ist durch den Krieg auf jeden Fall schwächer geworden. Andererseits traten die EU-Außenminister kürzlich bei ihrem Treffen in Kiew sehr selbstbewusst auf. Das wäre in den Jahren zuvor nur schwer vorstellbar gewesen und das wird natürlich auch in Belgrad registriert. Wenn die EU in Grundfragen zusammensteht, hat das demnach positive Auswirkungen auf ihre Wahrnehmung im Balkan. Das ist gut.
Aber sehen Sie keine Gefahr, dass Putin mit seinem Einfluss auf Serbien versuchen könnte, Europa zu destabilisieren?
Das passt in Putins Spielbuch und deshalb sollten wir bei aktuellen Problemen und Krisen immer aufmerksam bleiben. Allerdings sehe ich aktuell keine große Gefahr eines Krieges zwischen Serbien und Kosovo. Im Kosovo steht die KFOR, die Nato ist mit gut 5.000 Soldaten im Land, um eine mögliche Eskalation zu verhindern. Die gegenwärtige Krise erscheint vielmehr als ein politisches Scharmützel, bei dem leider auch Menschen zu Tode gekommen sind.
Genau das könnte doch der Funken an einem Pulverfass sein.
In jedem Fall sollte der Westen aufmerksam bleiben. Auch im Balkan wird Zurückhaltung manchmal als Schwäche fehlinterpretiert. Es geht in einer solchen Situation um ein entschiedenes Auftreten. Der Westen sollte darauf drängen, dass in dieser Situation beidseitig ermittelt wird. Es muss klar werden, dass Serbien nicht nur Feiertage für Aggressoren abhalten kann. Das geht so nicht, wenn man sich europäischen Werten verpflichtet fühlt.
Hat die EU verpasst, Serbien schon früher in die Schranken zu weisen? Das Land provoziert nicht nur im Kosovo, sondern auch in Bosnien-Herzegowina.
Das ist eine schwierige Frage. Ich denke, dass der aktuelle Konflikt vielmehr ein innenpolitisches Thema in Serbien als eine außenpolitische Krise sein wird. Es ist im Westen schwer vorstellbar, aber wir dürfen nicht vergessen, dass es in Belgrad eine Opposition gibt, die noch viel nationalistischer ist als die Regierung. Es wird entscheidend sein, wie Vučić damit umgeht.
Doch eine außenpolitische Frage wird es auch durch Milorad Dodik, den Präsidenten der serbisch dominierten Republika Srpska in Bosnien-Herzegowina, der das Land spalten möchte.
Dabei ist allerdings unklar, inwiefern Dodik überhaupt Rückendeckung aus Belgrad bekommt. Er wollte mich beispielsweise verhaften und ausweisen lassen und hat dafür keine erkennbare Unterstützung aus Serbien erfahren. Außerdem stellt Serbien die territoriale Integrität von Bosnien-Herzegowina nie infrage. Ich sehe eher die Gefahr, dass die Unterstützer von Dodik in Moskau sitzen und nicht in Belgrad. Eine gemeinsame Strategie zwischen Dodik und der serbischen Führung ist für mich aktuell nicht erkennbar.
Russland erscheint mit Blick auf den Konflikt in Bergkarabach momentan nicht als verlässlichste Schutzmacht. Sucht Dodik nicht nach Alternativen?
Er reist durch die Welt und sucht Partner, die ihm Geld geben. Er hat es in China versucht und Russland ist tatsächlich aktuell keine gute Adresse, wenn man Devisen benötigt. Soweit ich das erkennen kann, hat Dodik aber bisher nicht viel in seinen Geldbeutel bekommen.
Sind Sie denn nach den Drohungen gegen Sie persönlich noch einmal in die Republik Srpska gereist?
Mehrfach. Ich lasse mir nicht vorschreiben, wo ich mein Mandat ausübe.
Können Sie aber nicht verstehen, dass der kosovarische Premierminister Albin Kurti besorgt ist, dass sein Land durch serbisch dominierte Autonomieregionen ähnlich destabilisiert werden könnte wie Bosnien-Herzegowina?
Ja und nein. Die Situation im Kosovo ist rechtlich eine andere, es gibt immer noch viele Länder, die ihn nicht anerkennen. Bosnien-Herzegowina hat einen international klaren Status, die Lage ist schon lange geklärt, auch wenn es immer wieder Meinungsverschiedenheiten gibt. Im Kosovo haben wir dagegen eine vereinbarte Regelung von 2011 für eine gewisse kommunale Selbstständigkeit der vier serbisch dominierten Gemeinden nördlich von Mitrovica. Diese Regelung ist nie umgesetzt worden.
Warum ist es denn nicht vergleichbar?
Serbien erkennt die Existenz von Bosnien-Herzegowina an, die des Kosovo dagegen nicht. Da hat sich vieles verhakt und wir sind in den vergangenen Jahren politisch nicht wirklich weitergekommen. Zudem ist der Kosovo viel kleiner und die Autonomie der serbisch dominierten Gemeinden bewegt sich auf der Ebene von Dörfern und Kommunen. Ich sehe da wenig Konfliktpotential für die allgemeine territoriale Integrität des Kosovo durch diese kleinen Dörfer.
Der Balkan ist auf jeden Fall immer noch eine Achillesferse Europas. Wie könnte die EU das ändern?
Im Balkan gibt es viele unterschiedliche Ethnien und dementsprechend viele Befindlichkeiten. Die EU blickt vor allem auf die Region, wenn es gefährlich wird, aber das reicht nicht aus. Es gibt im Westen viele Vorstellungen darüber, was man tun könnte, aber zu wenig pragmatisches Handeln. Die Mitgliedschaft in der EU ist das große Ziel vieler Balkanländer, aber der Weg dorthin geht nicht von null auf 100. Das muss Schritt für Schritt erfolgen, das gilt auch gerade für den Kosovo. Dieser wird noch nicht einmal von allen europäischen Mitgliedstaaten als Staat anerkannt. Deswegen muss man pragmatische Lösungen suchen und da können wir die Kreativität noch ein wenig steigern.
Was wäre denn ein Beispiel für diesen Pragmatismus?
Auf gar keinen Fall neue Grenzziehungen, über die unter US-Präsident Donald Trump nachgedacht wurde. Das würde nicht zu einer Befriedung der Region führen – im Gegenteil. Es gibt in allen Regionen ethnische Mehr- und Minderheiten, ein friedliches multiethnisches Zusammenleben ist deshalb unablässig. Es gibt Länder, in denen das im Grunde schon jetzt ganz gut funktioniert, zum Beispiel in Bosnien-Herzegowina. Hier gibt es einen Ansatz für eine systematische Verhinderung von ernsthaften Konflikten, bei dem oft auf der Ebene der Kommunen das Zusammenleben, eine Nichtdiskriminierung und individuelle Rechte ausgehandelt werden. Das hat für eine gewisse Stabilität gesorgt, auch wenn es noch einiges zu tun gibt. Sonst wäre ich ja nicht hier.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Schmidt.
- Gespräch mit Christian Schmidt