"Unsittliches Verhalten" Russische Lehrer: Wer Kritik übt, verliert seinen Job

Wer sich in Russland zum Angriffskrieg gegen die Ukraine äußert, muss mit Konsequenzen rechnen. Für Lehrer und Dozenten steigt die Gefahr, wegen "unsittlichen Verhaltens" verurteilt zu werden.
Roman Melnitschenko hat vorsorglich zwei Koffer gepackt: Den einen wird er mitnehmen, falls er sich gezwungen sieht, Russland zu verlassen. Den anderen, falls er ins Gefängnis muss. Seinen Job als Jura-Dozent an der Universität von Wolgograd hat Melnitschenko im April verloren, nachdem er den Krieg seines Landes gegen die Ukraine kritisiert hatte. Nun müsse er für alle Zukunftsszenarien bereit sein, sagt der 49-Jährige.
25 Jahre lang unterrichtete Melnitschenko Rechtswissenschaften, seit 2016 war er an der staatlichen Universität von Wolgograd beschäftigt. Jetzt droht dem Vater einer Tochter selbst ein Prozess: Die Behörden in Russland werfen Melnitschenko die Verbreitung "falscher" Informationen über den Konflikt in der Ukraine vor. Seine Entlassung als Universitätsdozent ficht Melnitschenko vor Gericht an.
Vorwurf an Lehrer und Dozenten: "Unsittliches Verhalten"
Der Druck auf Lehrer und Hochschulmitarbeiter in Russland nimmt schon seit Jahren zu. Schon vor Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine am 24. Februar wurden zahlreiche Lehrkräfte und Dozenten wegen "unsittlichen Verhaltens" entlassen, nachdem sie sich kritisch über den Kreml oder den wachsenden Konservativismus in Russland geäußert hatten. Seit Beginn des Krieges im Nachbarland ist der Druck noch einmal deutlich gewachsen.
Melnitschenko wundert das nicht. "Die intellektuelle Elite hat die Macht, der herrschenden Elite die Grundlagen ihrer Macht zu entziehen", sagt er. Das sei der Grund, warum die Behörden so hart gegen Universitäten vorgingen.
Auch Melnitschenko wurde offiziell wegen "unsittlichen Verhaltens" entlassen. Zuvor hatte er in den Online-Netzwerken Beiträge geteilt, in denen der russische Krieg gegen die Ukraine verurteilt wurde. In einem der Beiträge ging es um den Tod eines kleinen Mädchens in einem Krankenhaus in Mariupol.
Melnitschenko von Polizei festgenommen
Wegen Verbreitung von "Falschinformationen" wurde Melnitschenko im April auf dem Campus vorübergehend von der Polizei festgenommen. Auf der Polizeiwache verlangte er in einem symbolischen Akt nach einem Ukrainisch-Dolmetscher. Dies sei ihm verwehrt worden, obwohl er gemäß russischer Gesetzeslage ein Recht darauf habe, berichtet er.
Melnitschenko hat selbst enge Verbindungen zur Ukraine, seine Eltern leben im südukrainischen Nikopol nahe der Frontlinie. "Ich stehe seit drei Monaten unter Schock", sagt der Rechtswissenschaftler mit Tränen in den Augen. "Das sind meine Eltern."
Es ist nicht das erste Mal, dass Melnitschenko wegen seiner Haltung um seinen Job bangen muss. Zweimal hätten Universitäten seine Verträge nicht verlängert, sagt er. Einmal sei es um seine Kritik an einem Fall von Korruption gegangen, das andere Mal um die russische Krim-Annexion, über die er mit seinen Studenten habe diskutieren wollen. Die Entlassung wegen "unsittlichen Verhaltens" könnte allerdings das Ende seiner Karriere bedeuten. Sollte er mit seiner Anfechtung der Entlassung vor Gericht scheitern, könnte Melnitschenko nicht mehr als Lehrkraft in Russland arbeiten.
"Ich brauche die Universität, die Studenten, die Dozenten"
Ein Leben ohne die Lehre könne er sich aber nicht vorstellen, sagt der 49-Jährige. "Ich brauche die Universität, die Studenten, die Dozenten", sagt er. "Das ist der Ort, an dem alle wachsen und einander helfen können zu wachsen."
Seit seinem Rauswurf werde er von den Geheimdiensten beobachtet, sagt Melnitschenko. Die Medien in Wolgograd hätten eine Schmutzkampagne gegen ihn losgetreten. Einschüchtern lassen wolle er sich aber nicht. Auf seinem YouTube-Kanal mit mehr als 67.000 Abonnenten veröffentlicht Melnitschenko weiter Videos. Gemeinsam mit Alexander Efimow, einem Mitglied der liberalen Jabloko-Partei, versucht er außerdem, in Russland festgehaltene ukrainische Soldaten zu lokalisieren. Gemeinsam wollen die beiden zudem eine Initiative starten, um russische Soldaten in der Ukraine ausfindig zu machen.
Für die Zukunft sei es wichtig, Kriegsgefangene auf beiden Seiten zu verteidigen, sagt Melnitschenko. "Kriegsgefangene können unsere beiden Nationen, Ukrainer und Russen, entweder spalten oder sie können ihnen helfen, zueinander zu finden."
- Nachrichtenagentur AFP