"Ich fürchte, es ist vorbei" Zurückgetretener Minister ruft Kabinett zu Johnsons Sturz auf
Zwei Minister weg, Rücktritte in zweiter und dritter Reihe, mehrere Abgeordnete in offener Rebellion: Für viele Beobachter steht die Regierung von Boris Johnson nun endgültig vor dem Aus.
Die Konservative Partei des britischen Premierministers Boris Johnson ist nach den Rücktritten zweier wichtiger Minister in Aufruhr. Bei den Tories herrsche "offener Krieg", kommentierte der Sender Sky News in der Nacht zum Mittwoch. Die BBC zitierte einen anonymen Parlamentarier, der sogar den "Geruch des Todes" im Londoner Parlamentsbezirk Westminster vernommen haben will. "Konservative Abgeordnete haben endgültig die Geduld mit ihrem Anführer verloren, der für die Wähler immer schneller zu einer verachtenswerten Figur wird", sagte der Politologe Mark Garnett von der Universität Lancaster der Nachrichtenagentur dpa in London.
Der Druck auf die ohnehin schon krisengeschüttelte Regierung hatte am Dienstagabend noch einmal zugenommen: Sowohl Finanzminister Rishi Sunak als auch Gesundheitsminister Sajid Javid erklärten ihren Rücktritt. Beide kritisierten Johnson scharf und warfen ihm vor, das Ansehen der Konservativen Partei zerstört zu haben. Javid rief am Mittwoch seine ehemaligen Kabinettskollegen indirekt dazu auf, Johnson zu stürzen. "Nichts zu tun, ist eine aktive Entscheidung", sagte er im Parlament in London. "Diejenigen von uns, die in einer Position dazu sind, haben die Verantwortung, etwas zu ändern."
Der Premierminister hatte zuvor eingeräumt, dass er von Vorwürfen der sexuellen Belästigung gegen einen Parteifreund, den konservativen Abgeordneten Chris Pincher, gewusst habe, den er dennoch in ein wichtiges Fraktionsamt gehievt hatte. Am Mittwoch wehrte er sich im Parlament gegen Rücktrittsforderungen. "In schweren Zeiten erwartet man von einer Regierung, dass sie ihre Arbeit fortsetzt und nicht davonläuft", sagte Johnson bei der traditionellen Befragung des Regierungschefs im Parlament. Mehr dazu lesen Sie hier.
Zahlreiche weitere Rücktritte
Doch auch am Mittwoch kehrte keine Ruhe ein. Laut dem Sender Sky News traten insgesamt mehr als 30 weitere Tory-Abgeordnete aus Protest gegen Johnson von Regierungsämtern zurück. Am Mittwochvormittag gaben etwa Will Quince, Staatssekretär im Bildungsministerium und zuständig für die Bereiche Kinder und Familien sowie Schulminister Robin Walker ihre Rücktritte auf Twitter bekannt. "Obwohl ich mir keinen besseren oder lohnenswerteren Job als den meinen vorstellen kann, kann ich nicht mehr mit gutem Gewissen für diese Regierung tätig sein", schrieb Walker in seinem Rücktrittsschreiben an Johnson.
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Victoria Atkins, Staatsministerin im Justizministerium, trat ebenfalls am Mittwochmittag zurück, am Nachmittag folgten fünf weitere Staatssekretärinnen und -sekretäre um die Gleichstellungsbeauftragte Kemi Badenoch auf einen Schlag zurück. Es werde immer deutlicher, dass die Regierung nicht mehr funktioniere, schrieben sie. Alle gelten als junge, aufstrebende Polittalente.
Aus für Boris Johnsons Regierung?
Medien hatten bereits am Dienstagabend berichtet, dass die Regierung von Johnson vor dem Aus stehen könnte. "Zu dieser Zeit am morgigen Tag wird alles vorbei sein", sagte ein namentlich nicht genannter enger Verbündeter Johnsons der BBC. "Kein Premier kann den Rücktritt von zwei hochrangigen Kabinettsmitgliedern auf diese Weise überleben."
Ben Kentish, Journalist bei der Rundfunkstation LBC, schrieb auf Twitter: "Quelle aus der Regierung: Es ist vorbei." Ein Kabinettsmitglied sagte dem Sender Sky News, Johnson müsse zurücktreten.
Einem Medienbericht zufolge, der sich auf Insider beruft, will der Regierungschef dennoch im Amt bleiben. Zwei dem Premier nahestehende Personen erklärten demnach am Dienstagabend, Johnson werde kämpfen.
Mit ihren Rücktritten blieben Finanzminister Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid im engsten Kabinett zunächst allein: Laut britischen Medien stellten sich Außenministerin Liz Truss und Verteidigungsminister Ben Wallace ausdrücklich hinter Johnson.
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Neuer Finanzminister verteidigt Johnson
Auch der neue britische Finanzminister Nadhim Zahawi hat Johnson in Schutz genommen. Der konservative Regierungschef sei integer und "entschlossen, zu liefern", sagte Zahawi am Mittwoch dem Sender Sky News. Johnson habe sich dafür entschuldigt, dass er Pincher in ein hohes Fraktionsamt berief, obwohl er von Vorwürfen der sexuellen Belästigung wusste. Der bisherige Bildungsminister war am Dienstagabend zum Nachfolger des zurückgetretenen Finanzministers Rishi Sunak ernannt worden.
Zahawi gilt selbst als möglicher Nachfolger Johnsons, dementierte aber aktuelle Ambitionen. Vielmehr verteidigte er seine Arbeit für den Premierminister. "Man macht diesen Job nicht, um ein einfaches Leben zu haben. Jeden Tag trifft man harte Entscheidungen. Manchmal ist es einfach, abzuhauen, aber es ist viel schwieriger, für dieses Land zu liefern." Ebenfalls als mögliche Nachfolger werden Sunak und Javid gehandelt sowie Außenministerin Liz Truss und Verteidigungsminister Ben Wallace gehandelt, die Johnson offiziell noch unterstützen.
Die Ansicht von Zahawi teilen lange nicht alle Konservativen: "Meine Botschaft an Boris wäre: Um Himmels willen, hau ab", sagte etwa der Tory-Parlamentarier Andrew Murrison, der zuvor als Staatsminister für Nordirland zurückgetreten war, am Mittwoch der BBC. Der bisherige Vize-Generalsekretär der Partei, Bim Afolami, kritisierte Johnsons Vorgehen im jüngsten Skandal um Belästigungsvorwürfe gegen einen ranghohen Tory als "wirklich erschreckend". Er könne dieses Verhalten nicht länger verteidigen, sagte Afolami, der ebenfalls zurücktrat, der BBC.
Opposition fordert Rücktritt von Johnson
Aus der Opposition kamen ebenfalls Rücktrittsforderungen. "Nach all dem Schmutz, den Skandalen und dem Versagen steht fest, dass diese Regierung jetzt zusammenbricht", sagte Labour-Parteichef Keir Starmer. Der Oppositionsführer rief weitere Kabinettsmitglieder auf, mit einem Rücktritt ein Zeichen gegen den "pathologischen Lügner" Johnson zu setzen. Die zurückgetretenen Kabinettsmitglieder seien "mitschuldig" gewesen. "Sie waren seine Cheerleader während dieser traurigen Geschichte", so Starmer.
Sir Ed Davey, der Vorsitzende der Liberaldemokraten, forderte auf Twitter, Johnson solle "gehen und zwar sofort". Das Kartenhaus aus Lügen und Täuschungen sei zusammengebrochen. Der Premier habe das Land "lange genug diskreditiert".
"Es ist ein bisschen wie der Tod von Rasputin"
Brexit-Unterhändler David Frost war aus Unzufriedenheit über die Corona-Politik von Johnson im vergangenen Dezember zurückgetreten. Zu dem Rücktritt der Minister schrieb er nun in einem Statement auf Twitter: "Rishi Sunak und Sajid Javid haben heute Abend das Richtige getan." Johnsons Zeit sei abgelaufen. "Jetzt ist es an der Zeit, nach vorne zu schauen."
"Es ist ein bisschen wie der Tod von Rasputin", sagte der Tory-Abgeordnete Andrew Mitchell der BBC mit Verweis auf den legendären russischen Zarenberater, der mehrere Mordversuche überlebt haben soll. "Er wurde vergiftet, auf ihn wurde eingestochen, geschossen, sein Körper wurde in einen eiskalten Fluss geworfen – und er ist immer noch am Leben."
Doch im Gegensatz zu früheren Skandalen sei die Stimmung deutlich grimmiger. "Ich fürchte, es ist vorbei", so Mitchell. Ein anderer namentlich nicht genannter Tory sagte der BBC, der "Boris-Kult" dürfe nicht unterschätzt werden.
Andere verglichen die Situation mit einem Autounfall in Zeitlupe. Eine echte Alternative bietet sich allerdings derzeit nicht, auch deshalb sieht Politologe Garnett einen langwierigen Machtkampf auf die Partei zukommen. Trete Johnson jetzt zurück, inmitten einer schweren Wirtschaftskrise und angesichts drängender Fragen zu seiner persönlichen Integrität, werde er als einer der schlechtesten Regierungschefs der Geschichte gelten, erklärte der Experte. "Das macht es sehr unwahrscheinlich, dass er zurücktritt. Seine Partei wird ihn aus der Downing Street herauszerren müssen."
- Eigene Recherchen auf Twitter
- Nachrichtenagentur dpa