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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Frankreich vor der Wahl "Macron ist ein Charmeur und hemmungsloser Verführer"
Früher flirtete Emmanuel Macron mit Wladimir Putin, heute führt der Kremldespot Krieg. Warum diese frühere Nähe Macron im Wahlkampf nicht schadet, erklärt der Historiker Joseph de Weck im t-online-Interview.
Emmanuel Macron ist jung und überaus ambitioniert. Aber wollen ihn die Franzosen auch weitere fünf Jahre im Élysée-Palast sehen? Darum geht es bei der ersten Runde der französischen Präsidentschaftswahl am kommenden Sonntag. Die entscheidende Stichwahl folgt dann zwei Wochen später. Falls Macron gewinnt, wird das auch Folgen für Deutschland haben: Europa würde ein französisches Staatsoberhaupt erleben, dass die EU auf Vordermann bringen will.
Das prophezeit der Historiker Joseph de Weck, ein ausgewiesener Kenner der französischen Politik und Gesellschaft. Was Macrons Erfolgsgeheimnis ist, wie es ihm gelingt, Machtmenschen wie Donald Trump oder Wladimir Putin um den Finger zu wickeln, und warum er von manchen seiner Landsleute als "Dieb" angesehen wird, lesen Sie im t-online-Interview:
t-online: Herr de Weck, Emmanuel Macron verfügt über eine bemerkenswerte Fähigkeit: Er scheint auch die schwierigsten Charaktere für sich einnehmen zu können, sei es Donald Trump oder Wladimir Putin. Wie gelingt ihm das?
Joseph de Weck: Emmanuel Macron ist ein Charmeur und hemmungsloser Verführer. Er glaubt, jede Person für sich einnehmen zu können. Macron beobachtet sein Gegenüber genau und versucht, dessen Wünsche und Schwächen zu erahnen. Ein Augenzwinkern da, eine Umarmung dort, er umwirbt seine Gesprächspartner. Und gibt ihnen das Gefühl, einen persönlichen Draht zu ihnen zu haben, ganz im Mittelpunkt ihrer Aufmerksamkeit zu stehen. Tatsächlich wirken Leute, die ihn gerade getroffen haben, leicht verzaubert.
Welche Schwäche hat Macron wohl bei Donald Trump ausgemacht, als er den damaligen US-Präsidenten 2018 in Paris anlässlich des 100. Jahrestags des Endes des Ersten Weltkriegs empfing?
Für Macron war Trumps Persönlichkeit wahrscheinlich recht einfach zu entschlüsseln. Der Franzose dürfte dem Amerikaner erzählt haben, sie seien eben keine "normalen, sterilen Politiker", sondern Geschäftsleute aus dem "echten Leben". Sie hätten beide im Alleingang und wider alle Erwartungen die Präsidentenwahl gewonnen, so nach dem Motto "Wir zwei wollen hoch hinaus": Macron lud den Bauherrn des Trump Tower zum Abendessen auf dem Eiffelturm ein. Allerdings hat auch Macron keinen Zaubertrank wie der Gallier Asterix: Er konnte Trump nicht davon abhalten, aus dem Klimaabkommen und dem Iran-Vertrag auszusteigen.
Russlands Präsident ist aus anderem Holz geschnitzt als Donald Trump. Wie ist Macron Wladimir Putin angegangen?
In der propagandistischen Vorbereitung des Ukraine-Krieges hat Putin wiederholt deutlich gemacht, wie wichtig ihm Geschichte ist. Oder zumindest das, was er für Geschichte hält. Damit konnte Macron arbeiten. Wo hat er 2017 Putin empfangen? Selbstredend in Versailles, wo einst der "Sonnenkönig" Ludwig XIV. residierte. Die Pracht des Schlosses, dazu die Republikanische Garde, die ihre Waffen präsentierte – diesen Pomp wird Putin genossen haben.
Joseph de Weck, Jahrgang 1986, studierte an der London School of Economics, an der Sciences Po Paris und an der Universität St. Gallen. Gegenwärtig ist der Historiker und Politologe Europa-Chef eines Beratungsunternehmens für geopolitische und makroökonomische Risiken. De Weck ist zudem Fellow des Foreign Policy Research Institute in Philadelphia und schreibt für "Foreign Policy". Im vergangenen Jahr erschien sein Buch "Emmanuel Macron. Der revolutionäre Präsident".
Nun hat Putin mit seinem Angriff auf die Ukraine sämtliche Verständigungsversuche des Westens zunichtegemacht. Deutschlands frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel steht blamiert da, aber eben auch Emmanuel Macron. Schadet ihm dies im laufenden Wahlkampf?
Macron schadet der frühere Kuschelkurs mit Putin wenig, das lächelt er einfach weg. Die Menschen sind vergesslich. Vor allem profitiert Macron davon, dass es linksaußen und rechtsaußen zahlreiche Russlandfreunde gibt, die Putin als Helfer in ihrem Kulturkampf sahen – und nun beschädigt dastehen. Macrons gefährlichste Rivalen können ihm kaum vorwerfen, gegenüber Putin naiv gewesen zu sein. Denn damit würden sie sich selbst in ein schiefes Licht rücken.
Moment! Macron führte den Dialog mit Putin sehr zum Missfallen seiner eigenen Experten und Diplomaten.
Stimmt. 2019 erklärte der Präsident auf dem Jahrestreffen französischer Botschafter, er müsse seine Öffnungspolitik gegenüber Putin gegen den Widerstand des État profond durchsetzen, also des Deep State, wie amerikanische Rechte sagen: des vereinten Staatsapparats. Macron meinte, die Konflikte in Libyen oder Syrien ließen sich besser lösen, wenn Russland eine konstruktive Rolle spiele.
Und in Osteuropa machte sich Macron mit seinen Avancen an Putin ebenfalls unbeliebt.
Historiker werden die Russlandpolitik als Macrons größtes europapolitisches Versagen bewerten. Sein Versuch, auf einen bilateralen Dialog mit dem Kreml zu setzen, statt auf die Nato, hat sich als falsch erwiesen. Und derselbe Macron, der für ein souveränes Europa auf der Weltbühne eintrat, sah davon ab, seine Russland-Politik innerhalb der Europäischen Union abzusprechen. Macron hat dadurch enorm viel Vertrauen bei seinen EU-Partnern in Mittel- und Osteuropa verspielt und so seiner EU-Agenda geschadet.
War Macron denn uneigennützig – oder verfolgte er bestimmte Pläne für Frankreich?
Macron hoffte, mit Russland eine neue europäische Sicherheitsarchitektur zu errichten, in der die Nato eine weniger wichtige Rolle spielen würde. Konkret wollte er Charles de Gaulles Traum eines Europas von "Lissabon bis Wladiwostok" verwirklichen. Das sollte Europa ermöglichen, sich ein Stück weit von der Abhängigkeit von Washington im Sicherheitsbereich zu lösen – und gleichzeitig Frankreich als herausragender Militärmacht auf dem Kontinent eine umso stärkere Position verschaffen.
Was sich angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine nun allerdings als hinfällig erwiesen hat.
Absolut. Macron hat Putin vollkommen falsch eingeschätzt. In Paris wie in Berlin war die Analyse der Absichten Putins von Wunschdenken getrieben. Immerhin ist es für Paris einfacher, sich auf die neue Lage einzustellen. Frankreich ist wirtschaftlich viel weniger abhängig von russischem Gas als Deutschland. Energie gilt in Paris als strategisch wichtiges Feld, das man niemals den Launen irgendwelcher Diktatoren aussetzen würde. An Konzepte wie "Wandel durch Handel" haben die Franzosen nie geglaubt. Das erklärt, warum Macron bei den Sanktionen eher zu den Hardlinern zählt und namentlich ein Ölembargo fordert.
Nun setzt Macron also mit Wolodymyr Selenskyj auf einen anderen Präsidenten.
Den Schulterschluss mit Kiew hat Macron schon länger gesucht, er versuchte Selenskyj sogar nachzumachen. Kürzlich veröffentlichte Macron Fotos von sich mit Dreitagebart und im Kapuzenpullover einer französischen Eliteeinheit. Das grenzt an Peinlichkeit. Aber es herrscht eben Wahlkampf.
Macron hat die Nato vor einiger Zeit als "hirntot" bezeichnet – nun erwacht das westliche Verteidigungsbündnis aber aus dem Dämmerschlaf. Reiht sich Frankreich ein?
Selbstverständlich: Wenn es hart auf hart kommt in Europa, war Frankreich in der Geschichte immer an der Seite der USA. Die beiden sind sich ähnlich, hatten sie doch beide ihre Revolution, in der sie ihre Freiheit mit Waffen erkämpften. So sagte de Gaulle 1965 bekanntlich: "Wenn es zum Schlimmsten kommen sollte, wenn die Freiheit der Welt in Gefahr ist, wer wären dann nicht die offensichtlichsten Alliierten als Frankreich und die USA?"
Und gibt es ein Mea culpa Macrons in Bezug auf Russland?
Der französische Präsident hat seine damalige "Hirntot"-Aussage längst "historisiert": Sie sei damals durchaus berechtigt gewesen, heute aber nicht mehr. Ein "Da lag ich falsch" werden Sie von Macron niemals hören. Da ist er ähnlich gestrickt wie Bundeskanzler Olaf Scholz. Außerdem haben die Beziehung zu Putin und der gute Kontakt zu Selenskyj den Franzosen wenigstens ermöglicht, diplomatische und humanitäre Initiativen in diesem Krieg zu lancieren, wenn auch bislang ohne Erfolg.
Die deutsche, aber auch die französische Regierung, haben sich jedoch jahrelang von Putin täuschen lassen. Wie konnte dieser Fehler passieren?
Paris und Berlin machten sich trotz vieler Warnungen von Fachleuten völlig irrige Vorstellungen von Putin. Es herrschte eine Art magisches Denken, ohne Bezug zur Realität. Paris wollte mit Moskau zusammenarbeiten, um die Abhängigkeit von Washington zu verringern. Berlin wollte billiges Gas und hoffte, wirtschaftliche Verflechtungen würden Putins revanchistische Politik im Zaun behalten. Man mag Macron im Übrigen vieles vorwerfen, aber bereits im Herbst begriff er, dass Reden zwar gut ist, man vor allem aber auf eine Drohkulisse von Sanktionen setzen müsse, um eventuell Putins Kalkül zu beeinflussen.
Im aktuellen Wahlkampf erweist sich das als hilfreich. Macrons Rivalen fällt die Putin-Nähe nun auf die Füße.
Richtig. Der Präsidentschaftskandidat Éric Zemmour hat sich besonders verkalkuliert, indem er gleichsam einen französischen Putin forderte. Zemmour hält den Westen, genau wie sein Vorbild im Kreml, für verweichlicht. Besonders die Migration verteufelt er.
Dazu agiert Zemmour sehr ungeschickt. So hat er negativ auf die Frage geantwortet, ob Frankreich Flüchtende aus der Ukraine aufnehmen solle.
Und dies, obwohl 80 Prozent der Franzosen dafür sind. Marine Le Pen vom rechtsextremen Rassemblement National ist gewiefter, dabei hätte sie eigentlich ein noch größeres Putin-Problem als Zemmour: Sie hat ihn zwei Mal im Kreml besucht, ein gemeinsames Foto der beiden sollte ihre Wahlkampfbroschüre zieren. Stattdessen hat sie sich nun eilig von Putin distanziert und ist in den Tagen nach der Invasion von der medialen Bildfläche verschwunden.
Das rechte Lager in Frankreich ist gespalten, das ist doch eine gute Nachricht für Macron.
Ja und Nein. Marine Le Pen versucht, auch für Mitte-rechts-Wähler attraktiv zu werden. So hat sie etliche radikale Forderungen aufgegeben, etwa Frankreichs Austritt aus der Europäischen Union. Zemmour hingegen bedient jene Wählerinnen und Wähler, für die Le Pen zu mainstreamig geworden ist.
Welche Menschen wählen in Frankreich eigentlich rechts?
Von den Protestwählern abgesehen, sind es drei Gruppen. Die erste bilden die Anhänger des früheren Marschalls Philippe Pétain ...
... der als Kollaborateur der Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs in Südfrankreich einen Vasallenstaat von deutschen Gnaden installiert hatte.
Genau. Seine Bewunderer sehen das anders, für sie hat Pétain einst Frankreich vor der Vernichtung gerettet. Die zweite Gruppe besteht aus den Algerien-Franzosen, die in der einstigen französischen Kolonie lebten und nach deren Unabhängigkeit 1962 nach Frankreich zurückkehren mussten – beziehungsweise ihren Nachkommen. Für sie ist der von Macron verehrte General de Gaulle ein Verräter, weil er den Rückzug aus Algerien durchsetzte.
Bleibt die dritte Gruppe.
Bei ihnen handelt es sich um erzkonservative Katholiken, die sich in der säkularen Republik unwohl fühlen. Sie sehen sich als Opfer eines aggressiven Laizismus, also der strengen Trennung von Staat und Kirche. Marine Le Pen hat im Zuge ihrer vorgeblichen "Mäßigung" die Anliegen dieser drei Gruppen nicht länger bedient – also versucht Éric Zemmour, bei ihnen zu punkten.
Und die Linke spielt derzeit keine Rolle?
Nein. Die Linke ist bedeutungslos, weil vollkommen zersplittert. In den Umfragen muss ein Kandidat schon deutlich mehr als zehn Prozent erzielen, um von der Öffentlichkeit und den Medien überhaupt wahrgenommen zu werden. Unter den Linken herrschen handfeste Meinungsverschiedenheiten zu den Themen EU, Atomstrom oder Identitätspolitik. Die Anführer der linken Bewegungen schaffen es nicht, über ihren Schatten zu springen und Kompromisse zu schließen. Ideologisch auf Linie zu bleiben, scheint für sie wichtiger zu sein, als Wahlen zu gewinnen. Die Konservativen sind derzeit ebenfalls von geringer Bedeutung, ihre Kandidatin Valérie Pécresse macht keine gute Figur.
Emmanuel Macron hingegen hat bewiesen, dass er politisch wendig ist und Wahlen gewinnen kann. Wird er auch dieses Mal triumphieren? Und was könnte sein Ziel in der zweiten Amtsperiode sein?
Der zweite Wahlgang wird knapper als 2017, aber ich gehe von einem Sieg Macrons aus. Seine Bilanz lässt sich sehen. So hat er den Arbeitsmarkt liberalisiert, die Arbeitslosenquote ist auf rund 7,4 Prozent gesunken, für Frankreich ein sehr guter Wert. Die französische Wirtschaft ist viel dynamischer geworden. Was noch fehlt, ist eine Rentenreform.
Für die Geschichtsbücher ist das Thema "Rentenreform" sicher nichts. Will Macron sich nicht genau dort verewigen?
In der Tat möchte er in die Geschichte eingehen. Deswegen würde in einer zweiten Amtszeit Europa weiterhin sein großes Anliegen sein. Die Pandemie und der Ukraine-Krieg haben Macron darin bestärkt, dass die EU handlungsfähiger werden muss. So will sich Macron sein Denkmal errichten.
Eine Tatsache scheint in der Europäischen Union unumstößlich: Gegen die Deutschen geht es nicht.
Das ist Macron bewusst. Er hat anfangs viel in die Beziehungen zur Bundesrepublik investiert. Er gab Interviews in deutschen Medien, schraubte das Haushaltsdefizit unter die Drei-Prozent-Grenze der EU, um in Berlin Vertrauen zu gewinnen. Aber sein Werben bei Angela Merkel für einen großen Wurf in Richtung eines "souveränen Europas" blieb ohne jedes Echo. Dabei erweisen sich Macrons Ideen in der jetzigen Krise als richtig. Er will Europa unabhängiger machen, etwa in Fragen der Energiepolitik, die eben auch geopolitisch gedacht werden sollten. Generell, so Macron, muss der Primat der Politik gestärkt werden – und nicht der Vorrang der Wirtschaft, den Deutschland lange Zeit pflegte.
Aber wie genau soll Europa dann aussehen? Strebt Macron einen Bundesstaat anstelle eines Staatenbunds an?
Nein. Institutionell will er wenig verändern. Er will ein Europa, wie es gegenwärtig ist – mit einem Parlament, einem Rat von EU-Staats- und -Regierungschefs. Aber handlungsfähig solle dieses Europa werden! Dazu bedarf es einer gemeinsamen Energiepolitik. Und einer Handels- und Industriepolitik, die verhindert, dass wir uns vom immer autoritärer werdenden China abhängig machen. Ferner: In gemeinsamer Anstrengung sollen die riesigen Techkonzerne reguliert werden. Europa ist ja bereits heute eine Weltmacht in Sachen internationale Regulierung.
Und wie steht es mit dem gemeinsamen Schuldenmachen?
Das befürwortet Macron, auch wenn es den Deutschen missfällt. Will man Europa stark machen, muss man bereit sein, dafür was auszugeben. Wie Albert Einstein angeblich sagte: "Was nichts kostet, ist nichts wert."
Zum Schluss interessiert uns Macrons Persönlichkeit: Er gilt als clever und flexibel, aber was zeichnet seinen Charakter am stärksten aus?
Die Journalistin Corinne Lhaïk hat ein Buch über Macron geschrieben. Sie wirft ihm vor, kein ideologisches Rückgrat zu haben. Wie ein Dieb greife er von jeder Denkschule ein, zwei Ideen auf, die ihm passten. Seine politischen Gegner stünden dann mit leeren Taschen da. Macron ist in der Tat ein Pragmatiker ohne Tabus. Mindestrente und Mindestlohn hat er stärker erhöht als sein linker Vorgänger. Einerseits ist das klassische sozialdemokratische Politik, anderseits liberalisierte er den Arbeitsmarkt und schaffte die Vermögenssteuer ab, was die Linke empörte. Wie einst Angela Merkel, lässt sich Emmanuel Macron schwerlich einordnen. Nun wird sich zeigen, ob er damit machtpolitisch so erfolgreich wird wie Merkel.
Herr de Weck, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Joseph de Weck via Videokonferenz