Leben im besetzten Cherson "Dann zogen sie uns Säcke über den Kopf"

Menschen verschwinden spurlos, werden verschleppt: Einwohner der ukrainischen Stadt Cherson berichten, wie sie die russische Besatzung erleben.
Wochenlang hatte Aljona Laptschuk aus Cherson verzweifelt nach ihrem Mann gesucht – bis seine Leiche aus dem Fluss gezogen wurde. Vitali war nach einem Verhör durch die russischen Besatzer verschwunden, wie die 54-Jährige am Telefon berichtet. Die ukrainische Hafenstadt fiel bereits wenige Tage nach Beginn des Krieges an Moskau, seitdem ist sie fast vollständig von der Außenwelt abgeschnitten. Berichte wie der von Laptschuk geben einen erschütternden Einblick in die Geschicke der Menschen vor Ort, überprüfen lassen sie sich nicht.
Als Russland die Ukraine überfiel, sei ihr Mann aus Kiew nach Hause zurückgeeilt, um bei der Verteidigung von Cherson zu helfen, sagt Laptschuk. Am 27. März, etwa drei Wochen nach dem Fall der Stadt, sei er verschwunden. "Ich habe ihn wieder und wieder angerufen", berichtet die Witwe, doch nie sei er ans Telefon gegangen. Irgendwann seien die Anrufe weggedrückt worden. "Da wurde mir klar, dass es ein Problem gibt", sagt Laptschuk.
"Es war das letzte Mal, dass wir uns ansahen"
Wenig später, um ein Uhr nachts, hielten vor ihrem Haus drei Autos, jeweils markiert mit einem Z, dem Symbol der russischen Invasoren. Die Soldaten zerrten Vitali aus einem der Autos, das Gesicht blutverschmiert. Sie habe ihren Mann kaum wiedererkannt, sagt Laptschuk.
Mit vorgehaltener Waffe hätten die Männer das Haus betreten und Laptops sowie Handys mitgenommen. Sie hätten ihm versprochen, "der Familie kein Haar zu krümmen", habe ihr Mann gesagt – das seien seine einzigen Worte gewesen. "Dann zogen sie mir, meinem Mann und meinem ältesten Sohn Säcke über den Kopf", berichtet sie. "Ich werde nie den Blick vergessen, den Vitali in diesem Moment auf mich richtete. Es war das letzte Mal, dass wir uns ansahen", erinnert sich Laptschuk voller Trauer.
Geschichte der Familie ist kein Einzelfall
Nach einem Verhör wurden Mutter und Sohn unter einer Brücke abgesetzt – ohne den Vater. Mehr als zwei Monate lang wusste die Familie nicht, was mit ihm geschehen war. Am 9. Juni erfuhren sie, dass Fischer Vitalis Leiche auf dem Grund eines Flusses gefunden hatten, die Füße mit einem Stein beschwert.
Die Geschichte der Familie Laptschuk scheint kein Einzelfall zu sein. Auch andere Einwohner berichten von Verschleppten und Verschwundenen. Der russische Inlandsgeheimdienst FSB und das Spezialeinsatzkommando SOBR der russischen Nationalgarde seien in Cherson unterwegs, berichtet Tatjana, die ihren Nachnamen nicht nennen möchte, über eine sichere VPN-Verbindung aus der Stadt. "Sie tauchen auf und nehmen einfach Leute mit, ohne jede Erklärung", sagt sie. "Manche kommen zurück, andere nicht." Tatjana erzählt von zahlreichen Kontrollpunkten, an denen die Besatzer "Ausweise, Telefone und Taschen" überprüften.
Protest mit selbstgemalten ukrainischen Flaggen
Bei einem von Moskau organisierten Besuch in Cherson Anfang des Monats beobachtete ein Reporter der Nachrichtenagentur AFP nur wenige Soldaten im Zentrum, jedoch viele Checkpoints in den Außenbezirken.
Aus Protest gegen die Besatzer malten die Bewohner immer wieder ukrainische Flaggen auf die Straße oder hängten Bändchen in den Nationalfarben Gelb und Blau in die Bäume, sagt Tatjana. "Es ist sehr schwierig für die Russen, das zu unterbinden." Die Einwohner widersetzten sich auch der Einführung des russischen Rubels und bezahlten weiter in ukrainischen Hrywnja, berichtet sie.
Aljona Laptschuk, die Witwe, ist inzwischen aus Cherson an einen sicheren Ort in der Ukraine geflohen. Sie glaubt fest daran, dass die russischen Besatzer eines Tages aus der Stadt vertrieben werden. Dann will Laptschuk zurückkehren – und eine Bank neben dem Grab ihres Mannes aufstellen. "Dort kann ich dann wieder mit ihm reden", sagt sie.
- Nachrichtenagentur AFP