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Russland und der 9. Mai: "Wissen nicht, was in Putins Kopf vorgeht"


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Russland und der 9. Mai
"Wir wissen einfach nicht, was in Putins Kopf vorgeht"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 08.05.2022Lesedauer: 8 Min.
Wladimir Putin (Archivbild): Russlands Präsident steht unter Druck, sagt Historiker Stefan Creuzberger.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin (Archivbild): Russlands Präsident steht unter Druck, sagt Historiker Stefan Creuzberger. (Quelle: Maxim Shipenkov/ap)
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Einen Sieg über die Ukraine wird Wladimir Putin am 9. Mai nicht verkünden können. Aber was sonst? Historiker Stefan Creuzberger erklärt die Bedeutung dieses Feiertags und wie Russlands Präsident ihn für seine Zwecke benutzt.

Der 9. Mai ist der "Tag des Sieges" in der Russländischen Föderation. Doch einen Sieg über die Ukraine kann Wladimir Putin an diesem Feiertag nicht vorweisen. Wahrscheinlich wird der Diktator sein Land auf die Fortsetzung der Kämpfe einschwören. Massiv unterstützt durch eine Propaganda, die die russische Bevölkerung mobilisieren soll.

Wie aber instrumentalisiert Putin den 9. Mai und die Erinnerung an den Sieg der Roten Armee 1945 über das nationalsozialistische Deutschland? Und welche Bedeutung hat dieser Feiertag überhaupt für Russland und seine Menschen? Diese Fragen beantwortet der Historiker Stefan Creuzberger als einer der wichtigsten deutschen Russland-Experten.

t-online: Professor Creuzberger, am 9. Mai feiert Russland den Sieg über das nationalsozialistische Deutschland im Jahr 1945. Zynisch behauptet Wladimir Putin nun, mit seinem Krieg gegen die Ukraine ebenfalls einen Kampf gegen den Nazismus zu leisten. Was ist davon zu halten?

Stefan Creuzberger: Wladimir Putin betreibt eine geschickte Propaganda, indem er sich als Befreier der Ukraine vom Nazismus hinstellt. Das ist selbstverständlich Unsinn. Dabei ist ein derartiges Vorgehen keineswegs neu, auch der Diktator Josef Stalin interpretierte die Ausdehnung des sowjetischen Machtbereichs einst als "Befreiungs-Mission". Die Mehrheit in den "befreiten" Staaten, die dann mit den harten Fakten der Sowjetisierung konfrontiert wurden, wie etwa Polen oder die baltischen Staaten, sahen und sehen das verständlicherweise anders.

Russlands Kriegspläne sind allerdings alles andere als nach Wunsch verlaufen. Einen Sieg über die Ukraine kann Russlands Präsident am 9. Mai nicht zelebrieren.

Putin hat einen Blitzkrieg geplant, der dann zu einem Blitzsieg führen sollte. Aber sein "Spaziergang" nach Kiew hat sich als schwierig erwiesen. Während sich die russische Armee festfuhr, erzielte Putin das Gegenteil von dem, was er eigentlich erreichen wollte. Statt die ukrainische Regierung zu stürzen und ein Marionettenregime zu installieren, hat Russlands Angriff dazu beigetragen, spätestens jetzt aus der Ukraine einen wirklichen Nationalstaat zu machen und die Idee der ukrainischen Nation zu festigen. Putin steht nun gewaltig unter Druck.

Mit "Das deutsch-russische Jahrhundert. Geschichte einer besonderen Beziehung" haben Sie vor Kurzem ein Buch über das Verhältnis unserer beiden Länder veröffentlicht. Der besagte 9. Mai spielt dabei eine wichtige Rolle: Was bedeutet dieser Tag genau für Russland und wie wird er vom Regime instrumentalisiert?

Der Sieg über das nationalsozialistische Deutschland, über den "Hitlerfaschismus", wie es in der offiziellen russischen Formel lautet, ist nicht nur der größte Sieg in der Geschichte der Sowjetunion, sondern in der Geschichte Russlands überhaupt. Über lange Phasen des Zweiten Weltkriegs hat die damalige Sowjetunion die Hauptlast im Kampf gegen das Deutsche Reich getragen.

Stefan Creuzberger, Jahrgang 1961, lehrt Zeitgeschichte an der Universität Rostock und leitet zugleich die Forschungs- und Dokumentationsstelle des Landes Mecklenburg-Vorpommern zur Geschichte der Diktaturen in Deutschland. Der Historiker ist Experte für die Geschichte Russlands und unter anderem Mitherausgeber der Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland sowie Mitglied der Deutsch-Russischen Geschichtskommission. Kürzlich erschien Creuzbergers große Darstellung "Das deutsch-russische Jahrhundert. Geschichte einer besonderen Beziehung", mit der er für den Deutschen Sachbuchpreis 2022 nominiert worden ist.

Und Russland hatte auch die meisten Toten zu beklagen.

Die Sowjetunion leistete einen gewaltigen Blutzoll. Fast 27 Millionen Sowjetbürgerinnen und Sowjetbürger haben im Zweiten Weltkrieg ihr Leben verloren, davon waren mehr als 15 Millionen Zivilisten. Besonders betroffen waren Belarus und eben die Ukraine, die damals Sowjetrepubliken gewesen sind. Aus dem Grund, weil sich dort ein Großteil des Kampfgeschehens abgespielt hat.

Und die Nationalsozialisten einen besonders grausamen Krieg gegen die Sowjetunion und ihre Menschen austrugen.

Hitler und die Nationalsozialisten führten einen rassenideologischen Vernichtungskrieg im Osten Europas. Auf dem Gebiet der Sowjetunion sind zahlreiche der Mordtaten des Holocaust durchgeführt worden. Aber auch die Slawen galten den Deutschen als "Untermenschen", das Land wurde systematisch ohne Rücksicht auf die Bevölkerung ausgeplündert und zerstört. Nicht zu Unrecht spricht man von "Bloodlands", von "Blutländern".

Wladimir Putins Geburtsstadt Leningrad, das heutige St. Petersburg, sollte zudem während einer fast 900 Tage währenden Blockade ausgehungert werden. Rund eine Million Menschen starben dabei.

Und genau diese Erfahrungen machten und machen den 9. Mai 1945 so wichtig. Zum Ende des Zweiten Weltkriegs trieb Stalin seine Truppen mit aller Gewalt Richtung Berlin, um als Erster die deutsche Hauptstadt einzunehmen. Das war ein gewaltiger symbolischer Sieg für die UdSSR. Noch wichtiger war dann die bedingungslose Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 9. Mai in Berlin-Karlshorst.

Was genau genommen die zweite Kapitulation der Wehrmacht gewesen ist, sie hatte bereits zum 8. Mai kapituliert.

Stalin bestand auf einer Wiederholung im sowjetisch besetzten Berlin, er brauchte den Propagandaerfolg. Im militärischen Denken Russlands kommt es seither auf die Einnahme der gegnerischen Hauptstadt an. Wenn die Rote Armee Berlin schon unter gewaltigen Verlusten eingenommen hatte, dann mussten die Deutschen auch dort kapitulieren. Das war Stalins Ansicht, daher feiern Russland und andere Nachfolgestaaten der Sowjetunion den 9. Mai als Tag des Sieges.

Der in der Folge auch als Beginn des Aufstiegs des sowjetischen Imperiums zu globaler Bedeutung verstanden worden ist.

Die Sowjetunion avancierte seit dem Hitler-Stalin-Pakt 1939, spätestens dann aber mit dem deutschen Überfall am 22. Juni 1941 von einer Regional- zu einer Groß- und Supermacht. Moskau bestimmte fortan unter den Bedingungen des Kalten Krieges auf Augenhöhe mit den USA in einer bipolaren Welt das Geschehen. Und diese Handlungsspielräume will Wladimir Putin, der auch unter dem Eindruck des 1991 verlorengegangenen sowjetischen Imperiums handelt, nun wieder zurückerlangen.

Und die verzerrte Erinnerung an den 9. Mai 1945 soll ihm dabei helfen, die russische Gesellschaft für die Auseinandersetzung zu mobilisieren.

Geschichtspolitisch und in der offiziellen, aktuellen russischen Erinnerungskultur an den Zweiten Weltkrieg wird vieles verdrängt. So etwa, dass Stalin anfangs fatale Führungsfehler begangen hat, wodurch das Land zeitweilig an den existenziellen Abgrund gebracht worden ist. Stattdessen wird der Erfolg, das Ausmaß des Sieges betont, und wie sich die angegriffene Sowjetunion zunächst erfolgreich verteidigen und dann den "faschistischen Feind" gar in die Knie zwingen konnte. Was heutzutage der Kreml in den Gedenkdiskursen bewusst ausblendet, ist das individuelle Leid, das der Krieg verursacht hat. Im Mittelpunkt steht dagegen das kollektive Heldentum.

Wie kommen nun die Erinnerung an den 9. Mai 1945 und die Putin'sche Propaganda um den 9. Mai 2022 zusammen?

Das hat Putin seit langer Zeit vorbereitet. Er spricht immer wieder von einem angeblichen Genozid an der russischsprachigen Bevölkerung in der Ukraine, zudem will er das Land "entnazifizieren". Die russische Bevölkerung, die in weiten Teilen ohnehin seit Jahren einer propagandistischen Gehirnwäsche ausgesetzt ist, reagiert auf solche Stichworte natürlich.

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Immerhin ist es das, was am 9. Mai so groß zelebriert wird: die Beendigung eines Genozids und der Sieg über den "Hitlerfaschismus", sprich über die Nationalsozialisten. Der Krieg gegen die Ukraine wird bislang auch nicht als solcher bezeichnet, sondern als "Spezialoperation". Das klingt in den Ohren der Russen versöhnlicher, als wenn man Krieg gegen ein Land führt, dessen Bevölkerung "befreit“ werden soll.

Seit mehr als zwei Monaten führt Russland nun aber Krieg gegen die Ukraine. Welchen "Erfolg" mag Putin seinen Landsleuten am 9. Mai präsentieren?

Das ist schwer zu sagen. Fest steht aber, dass Putin einem immensen, selbst gesetzten Zeitdruck ausgesetzt ist, weil er spürbare Erfolge vorweisen muss. Wahrscheinlich wird er darauf verweisen, dass überwiegend russischsprachige Teile der Ost- und Südost-Ukraine vom "Faschismus" und dem damit verbundenen Genozid "befreit" worden seien.

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Zudem sieht es so aus, als hätten die russischen Truppen mit der Region um Mariupol eine strategisch wichtige Landbrücke zur 2014 besetzten Krim hergestellt. Es würde mich nicht wundern, wenn die sogenannten Volksrepubliken Lugansk und Donezk im Osten der Ukraine die Aufnahme in die Russländische Föderation beantragen. Es spricht aber manches dafür, dass Putin seine Pläne noch lange nicht umgesetzt hat.

Wie meinen Sie das?

Putin wird jede Schwachstelle gnadenlos ausnutzen. Möglicherweise wird er die russischen Minderheiten etwa in Südossetien mobilisieren – ein Landstrich, der eigentlich zu Georgien gehört. Ähnliches ist für Transnistrien nicht auszuschließen, das zur Republik Moldau gehört. In beiden Regionen stehen russische Truppen. Immer wieder bemüht Putin auch das Feindbild der Nato, die Russland angeblich kleinhalten will. Sie sehen, an Propaganda lässt es der Kreml nicht mangeln. Putin betreibt Geschichtsklitterung pur.

Nach anfänglichem Lavieren fährt Deutschland einen immer härteren Kurs gegen Russland, etwa nun bei der Lieferung schwerer Waffen oder der Befürwortung eines Ölembargos. Steht das von Ihnen beschriebene deutsch-russische Jahrhundert vor dem Ende?

Man kann den Eindruck haben. Das russische Interesse hat sich wieder stärker auf die USA als Führungsmacht des Westens und der Nato verstärkt. Die Europäische Union hat für Putin hingegen einen geringen Stellenwert, wenn er in den vergangenen Jahren mit Europa sprechen wollte, hat er es über Deutschland getan.

In Form von Angela Merkel.

Mag sein, dass Putin Merkel vermisst. Sie hatte jedenfalls durch ihre Sozialisation in der DDR immerhin einen gewissen Russland-Bezug. Der letzte Kanzler, von dem man dies in einem freilich anderen Sinne sagen könnte, war Helmut Schmidt. Weil dieser 1941 im Krieg mit seiner Einheit vor Leningrad eingesetzt war.

Könnte denn nach einem Ende des russischen Krieges gegen die Ukraine Deutschland eine vermittelnde Rolle einnehmen?

Das ist aktuell sehr schwer zu beurteilen. Ich will es aber auch nicht gänzlich ausschließen. Immerhin hat die Bundesrepublik Deutschland auch während des Kalten Kriegs bisweilen eine ausgleichende, allseits akzeptierte Position zwischen den Supermächten einnehmen können, wenn sich Washington und Moskau nicht verstanden haben. Es hängt viel davon ab, wer in Zukunft im Kreml das Sagen haben wird. Fest steht, dass man Putin nur mit Stärke und Entschlossenheit begegnen darf. Das ist Ausdruck entschlossener westlicher Realpolitik.

Nun erfährt die langjährige deutsche Russland-Politik angesichts des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine heftige Kritik: Insbesondere die SPD mit Gerhard Schröder, der weiterhin eine Freundschaft mit Wladimir Putin pflegt, aber auch die CDU mit Altkanzlerin Angela Merkel.

Ich halte es für falsch, die deutsche Russland-Politik der vergangenen drei Jahrzehnte seit der deutschen Einheit pauschal als gescheitert zu bezeichnen, wie das in letzter Zeit in der öffentlichen Debatte immer wieder zu vernehmen ist. Als Wissenschaftler sehe ich meine Aufgabe darin, die historischen Kontexte und Handlungsspielräume der politischen Akteure zu beleuchten. Und in diesem Sinne muss man auch den damals Handelnden Gerechtigkeit widerfahren lassen.

Nach der Krim-Annexion 2014 hat Angela Merkel immerhin eine europäische Sanktionsfront gegen Russland geschmiedet – und das gegen größte Widerstände. Es gab aber zweifellos Entscheidungen, die sich als falsch erwiesen haben – etwa sich freiwillig in einseitige Energieabhängigkeiten zu begeben oder aber die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr aufs Sträflichste zu vernachlässigen.

2015 ist Merkel wegen der russischen Krim-Besetzung auch den Feierlichkeiten am 9. Mai selbst ferngeblieben.

Das ist richtig. Dafür hat sie am 10. Mai aber zusammen mit Putin einen Kranz am Grabmal des unbekannten Soldaten im Moskauer Alexander-Garten abgelegt. Für Putin war es aber gleichwohl eine diplomatische Ohrfeige. Merkel aber hat das sehr geschickt gemacht: Einerseits durch Fernbleiben am 9. Mai ihre Missbilligung kundzutun, andererseits mit der Kranzniederlegung deutlich zu machen, dass sich Deutschland weiterhin seiner historischen Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg bewusst ist.

Zehn Jahre zuvor war dem bereits angesprochenen Gerhard Schröder eine besondere Ehre widerfahren: Als erster deutscher Bundeskanzler war er anlässlich des 9. Mai nach Moskau eingeladen worden.

Es war in der Tat eine besondere Geste. Zwischen 2005 und 2015 liegt wiederum eine bemerkenswerte Entwicklung des russischen Präsidenten: Putin wurde immer aggressiver und offensiver.

Die syrische Bevölkerung hat es seit der russischen Intervention in dem Bürgerkriegsland 2015 erfahren.

Syrien war in vielerlei Hinsicht der Auftakt dessen, was jetzt in der Ukraine praktiziert wird. Um mit historischen Analogien zu argumentieren: Russland tat es damals in Syrien dem nationalsozialistischen Deutschland während des Spanischen Bürgerkriegs gleich, das 1936 mit der "Legion Condor" eine militärische Abteilung zur Unterstützung der Putschisten unter Francisco Franco entsandte. Auch und gerade mit dem Hintersinn, dass die deutschen Piloten den Krieg erproben und erlernen sollten.

Wie könnte denn der nun tobende Krieg um die Ukraine enden? Vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung?

Wir wissen einfach nicht, was in Putins Kopf vorgeht – und wie weit er gehen wird. Tatsache ist aber, dass Russland in absehbarer Zeit vor einem Scherbenhaufen stehen wird. Krieg und Sanktionen haben die Wirtschaft schwer getroffen und der Krieg fordert viele Opfer und wird dies auch weiterhin tun.

Also sehen Sie wenig Hoffnung auf eine baldige Entspannung?

In der Geschichte sollte man niemals "Nie" sagen. So banal das auch klingen mag. Wer hätte Anfang 1980 gedacht, dass die Berliner Mauer fallen würde? Niemand. Das sollte uns Hoffnung machen.

Professor Creuzberger, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Stefan Creuzberger via Videokonferenz
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