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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Syrische Demokratische Streitkräfte Was Erdoğans Offensive für den IS bedeutet
Seit Wochen bombardiert die Türkei kurdische Stellungen in Syrien. Jetzt ziehen die dortigen Streitkräfte Konsequenzen.
Das türkische Militär war wohl zufrieden: Fast 500 Mitglieder von kurdischen Milizen habe man "neutralisiert", heißt es am Freitag. Auch der Verteidigungsminister Hulusi Akar sprach von einem "großen Erfolg".
So geht das schon seit knapp zwei Wochen: Nach einem Anschlag in Istanbul machte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Kurdenmiliz YPG und die verbotene Arbeiterpartei PKK verantwortlich, die wiederum streiten das ab. Seitdem fliegt das Militär im Nachbarland Syrien Luftangriffe gegen die Kurdenmiliz.
Der wiederholte Beschuss hat nun auch Einfluss auf den Kampf gegen die Terrororganisation "Islamischer Staat": Die Syrischen Demokratischen Streitkräfte (SDF), zu denen die YPG gehört und die von den USA unterstützt werden, stellen in Nordsyrien den gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus ein. Dies betreffe "alle Koordinierungs- und gemeinsamen Einsätze zur Terrorismusbekämpfung mit der Koalition" sowie "alle Sondereinsätze, die wir regelmäßig vornehmen", sagte SDF-Sprecher Aram Henna am Freitag der Nachrichtenagentur Reuters.
Zuletzt war die Kampfkraft des IS merklich zurückgegangen: Auch weil die SDF gemeinsam mit der amerikanisch geführten Allianz die Terroristen bekämpfen und in Gefängnisse gebracht haben, die sie bis heute überwachen. Doch die türkische Offensive verschiebt nun die Prioritäten. Kommt der IS nun in der Region zurück?
Syrische Demokratische Streitkräfte (SDF)
Die SDF sind ein Militärbündnis in Syrien, das aus der kurdischen Volksverteidigungseinheit YPG, der Frauenverteidungseinheit YPJ, kurdisch-turkmenischen und auch sunnitisch-arabischen Einheiten besteht. Der Hauptgegner der SDF ist die radikal-islamistische Miliz "Islamischer Staat" (IS). In ihrem Kampf gegen den IS werden sie von der Internationalen Anti-IS-Koalition unterstützt. Der Zusammenschluss wird von den USA geführt.
Koalition ist auf Wissen von SDF über IS angewiesen
Bente Scheller, Leiterin des Referats Nahost und Nordafrika der den Grünen nahestehenden Heinrich-Böll-Stiftung, erklärt im Gespräch mit t-online, dass die Streitkräfte die Gefängnisse mit IS-Anhängern wahrscheinlich allein aus Eigeninteresse weiter sichern werden. "Wenn die Gefängnisse dort nicht sicher wären, wäre das vielleicht auf lange Sicht eine Bedrohung für europäische Staaten oder die Türkei, aber ganz unmittelbar würde es natürlich eine Bedrohung für diejenigen in den direkten Nachbarschaften bedeuten", so Scheller.
Bei den Operationen, bei denen die SDF nicht mehr kooperieren möchten, handle es sich nach Einschätzung Schellers vor allem um Aufklärungsmissionen, die sich auf IS-Zellen und IS-Individuen außerhalb der Gefängnisse beziehen. "Da haben sie natürlich die Möglichkeit, ihr Engagement zurückzuschrauben, ohne dass sie dabei selbst stärker in Gefahr geraten", erklärt sie. Aus Eigeninteresse würden die SDF sicherlich auch weiterhin beobachten, wie IS-Kämpfer agieren, "aber möglicherweise teilen sie die Informationen dann nicht in gleicher Weise wie zuvor mit der Koalition", vermutet Scheller. Die Allianz sei auf dieses Wissen über den IS allerdings sehr stark angewiesen.
Scheller: "SDF fühlt sich im Stich gelassen"
"Nun ist es so, dass der IS im Moment keine so signifikante Schlagkraft hat und sich in den letzten Jahren nur sehr punktuell gezeigt hat", sagt die Expertin. Deshalb sei der Rückzug der SDF auch nichts, was die Arbeit der Koalition gänzlich unmöglich oder bereits geleistete Erfolge nichtig mache. Dennoch werde es haken, denn es gebe natürlich weiterhin das Interesse, den IS so klein zu halten, wie er im Moment ist, sagt Scheller. "Und da ist es natürlich immer beunruhigend und natürlich auch problematisch, wenn ein wichtiger Partner – und das ist die SDF – erst mal Funkstille herrschen lässt."
Scheller glaubt allerdings nicht, dass die SDF sich endgültig aus der Koalition zurückziehen. Wahrscheinlich sei, dass die Zusammenarbeit aufgrund der akuten Bedrohung der Türkei vorerst pausiert. Neben der Furcht, dass die SDF ihre eigenen Kräfte nun brauchen, um sich zur Wehr zu setzen, sieht die Expertin aber noch einen weiteren Punkt. "Die SDF fühlt sich in ihrer Kooperation mit den internationalen Kräften gegen den IS im Stich gelassen.", erklärt sie. Die Ankündigung des Rückzugs müsse auch als eine politische Angelegenheit gelesen werden. Das sei eine der wenigen Möglichkeiten für die SDF, überhaupt Druck auf die internationale Koalition auszuüben.
Zwei Fragen stehen laut Bente Scheller für die SDF im Raum: Warum die internationalen IS-Mitglieder, die in den von den kurdisch geführten Streitkräften bewachten Gefängnissen inhaftiert sind, nicht in die Staaten zurückgeführt werden, aus denen sie kommen – und warum ihnen nicht dort der Prozess gemacht wird. Außerdem scheine die internationale Koalition den SDF in dieser Bedrohungslage nicht zu helfen, sodass diese ihr Engagement zwangsläufig zurückfahren müssen. "Da geht es dann nicht mehr nach der internationalen Priorität der Terrorismusbekämpfung."
SDF-Chef: Brauchen stärkere Erklärungen, um Türkei zu stoppen
Auch SDF-Chef Maslum Abdi sagte Anfang der Woche zu Reuters, er wolle, nachdem er aus seiner Sicht beispiellose Einsätze der türkischen Truppen entlang der Grenze gesehen habe, mehr Unterstützung aus den USA. "Wir sind immer noch nervös. Wir brauchen stärkere, solidere Erklärungen, um die Türkei zu stoppen", sagte Abdi. "Die Türkei hat ihre Absicht angekündigt und tastet jetzt die Dinge ab. Der Beginn einer Invasion wird davon abhängen, wie sie die Positionen anderer Länder analysiert."
Den Einfluss anderer Länder betont auch Scheller. Sie ist sich unsicher, ob es tatsächlich eine türkische Bodenoffensive in der Form geben wird, wie sie derzeit im Raum steht. "Wir wissen nie, was passiert. (…) Aber ich denke, dass aktuell sehr viele Dinge dagegensprechen", erklärt sie. Eine Vielzahl von Kräften stehe einer türkischen Bodenoffensive entgegen – die Kurden, das syrische Regime, Russland und der Iran, und auch die USA. "Wenn da so viele Interessen betroffen sind, dann dürfte auch die Gegenwehr entsprechend sein, selbst wenn es Parteien sind, die sich untereinander in vielen anderen Themen natürlich nicht grün sind", sagt Scheller.
Trotzdem: Vollkommen schließt Scheller eine türkische Bodenoffensive nicht aus. Vielleicht wäre eine solche in einem sehr überschaubaren Gebiet direkt an der Grenze denkbar. Diese in der gesamten Länge der Grenze aufrechtzuerhalten, "würde sehr viel Kraft und sehr viel personellen Einsatz erfordern und würde zunächst einmal einen hohen Preis haben." Im Fall einer Offensive würde sich die Türkei mit vielen Kräften anlegen. "Und das ist etwas, das würde ich mir sehr gut überlegen", sagt Bente Scheller.
- Telefonat mit Bente Scheller
- Eigene Recherche
- Mit Material der Nachrichtenagenturen Reuters und dpa