Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Aus Angst vor China Eine Inselmacht lässt die Muskeln spielen
Japan rüstet massiv auf und bricht mit einer 70 Jahre alten Tradition – seinem Pazifismus. Denn draußen auf dem Meer lauert die "größte strategische Herausforderung, die es jemals gab".
Waffen für den "Gegenschlag", ein riesiges Verteidigungsbudget und der Bruch mit einer Tradition seit dem 2. Weltkrieg: Japan hat sich zu einem historischen Kurswechsel durchgerungen. In den vergangenen Monaten änderte die japanische Regierung ihre nationale Sicherheitsstrategie weg von einer reinen Verteidigung hin zu militärischer Aufrüstung und Offensivwaffen.
Rund 43 Billionen Yen (297 Milliarden Euro) will Japan in den nächsten fünf Jahren für nationale Verteidigung und neue Waffensysteme ausgeben. Das Rüstungsbudget soll künftig von ein auf zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen.
Im Inselstaat reagiert man damit auf eine Bedrohung, die laut japanischer Regierung die "größte strategische Herausforderung ist", vor der das Land jemals stand: China. Das Machtstreben der asiatischen Diktatur unter Xi Jinping und die chinesischen Militärmanöver im Pazifik werden für Tokio zum ernsten Sicherheitsrisiko. Zudem befürchtet man, dass Peking in naher Zukunft Taiwan militärisch angreifen könnte. Aber auch die aggressiven Töne aus Nordkorea machen Japan Sorgen.
Chinesische Drohgebärden
Japan befindet sich zunehmend im Kreuzfeuer einer politisch aufgeheizten Gemengelage. Südlich nehmen Chinas Drohgebärden gegenüber Taiwan zu, in dessen unmittelbarer Nähe sich auch japanische Inseln befinden. Östlich von Japan testet Nordkorea immer mehr Raketen. Nach Beginn des Ukraine-Kriegs verkündete Tokio eine Erhöhung des Verteidigungsbudgets. Doch nun sollen auch die Offensivfähigkeiten der Armee ausgebaut werden – trotz einer pazifistischen Verfassung, die dies eigentlich verbietet.
Mehr als 1.000 Langstreckenraketen will Japan im Süden des Landes stationieren. Das berichteten japanische Medien im August unter Berufung auf Regierungsvertreter. Es gehe dabei um die Umrüstung bestehender Waffen, deren derzeitige Reichweite von 100 auf 1.000 Kilometer erhöht werden soll. Damit wäre Japan in der Lage, sowohl chinesische Küstengebiete als auch Nordkorea zu treffen.
Auch Hyperschallraketen seien im Gespräch, heißt es in japanischen Medien. Die mit mehrfacher Schallgeschwindigkeit fliegenden Raketen sollen das japanische Abschreckungspotenzial weiter erhöhen und könnten ab 2030 einsatzbereit sein.
Zudem würden Japans Schiffe und Flugzeuge in die Lage versetzt werden, die umgerüsteten Raketen abzufeuern. Die Raketen würden dann auf und um Kyushu, der südwestlichsten der japanischen Hauptinseln, sowie auf kleinen Inseln nahe Taiwan stationiert, so die Medien. Eine offizielle Bestätigung der Zeitungsinformationen gab es zunächst nicht.
"Neue Ära in der Verteidigung der Demokratie eingeläutet"
Für Japan kommen diese Maßnahmen einer Zeitenwende gleich. Die pazifistische Verfassung des Landes sieht vor, dass das Militär nur zur Selbstverteidigung eingesetzt wird. Der in Artikel 9 formulierte Kriegsverzicht bildet das Herzstück des Dokuments. Darin heißt es, dass "Land-, See- und Luftstreitkräfte sowie anderes Kriegspotenzial niemals aufrechterhalten werden". Die militärischen Ausgaben sind daher auf das für die Landesverteidigung nötige Maß beschränkt.
Doch schon seit Jahren wird immer wieder diskutiert, die militärischen Kapazitäten auszubauen und die Verfassung zu ändern. Die Rufe danach wurden nach Russlands Einmarsch in der Ukraine im Februar und angesichts Chinas zunehmend aggressiven Vorgehens gegenüber Taiwan lauter. Im Juni dann kündigte Premierminister Fumio Kishida den ersten Kurswechsel an: Japan werde die Verteidigungsausgaben deutlich erhöhen.
"Ich bin entschlossen, Japans Verteidigungsfähigkeiten innerhalb der nächsten fünf Jahre grundlegend zu stärken und die dafür erforderliche erhebliche Erhöhung des japanischen Verteidigungsbudgets sicherzustellen", sagte Kishida beim Sicherheitsgipfel "Shangri-La-Dialog" in Singapur im vergangenen Sommer.
Derzeit liegen die Militärausgaben Japans bei 1,1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Vor den Parlamentswahlen im Juli versprach seine Partei, die Quote über einen Zeitraum von fünf Jahren auf zwei Prozent zu erhöhen.
Viele Japaner sind skeptisch gegenüber dem neuen Kurs
"Umfragen zeigen unter den Japanern eine anhaltende Verbundenheit mit der pazifistischen Verfassung und eine begrenzte Unterstützung für eine Überarbeitung", sagt Jeff Kingston, Professor für japanische Geschichte an der Temple University in Tokio, auf Anfrage. Vergangenen Mai ergab eine Umfrage des öffentlich-rechtlichen Senders NHK, dass nur 35 Prozent der Befragten der Meinung waren, dass die Verfassung geändert werden müsse, während 19 Prozent dies verneinten. 42 Prozent der Japaner konnten auf die Frage keine Antwort geben.
Bereits 2015 hatten der damalige Premier Shinzo Abe und die Liberal Democratic Party ein Gesetz verabschiedet, dass es der Regierung ermöglicht, die Beschränkungen der Verfassung zu umgehen, erklärt Kingston. Dieses Gesetz erlaubt es der japanischen Armee, sich an ausländischen Konflikten zu beteiligen. Da die Verfassung jedoch nur Selbstverteidigung erlaubt, interpretierte die Gesetzgebung die relevanten Passagen neu, um dem Militär zu erlauben, im Ausland zur "kollektiven Selbstverteidigung" für Verbündete zu operieren. Aus diesem Grund habe sich das japanische Sicherheitsprofil in den vergangenen Jahren bereits dramatisch verändert, sagt Kingston.
Ob für die angekündigte Stationierung der Langstreckenraketen die Verfassung geändert werden müsste, ist noch unklar. Für Japan wäre das eine Abkehr des jahrzehntelang praktizierten Pazifismus. Doch das Land reagiert damit auf das veränderte geopolitische Machtgleichgewicht in der Region.
Großmacht China wird "immer gefährlicher"
"Japan glaubt, dass eine 'Pax Sinica' in Asien ein großer Rückschritt wäre", sagt Kingston. Der historische Begriff wird heute verwendet, um den Wiederaufstieg Chinas zur wirtschaftlichen Großmacht zu beschreiben, den viele Menschen in Asien als stabilitätsfördernd für die Region empfinden. Im Gegenteil werde die Region jedoch aufgrund von Raketen aus Pjöngjang und Chinas hegemonialer Absichten für Japan "immer gefährlicher", so Kingston.
Das zeigt sich insbesondere in der Auseinandersetzung mit China um die japanische Inselkette Senkaku, die Peking seit 1970 unter dem Namen "Diaoyu"-Inseln für sich beansprucht. Regelmäßig dringen chinesische Kriegsschiffe in die umliegenden japanischen Hoheitsgewässer ein. Die Spannungen um die konkurrierenden Ansprüche sind seit 2012 erstmals eskaliert, als die japanische Regierung drei der umstrittenen Inseln von deren privatem Eigentümer kaufte, was zu Protesten in China führte.
Die USA stehen nach eigenen Angaben zu ihrer Verpflichtung von 1951, Japan im Fall eines militärischen Angriffs zu verteidigen. Das gelte auch für die Senkaku-Inseln, sagte der Chef der US-Streitkräfte in Japan bei einer Militärübung beider Länder 2020.
Zwar ist Japan Mitglied der QUAD-Gruppe, zu der Australien, Indien und die USA gehören und die als Gegenpol zu Chinas wachsendem Einfluss in der Region gilt. Vergangenen Mai trafen sich die Regierungschefs der Länder in Tokio und betonten in ihren Gesprächen die Prinzipien eines freien und offenen Indopazifiks, ohne dabei China und seine territorialen Ansprüche im Südchinesischen Meer wörtlich zu nennen.
Während die Gruppe sich traf, tat sich China mit Russland für Seeübungen zusammen. Sechs chinesische und russische strategische Bomber flogen über das Japanische Meer, das Ostchinesische Meer und den Pazifik.
China wirft Japan "militärische Expansion" vor
Die chinesische Regierung sieht Japans zunehmende Militarisierung mit Argwohn. Japan benutze Chinas "normale" militärische Aktivitäten als "Entschuldigung für seine militärische Expansion", sagte das chinesische Außenministerium dem Nachrichtensender CNBC. Taiwan sei ein "unveräußerlicher" Teil des chinesischen Territoriums und Japan solle "ernsthaft" über seine "Geschichte der Aggression" nachdenken, hieß es in der Erklärung.
China und Japan haben eine konfliktreiche Geschichte, die bis heute nicht aufgearbeitet ist. Laut China seien beispielsweise das Massaker von Nanking im Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg und andere japanische Kriegsverbrechen von Japan nicht angemessen entschuldigt worden.
Mit der Stationierung der Langstreckenraketen würde Tokio auf Konfrontation zu Peking gehen. Doch angesichts der chinesischen Provokationen in Bezug auf Taiwan hat in Japan ein Umdenken eingesetzt. Premierminister Kishida versucht auch, den Ukraine-Krieg dazu zu nutzen, um die Japaner auf die Lage einzuschwören. Wenige Monate nach dem russischen Überfall auf die Ukraine warnte er: "Ostasien kann die Ukraine von morgen sein."