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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Talk bei Lanz Geywitz: "Glaube, dass wir Stufen der Eskalation brauchen"
Ob sich der Kanzler nicht nach Kiew traut, will Lanz von Bundesbauministerin Geywitz wissen. Diese sucht Erklärungen – auch für den Rücktritt ihrer ehemaligen Kollegin im Kabinett.
Bundesbauministerin Klara Geywitz (SPD) sperrt sich gegen ein Embargo für russisches Gas. In einer so brenzligen Situation sei es wichtig, dass man rational bleibe "und sich nicht dem Zeitgeist entgegenwirft", sagte die stellvertretende SPD-Vorsitzende am Dienstag bei "Markus Lanz". "Ich bin dafür, dass wir alles tun, was der Ukraine hilft, aber alles vermeiden, was in Deutschland Gefährdung hervorruft", beschrieb sie ihr Credo später.
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Geywitz ließ offen, ob sie bei der folgenden Aussage womöglich auch einige grüne Koalitionspartner im Hinterkopf hatte: "Ich staune so ein bisschen über die Menschen, die dreimal googeln und schon genau wissen, welche Waffensysteme man wann wohin bringen kann und wer die alles bedienen kann. Ich traue mir das nicht zu."
Die Gäste
- Klara Geywitz (SPD), Bundesbauministerin
- Lamia Messari-Becker, Bauingenieurin
- Florence Gaub, Sicherheitsexpertin
- Helene Bubrowski, Journalistin
Ebenfalls nicht kommentieren wollte die führende Sozialdemokratin den Umstand, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier in Kiew nicht erwünscht ist und deshalb seinen Besuch abgesagt hat. Sie habe davon nichts gehört, sagte Geywitz. Das bewahrte sie aber nicht vor den mehrmaligen Nachfragen des Gastgebers, warum Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), mit dem sie einst für den Parteivorsitz kandidiert hatte, noch nicht in die ukrainische Hauptstadt gereist ist.
Laut Geywitz wäre ein solcher Besuch ein derart starkes Zeichen, dass man sich den offenbar lieber aufhebt. "Ich glaube, dass wir Stufen der Eskalation brauchen", sagte sie. Ein Besuch von Scholz werfe zudem automatisch die Frage auf, welche weitere Unterstützung Deutschland liefern könne. Und diese Antwort bleibt die Bundesregierung offenbar noch schuldig.
Sicherheitsexpertin: Ukraine bringt Bürger in Gefahr
Die militärisch unterlegene Ukraine setzt nach Ansicht der Sicherheitsexpertin Florence Gaub im Strategiekrieg gegen Russland auch ihre Zivilbevölkerung ein. Lanz wollte von der Analystin vom Institut der Europäischen Union für Sicherheitsstudien wissen, welchen Zweck Russland mit der völligen Zerstörung einer Stadt wie Mariupol verfolgt. "Man muss über die Bilder hinaussehen", erwiderte Gaub. "Was die Ukrainer selber gemacht haben, ist, dass sie die Russen absichtlich in Mariupol festhalten, so lange wie möglich, damit sie nicht woanders hingehen können. Jeder Russe, der gerade in Mariupol sitzt, kann nicht woanders sein. Da haben auch die Ukrainer die Zivilbevölkerung bewusst mit in Gefahr gebracht."
Gaub dämpfte Hoffnungen, die russische Bevölkerung könne angesichts der steigenden Opferzahl auf ihrer Seite gegen den Krieg aufbegehren. Die Russen seien kulturell keine Europäer und hätten ein grundlegend anderes Verhältnis zu Leben und Tod, behauptete die Militärexpertin. Geywitz widersprach hier ebenso wie Helene Bubrowski von der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", die ausbleibende Proteste auch mit der autoritären Herrschaft Wladimir Putins erklärte.
Geywitz kritisiert Spiegel
Nicht ganz glücklich war die Bundesministerin übrigens mit dem aufsehenerregenden Pressestatement ihrer Kabinettskollegin Anne Spiegel (Grüne). Die Bundesfamilienministerin hätte lieber eine Nacht darüber schlafen sollen, anstatt so emotional angegriffen vor die Kameras zu treten und sehr persönliche Dinge über ihre Familie zu offenbaren, meinte Geywitz. Sie stimmte Lanz bei der Einschätzung zu, dass die später zurückgetretene Ministerin mit dem Auftritt versucht habe, ihr Amt zu retten.
Den Vorwurf der fast schon emotionalen Erpressung von Bubrowski wies sie jedoch zurück. Politiker seien nicht immer "hundertprozentige Machtroboter", die jede Aussage nach machtstrategischen Überlegungen hin planen würden. Manchmal wolle man sich einfach als Mensch erklären, sagte die Sozialdemokratin.
Leider nicht mehr begründen konnte Bauexpertin Lamia Messari-Becker ihr vernichtendes Urteil über Geywitz' Ziel, jährlich 400.000 neue Wohnungen zu bauen. "Alles nicht machbar. Man kann nicht eine Realität leugnen. Es ist zerstörerisch, was teilweise da abgeht", kommentierte die Professorin für Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen ganz zum Ende der Sendung auch die ehrgeizigen Zielmarken für neue Wärmepumpen und Photovoltaikanlagen.
- "Markus Lanz" vom 12. April 2022