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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Politologe über Russlands Krieg "Wir haben schwere Schuld auf uns geladen"
Der ukrainische Botschafter nannte ihn ein "echtes Arschloch", seine Positionen zu Russland sind streitbar: Im Interview fordert Johannes Varwick, Deutschland dürfe sich nicht zur "Marionette" Kiews machen.
Der Politikwissenschaftler Johannes Varwick (54) hat an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg einen Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und europäische Politik inne. Mit seiner Haltung zum Ukraine-Krieg sorgt er regelmäßig für Empörung. Er gehört zu Unterzeichnern eines Offenen Briefes in der "Zeit", in dem deutsche Prominente einen sofortigen Waffenstillstand und Verhandlungen mit Putin fordern. Beim Interview mit t-online in seiner Berliner Wohnung gibt sich Varwick gelassen und unbeirrt. Und verrät in einem Nebensatz etwas, was nicht ins Bild seiner Kritiker passt: Seit vier Monaten haben er und seine Frau zwei ukrainische Flüchtlinge aufgenommen.
t-online: Herr Varwick, Sie haben es geschafft, innerhalb eines halben Jahres zum umstrittensten Politikwissenschaftler Deutschlands aufzusteigen. Was ist passiert?
Johannes Varwick: Für mich ist das keine relevante Kategorie. Ich habe mich sowohl mit Russland als auch mit der Nato intensiv beschäftigt. Ich habe eine gut durchdachte Position zu diesem Konflikt, die ich auch öffentlich vertrete. Ob das gefällt oder nicht, ist für mich kein Maßstab.
Sie werden für Ihre Positionen stark angefeindet, etwa als "Putins Pudel" bezeichnet. Lässt Sie das kalt?
Ich wurde auch schon "inoffizielle PR-Brigade Putins" oder "Putins nützlicher Idiot" genannt. Das ist das Klima, in dem wir uns gerade bewegen. Man kann zum Krieg unterschiedliche Positionen vertreten. Aber dass jeder, der eine andere Meinung vertritt, sofort diffamiert wird, ist inakzeptabel. Wir sollten dringend zu einer sachlichen Debatte zurückkehren.
In Ihrem Offenen Brief fordern Sie und Ihre Mitunterzeichner einen sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine und Verhandlungen mit Russland. Die Ukraine könne nicht gewinnen, heißt es darin. Deshalb dürfe man den Krieg nicht mit immer weiteren Waffenlieferungen befeuern. Das klingt, mit Verlaub, zynisch.
Zynisch ist, so zu tun, als ob man mit immer mehr Waffenlieferungen die Ukraine ertüchtigen könnte, gegen Russland zu bestehen. Das Gegenteil ist der Fall: Es wird dazu führen, dass Russland seine Eskalationsmöglichkeiten wie etwa seine nuklearen Fähigkeiten immer weiter ausschöpft.
Die Strategie westlicher Waffenlieferungen war aber zumindest teilweise erfolgreich: Sie hat dabei geholfen, die Region Kiew zu befreien und die Einkreisung von der Millionenstadt Charkiw zu verhindern. Dort hätte womöglich ein zweites Mariupol gedroht.
Aber es ist ein Ritt auf der Rasierklinge. Die Frage ist, wann kommt der Punkt, wo Russland die Militärhilfe tatsächlich als Kriegserklärung gegen sich versteht? Was glauben Sie denn, was passiert, wenn wir Russland mit unseren Waffenlieferungen tatsächlich in die Enge treiben würden? Ich sehe zwei Szenarien: Entweder Putin würde gestürzt, was unwahrscheinlich ist. Oder Russland würde zu noch härteren Mitteln greifen, etwa taktische Nuklearwaffen gegen die Ukraine einsetzen. Das bedeutet nur noch mehr Opfer. Deshalb sind Verhandlungen die einzige Lösung.
Ist es nicht naiv zu glauben, dass Russland zum jetzigen Zeitpunkt zu Verhandlungen bereit ist? Olaf Scholz und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron telefonieren ja permanent mit Putin. Ohne Ergebnis.
Telefonate sind keine Verhandlungen. Ich habe noch keinen westlichen Politiker gehört, der gesagt hat: Wir korrigieren unseren Kurs und nehmen Abstand davon, dass die Ukraine zum Westen gehört. Fakt ist: Der derzeitige Weg führt nicht zum Erfolg.
Die deutsche Regierung hat sehr lange versucht, eine Lösung per Diplomatie zu erreichen. Sie hat anfangs Waffenlieferungen abgelehnt und bis zum Schluss versucht, mit Russland zu verhandeln.
Ja, aber es hat nicht funktioniert, weil die strategischen Grundfragen nicht geklärt wurden. Was die Ukraine betrifft, haben wir schwere Schuld auf uns geladen. Auf der einen Seite waren wir nicht bereit, dem Land harte Sicherheitsgarantien zu geben, auf der anderen Seite haben wir aber das Signal gesendet, dass wir die Ukraine unterstützen würden. Wir haben die Ukraine verheizt.
Viele Experten sagen: Wäre die Ukraine schnell gefallen, hätte Putin mit dem Baltikum weitergemacht.
Diese Annahme halte ich für falsch. Die Balten sind Nato-Mitglieder, das ist ein völlig anderes Spiel. Für die Ukraine gab es keine Beistandsgarantie. Der Glaube, dass Putin nach der Ukraine mit dem Baltikum und Polen weitermacht und übermorgen dann in Westberlin steht, ist komplett abwegig.
Was sollte ihn davon abhalten?
Die Gewissheit, dass er mit der Nato einer Militärmacht gegenüberstehen würde, die um ein Vielfaches stärker ist als die russische Armee. Wenn ich glauben würde, dass Russland im Baltikum weitermacht, müsste man über die Option eines großen Krieges mit Russland nachdenken. Wenn das so wäre, würde ich ihn auch führen. Das ist aber keine realistische Lagebeschreibung. Die Abschreckung der Nato funktioniert. Die Ukraine ist schlecht dran, keine Frage. Aber ich bin da ganz bei meinem Kollegen Herfried Münkler, der sagt, die Ukraine wird in diesem Krieg verloren sein. Das ist bitter und unpopulär, aber ich sehe kein anderes Szenario.
Wenn wir jetzt mit Russland verhandeln, ist das dann nicht das verheerende Signal: Man muss nur aggressiv genug vorgehen, dann bekommt man, was man will?
Das ist ein schlimmes Signal, aber in einen Krieg mit Russland zu schlittern, ist schlimmer. Wir werden am Ende einen Kompromiss mit Russland finden müssen.
Die Ukraine will aber nicht kapitulieren, sondern ihr Land verteidigen. Das müssen wir doch respektieren.
Guter Punkt. Aber wir haben schlicht andere Interessen als die Ukraine. Wir dürfen uns nicht als Marionette einer ukrainischen Regierung verstehen, sondern müssen unsere eigenen Ziele verfolgen. Und die sind: Erstens, einen großen Krieg mit Russland vermeiden. Zweitens, die Ukraine unterstützen. Drittens, Russland einen Preis zahlen lassen für sein Verhalten, etwa durch Sanktionen und Isolierung. Das erste Ziel ist das wichtigste. Wenn wir nicht alles erreichen können, müssen wir uns für ein Ziel entscheiden. Das wird im Westen auch de facto so gesehen, wird aber nicht ausgesprochen. Sonst hätten wir eine Flugverbotszone und würden Kampfpanzer liefern.
Fordern Sie auch einen sofortigen Stopp westlicher Militärhilfen?
Nein, wir können nicht direkt damit aufhören. Ich bin gegen eine 180-Grad-Wende. Aber wir sollten unsere politische Energie nicht allein in Waffenlieferungen setzen, sondern in die Frage, wie dieser Konflikt politisch gelöst werden kann. Waffenlieferungen sind ein Element, aber nicht das wichtigste.
Bisher traten Sie nicht als jemand auf, der Waffenlieferungen immerhin als Teil der Lösung betrachtet.
Wogegen ich mich mehrfach ausgesprochen habe, sind Waffen, die dazu dienen, einen ohnehin aussichtslosen Stellungskrieg im Donbass nur blutiger zu machen. Ich bin seit 25 Jahren Nato-Forscher. Ich bin weder dogmatisch gegen Waffenlieferungen noch Pazifist. Meine Position ist eine strategische: Waffenlieferungen können strategisch verantwortbar sein, aber nicht, wenn sie einen aussichtslosen Kampf verlängern.
Wann wären sie denn verantwortbar?
Natürlich ist es etwas wohlfeil, aus einem Arbeitszimmer in Berlin den Ukrainern Ratschläge zu geben. Aber durch unsere Waffenlieferungen sind wir in diesen Konflikt involviert, daraus resultiert eine Verantwortung. Ich könnte mir beispielsweise vorstellen, Waffen zu liefern, die Russland daran hindern, Odessa einzunehmen. Die deutschen Panzerhaubitzen 2000 könnten also dazu eingesetzt werden, die Stadt zu verteidigen, damit die Russen die Ukraine nicht vom Schwarzen Meer abschneiden. Das wäre eine strategische Diskussion, auf die ich mich einlassen würde.
Aber das lässt sich doch kaum trennen: Odessa ist wohl nur deswegen nicht in russischer Hand, weil die ukrainische Armee 100 Kilometer weiter vor Mykolajiw die Front verteidigt und sich dort einen blutigen Stellungskrieg mit Russland liefert.
Das zeigt, wie gefangen wir sind in der ukrainischen Strategie. Wenn ich mir etwa die Position eines Andrij Melnyk angucke, dann wir sind nicht gut beraten, uns mit solchen Leuten zu verhaften. Es kann keinen Blankoscheck für die Ukraine geben. Wir sind wegen unserer Militärhilfe auch für den Kriegsverlauf verantwortlich, daher sollten wir auch auf die ukrainische Kriegsstrategie Einfluss nehmen.
Wie könnte ein Waffenstillstand Ihrer Meinung nach aussehen?
Das ist zunächst eine Frage der Grundphilosophie: Russland darf nicht gedemütigt werden, wie Macron schon sagte. Das heißt, wir müssen eine Lösung finden, mit der auch das Putin-Regime leben kann. Sonst sind wir in einem Dauerkrieg.
Das hieße, die Krim und den Donbass Russland zu überlassen.
Nein, aber es wird ein Kompromiss sein, der nicht dauerhaft alle glücklich machen wird. Wir müssen von den Entwicklungen auf dem Boden ausgehen und dürfen nicht naiv sein. Dazu gehört, zu akzeptieren, dass die Krim russisch ist und auch der Donbass zumindest russisch beansprucht ist. Der dritte Punkt dieser Verhandlungslösung wäre, dass die Ukraine nicht ins westliche Lager kippt, weder militärisch noch politisch.
Aus Sicht der meisten Ukrainer wäre das eine Kapitulation.
Wir dürfen nicht in Ideallösungen denken. Freiheit, Demokratie und Souveränität sind wichtige Werte, aber Stabilität ist auch ein hohes Gut. Wenn beides nicht gleichzeitig zu haben ist, sollten wir uns für Stabilität entscheiden. Daher sollten wir eine Regelung einpreisen, die Russlands Ansprüche auf die Krim und den Donbass faktisch anerkennt, ohne das aber völkerrechtlich bindend zu machen. Russland darf das nicht geschenkt bekommen. Es geht um einen Modus Vivendi, bis eine Regierung in Moskau im Amt ist, mit der man neu verhandeln kann.
Inwiefern ist das keine Appeasement-Politik gegenüber einem Aggressor, der mit militärischer Gewalt seine politischen Ziele verfolgt und dafür noch belohnt wird?
Es geht nicht um Appeasement, sondern um die Frage, was möglich ist und zu welchem Preis. Wenn ich der Meinung wäre, Putin sei Hitler, dann müsste ich daraus schließen, dass ein Krieg mit Russland unausweichlich sei. Die Gefahr wäre, dass dieser Krieg nuklear eskaliert und alles Leben auf der Erde zerstört.
Zur Wahrheit gehört doch auch: Wenn man jetzt auf Verhandlungen drängt, dann wird es nicht bei der Krim und dem Donbass bleiben. Russland wird wahrscheinlich alle derzeit eroberten Gebiete für sich beanspruchen.
Aber was ist Ihr Gegenszenario? Die militärische Befreiung der gesamten Ukraine?
Kremlsprecher Peskow hat vor wenigen Tagen noch mal betont, Verhandlungen gebe es nur unter russischen Bedingungen. Er meint vermutlich: Das besetzte Territorium soll Russland zugeschlagen werden und die Rest-Ukraine muss sich neutral erklären. Bis sie in naher Zukunft womöglich auch geschluckt wird. Folgt man Ihrem Argument, müsste man doch über das Schicksal der kompletten Ukraine verhandeln.
Richtig. Das wäre ein Dauerprozess, aber kurzfristig geht es erst einmal darum, den Konflikt zu befrieden. Lösen werden wir den Konflikt erst, wenn Russland die weiße Fahne hisst, Putin abgesägt und durch ein Regime ersetzt wird, das die Souveränität von Staaten anerkennt. Aber darauf haben wir keinen Einfluss.
Warum schreiben Sie in den Offenen Brief dann nicht genau das, anstatt verklausuliert von einer "Verhandlungslösung" zu sprechen, die nach Diplomatie klingt, aber Kapitulation meint?
Sie drehen mir das Wort im Mund um. Natürlich dürfen wir völkerrechtlich nicht akzeptieren, dass militärische Annexionen sich lohnen. Wir müssen den Konflikt daher einfrieren und auf bessere Zeiten hoffen.
Aber Ihr Vorschlag führt dazu, dass der Westen die Ukraine aufgibt und das Land zurück in die russische Einflusssphäre rutscht.
Es geht nicht darum, die Ukraine aufzugeben, sondern um die Frage, ob wir dem was entgegenhalten können und vor allem entgegenhalten wollen. Der Preis dafür – ein Krieg gegen Russland – ist mir zu hoch. Am Ende muss es auch um eine Lösung gehen, die auch in Russland als Erfolg verkauft werden kann.
Ist es nicht angesichts der vielen ukrainischen Opfer zynisch, Putin einen Erfolg zu bescheren, aus Furcht, der Kremlchef könnte weitereskalieren?
Wir müssen die russische Perspektive in unser Handeln einpreisen. Ob wir das wollen oder nicht. Sonst landen wir in einem großen Krieg.
Bis zu welchem Punkt sind Sie denn bereit, russische Interessen zu berücksichtigen?
Das ist eine sehr interessante Frage. Wenn wir einen nicht sehr wahrscheinlichen Angriff auf das Nato-Gebiet mal ausklammern, wäre das Albtraumszenario das Folgende: Russland marschiert in Transnistrien ein und holt sich auf dem Weg dorthin Odessa. Das wäre dann tatsächlich das Ende eines lebensfähigen ukrainischen Staates. Wenn das das Ziel ist, haben wir ein Problem. Aber selbst dann hätten wir nicht die Mittel und den Willen, das zu verhindern.
Nach Moldau kommt vielleicht Georgien. Wie lange kann Russland weitermachen – und wie lange muss der Westen zuschauen?
Ich sehe nicht, dass Georgien ein russisches Kriegsziel ist. Aber auch in diesem Fall würden wir das so lange akzeptieren, bis wir nicht bereit sind, dafür in den Krieg zu ziehen. Und ich sehe niemanden, der dafür bereit wäre. Das sollten wir auch mal so aussprechen.
In dem Offenen Brief ist viel von der Ukraine die Rede, und was sie tun solle. Einen Appell an Russland, etwa die Gewalt einzustellen, sucht man vergebens.
Die Ukraine ist ein befreundeter Staat, hier können wir etwas bewirken. Russland ist unser Feind. An den Feind zu appellieren, sein Verhalten zu ändern, ist eine unnütze moralische Position. Wenn das ein Schachspiel wäre und ich die Macht über alle Figuren hätte, würde ich Russland sofort vom Spielfeld nehmen. Aber wir brauchen keine Wolkenkuckucksheime, sondern tragfähige Lösungen.