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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in der Ukraine "9.000 russische Soldaten könnten eingekesselt sein"
Die russische Invasion der Ukraine ist festgefahren, an einigen Fronten können die ukrainischen Kräfte sogar erfolgreich Gegenoffensiven starten. Wladimir Putin muss seine Strategie ändern. Kann Russland den Krieg noch gewinnen?
Die Kämpfe in der Ukraine verschärfen sich weiter. Es gibt viel Bewegung an den Fronten, aber trotzdem kann keine Seite große Geländegewinne verzeichnen. Im Gegenteil: Die Frontverläufe des Krieges wirken wie eingefroren.
Russland muss weitere Kräfte für den Krieg mobilisieren, um überhaupt den großen Druck auf das ukrainische Militär aufrechterhalten zu können. Der russische Präsident Wladimir Putin lässt den Bomben- und Raketenterror auf ukrainische Städte verstärken – die Waffen zielen nicht auf die militärische Kampfkraft der Ukraine, sondern auf den Durchhaltewillen der ukrainischen Zivilbevölkerung.
Doch auch dieser Leidensdruck scheint die Entschlossenheit der ukrainischen Verteidiger nicht zu schwächen. Für Russland läuft es weiterhin nicht nach Plan, dagegen zeigt die Guerillastrategie der Ukraine große Effektivität. Kann Putin seine Kriegsziele noch erreichen? Gustav Gressel, Russland- und Militärexperte bei der internationalen Denkfabrik "European Council on Foreign Relations", gibt im Interview mit t-online einen Überblick zur aktuellen Lage.
t-online: Herr Gressel, der russische Angriff auf die Ukraine ist festgefahren. Sehen wir in dem Krieg mittlerweile eine militärische Pattsituation?
Gustav Gressel: Momentan sehen wir eher eine operative Pause. Die Russen haben sich im Angriff verbraucht und mussten schwere Verluste hinnehmen. Deshalb müssen viele Verbände umgruppiert und zusammengelegt werden. Die aktuellen Operationen konzentrieren sich deswegen auf Mariupol und den Osten der Ukraine, weil man dort noch ein Kräfteverhältnis hat, mit dem man Geländegewinne erzielen kann.
Gustav Gressel ist Senior Policy Fellow beim European Council On Foreign Affairs in Berlin. Seine Schwerpunkte sind Russland, Osteuropa und bewaffnete Konflikte.
Was ist nun die russische Strategie?
Ich glaube, dass größere Offensiven der russischen Armee erst wieder in der zweiten Aprilhälfte beginnen werden.
Warum?
Weil man erst dann ausreichend neue Kräfte aus Russland an die Fronten in der Ukraine gebracht haben wird.
Wir haben also noch nicht den Punkt erreicht, an dem Putin versucht, seine Geländegewinne in der Ukraine zu konsolidieren?
Das frage ich mich auch: Haben wir schon den Punkt erreicht, an dem Russland seine offensiven Handlungen einstellt und versucht, diesen Krieg mit einem politischen Abkommen einzufangen? Ich befürchte aber, dass wir an diesem Punkt noch nicht sind.
Bislang hat Putin in der Ukraine auch noch nicht viel gewonnen.
Zumindest hat Russland noch keine größere Stadt erobert. Mariupol wird man vermutlich bald einnehmen können, wahrscheinlich gibt es im Donbass auch noch größere Geländegewinne. Erst wenn man in Moskau merkt, dass man in einem absehbaren Zeitraum nicht mehr vorwärtskommt, wird man sich für politische Verhandlungen öffnen.
Die russische Armee scheint aber auch Probleme zu haben, eroberte Gebiete überhaupt halten zu können. Im Nordwesten von Kiew gibt es teilweise erfolgreiche Offensiven der ukrainischen Armee. Sind russische Kräfte um Irpin mittlerweile eingekesselt?
Dort sind die russischen Truppen in der Tat in Bedrängnis. Aber eigentlich müsste Russland noch Reserven haben. Vor allem Kampfhubschrauber aus Belarus könnten sich noch ins Gefecht stürzen. Ich habe gehört, dass bis zu 9.000 russische Soldaten eingekesselt und vom Nachschub abgeschnitten worden sein sollen. Aber ob die ukrainischen Kräfte diesen Kessel wirklich aufrechterhalten können, wird sich erst in den nächsten Tagen zeigen. Das wäre ein großer Erfolg für die Ukraine, aber die Schlacht ist noch nicht vorbei.
Was unternimmt Russland, um die eigenen operativen Probleme zu lösen?
Die russische Armee versucht, ihre Führungsstruktur zu ändern, um die Koordination an der Front zu erleichtern. So werden zum Beispiel weitere Kommandoebenen aufgebaut. Aber wir sehen auch, dass mehr Nachschub an die Front gebracht wird, um die Logistikprobleme zu lösen. Und: Mittlerweile setzt Russland mehr Drohnen ein, um Gefechtsgebiete im Vorfeld aufzuklären.
Das zeigt aber vor allem auch, dass Russland den ukrainischen Widerstand nun ernster nimmt. In den ersten Kriegswochen hat man Panzerverbände verloren, weil man sie ohne Aufklärung in urbanes Gebiet geschickt hat.
Genau. Diese russischen Kräfte wurden teilweise komplett aufgerieben.
Mittlerweile sind auch einige militärische Führungskräfte der russischen Armee getötet worden, einige Generäle – vor allem vom Geheimdienst – wurden von Putin gefeuert. Sind das die Konsequenzen dieser Fehler?
Die nachrichtendienstliche Vorbereitung des Krieges war schlecht, aber der russische Präsident wollte auch nur das hören, was sich mit seinen Einschätzungen deckte. Putin ist nun auf das System böse, das er sich selbst geschaffen hat.
Deshalb nimmt er den russischen Geheimdienst FSB aufs Korn.
Putin dürfte viele im FSB für die mangelhafte Vorbereitung verantwortlich machen. Außerdem wissen westliche Nachrichtendienste viel über die russische Operation. Ich könnte mir vorstellen, dass der Kreml vermutet, dass es dort undichte Stellen in der Informationskette gibt.
Sind das vielleicht die ersten Risse im Machtgefüge von Putin?
Schwer zu sagen. Putin ist unzufrieden mit dem Verlauf der Operation und will jetzt die Schuldigen finden und bestrafen. Der russische Präsident sieht die Schuld sicherlich nicht bei sich. Aus der Entfernung kann ich aber nicht einschätzen, wie sehr sich da Menschen politisch von Putin distanziert haben oder ob es Vorbereitungen für einen Putsch gab. Da gibt es nur sehr viele Gerüchte.
Auch in der Nationalgarde hat Putin durchgegriffen und mehrere Köpfe ausgetauscht.
Der Einsatz der russischen Nationalgarde zu Kriegsbeginn war mir ohnehin ein Rätsel. Es ist wahrscheinlich, dass der Generalstab das angeordnet hat, weil man mit einem schnellen Sieg gerechnet hat. Die Nationalgarde ist für die Errichtung eines Besatzungsregimes gedacht, um Gebiete zu säubern und um zivilen Widerstand zu verhaften. Doch im Ukrainekrieg hat man gleich zu Beginn mit nicht gepanzerten oder wenig panzerten Fahrzeugen eingegriffen, wurde in Kampfhandlungen verwickelt und musste schwere Verluste hinnehmen. Dieser Leichtsinn ist aber wahrscheinlich nicht die Schuld der Nationalgarde, sondern vielmehr ist es ein kollektives Versagen der Führung in Moskau. Die Generäle sind aber Putins Sündenböcke.
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Die Nationalgarde hat aber auch Probleme, selbst wenn Russland bestimmte Gebiete in der Ukraine schon erobert hat. Wir sehen zum Beispiel Schüsse auf Demonstranten in Cherson. Das ist doch keine Strategie.
Die russische Führung schätzte die innenpolitische Lage in der Ukraine vollkommen falsch ein. Das war aber auch Putins Wahrnehmung und er hat jeden, der ihm etwas anderes erzählt hat, zum Trottel gemacht. Nun darf der russische Präsident sich nicht wundern, dass seine ideologischen Präferenzen die ganze operative Kriegsplanung der russischen Armee überschatten.
Aber wie wird Putin weiter vorgehen?
Wir sehen aktuell schon russische Säuberungen und Verhaftungswellen im Hinterland, gegen Politiker oder Nichtregierungsorganisationen. Putin hat sein Endziel – die Besetzung und Säuberung der Ukraine – noch nicht aufgegeben. Die russische Verhandlungsführung ist ein klares Zeichen dafür, dass sich Putin noch auf keinen Kompromissfrieden einlässt. Aktuell scheint Russland eher eine Verschnaufpause einzulegen, um die eigenen Probleme aufzuarbeiten.
Die Pause gibt der Ukraine Zeit, ihre Verteidigung weiter auszubauen. Wenn die russische Armee Kiew oder Odessa angreift, erwartet sie dort doch eine Hölle?
Richtig. Putin muss sich auch die Frage stellen, worüber er herrschen möchte, wenn er die Städte vorher in Schutt und Asche gelegt hat. Russland steckt vor allem in einem Dilemma: Putin hat viel in diesen Krieg investiert und hängt auch emotional in diesem "Projekt" fest. Dabei macht es eigentlich schon keinen Sinn mehr, aber unterliegt der Verlockung, mit noch mehr Mitteln in dem Krieg eine Entscheidung in seinem Sinne herbeizuführen. Was wollen sie langfristig dort? Selbst wenn sie den ukrainischen Widerstand brechen, verschlingen der Krieg und der anschließende Wiederaufbau Unmengen an russischen Ressourcen.
Zumal sich Putin sein einziges Wirtschaftsmodell – der Export von Rohstoffen – selbst zerschossen hat.
Mit welchem Geld will Russland die Ukraine denn wiederaufbauen? Das fehlt dann an anderen Stellen und auch im militärischen Bereich. Wie gesagt: Die Fortsetzung des Krieges macht rational aus russischer Perspektive eigentlich keinen Sinn.
Hat die Ukraine vielleicht sogar eine Chance, den Krieg zu "gewinnen"?
Die Ukraine dürfte keine Chance haben, die russische Armee von ihrem gesamten Staatsgebiet zu vertreiben. Aber man könnte Russland in einen Ermattungsfrieden zwingen. Wenn auch die nächste russische Offensive im Sand verlaufen sollte, bestünde außerdem die Möglichkeit, dass ukrainische Kräfte auch Gelände zurückerobern könnten.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gressel.