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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ukraine-Talk bei Lanz Röttgen kontert Faeser: "Wir wurden militärisch nicht ernst genommen"
Der Ukraine-Krieg und seine Auswirkungen sind auch bei Markus Lanz noch aktuell. Innenministerin Nancy Faeser will alle Flüchtlinge aufnehmen. Norbert Röttgen kritisiert die Militärpolitik, hat aber auch ein Lob übrig.
Die russische Desinformationskampagne ist hierzulande im vollen Gange. Innenministerin Faeser warnt vor Cyberangriffen und verspricht: Wie viele Flüchtlinge auch kommen – wir schaffen das.
Auch Deutschland wird im Krieg Russlands gegen die Ukraine zum Schauplatz. "Wir haben das gut im Blick, gerade was mögliche Cyberangriffe betrifft", versicherte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) am Dienstag bei "Markus Lanz". Zu den neuen Formen der Kriegsführung gehören laut der Sozialdemokratin außerdem Desinformationskampagnen.
Im Gespräch mit Social-Media-Plattformen wie Google und YouTube sei es gelungen, dass Aufrufe zur Kriegsteilnahme oder gezielte Desinformation gelöscht wurden. Die Bedrohung lauert aber nicht nur im digitalen Raum. "Das Dritte ist natürlich die innere Sicherheit auf unseren Straßen", gab Faeser zu bedenken. "Auch da schauen wir gerade sehr genau hin, inwiefern werden die noch existierenden Corona-Protestdemonstrationen auch für andere Zwecke noch genutzt."
Die Gäste
- Nancy Faeser (SPD), Bundesinnenministerin
- Norbert Röttgen, CDU-Außenpolitiker
- Margarete Klein, Politologin
- Gerald Knaus, Migrationsforscher
- Carlo Masala, Militärexperte
Faeser mochte auch auf wiederholte Nachfrage von Lanz nicht einschätzen, wie viele Ukrainer auf der Flucht vor dem Krieg in der Bundesrepublik Schutz suchen könnten. Sie versicherte jedoch: "Wir werden diejenigen natürlich aufnehmen, die nach Deutschland kommen. Ich denke, das ist unsere humanitäre Verpflichtung."
Selbst, wenn es wie von Migrationsforscher Gerald Knaus prognostiziert, womöglich zur größten Fluchtbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg kommt?, hakte Lanz nach. "Wenn es so sein sollte, dann werden wir auch das bewältigen", unterstrich die Bundesinnenministerin.
Weniger dringlich ist für Faeser aktuell die Frage, ob die Aussetzung der Wehrpflicht zurückgenommen werden sollte. Sie sagte zwar mit Blick auf die von Parteifreund Olaf Scholz angekündigte Rüstungsoffensive: "Ich unterstütze den Kanzler voll und ganz dabei". Aber auch in Zukunft solle zunächst nach friedlichen Lösungen gesucht werden. Deutschland sei jahrzehntelang "gut gefahren" mit diplomatischen Lösungen – "nur in diesem Fall leider nicht".
"Putin hat uns militärisch nicht ernst genommen"
Hier regte sich Widerstand in der Runde, angefangen beim Gastgeber selbst. CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen attestierte Deutschland eine geschwächte Verhandlungsposition gegenüber Wladimir Putin, denn: "Wir wurden militärisch nicht ernst genommen." Er begrüßte deshalb die von Scholz angekündigten Investitionen von 100 Milliarden Euro.
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"Ich dachte: Mensch, das ist ein Hammer. Das ist ein historischer Moment", schilderte der Kanzlerkandidat-Kandidat der Union seine Reaktion auf die Rede des Regierungschefs im Bundestag. Röttgen vermutete, dass Scholz seine Pläne zuvor ganz bewusst nicht in der SPD-Fraktionssitzung kundgetan hatte, da er dort auf Widerstand gestoßen wäre: "Er hat Fakten geschaffen als Bundeskanzler."
"Mir ist die Kinnlage schon runtergefallen", sagte auch Carlo Masala, Professor von der Universität der Bundeswehr München. Er sprach von einer "atemberaubenden" Kehrtwende und einer sehr richtigen Entscheidung. Neben den Investitionen seien nun aber Reformen nötig, um die Bundeswehr wieder effektiver zu machen. Da würde nach Ansicht des Militärexperten die Einführung der Wehrpflicht nur für unnötige Ausgaben sorgen, weshalb er sich strikt gegen die Wiedereinführung stellte.
Masala hielt es bei Lanz nicht für ausgeschlossen, dass junge russische Soldaten "unter Vortäuschung falscher Tatsachen in vermeintliche Manöver geschickt wurden und sich plötzlich in der Ukraine in einem Krieg wiederfinden". Er rechnete damit, dass Putin nun mit dem riesigen Konvoi die ukrainische Hauptstadt einkesseln wird. Wenngleich ein direkter Angriff laut ihm noch fraglich ist, stehe doch fest: "Es wird um Kiew gehen."
"Das sind Kriegsverbrechen"
"Es wird jetzt zerstört. Es sieht so aus, als ob die Phase des Vernichtungskrieges eingeläutet wurde", sagte Röttgen. Er sprach von einem erbarmungslosen Artillerieeinsatz gegen Zivilisten und stellte unmissverständlich klar: "Das sind Kriegsverbrechen." Putin sei offenbar zu einem "verbrannte-Erde-Krieg" übergegangen. Knaus fühlte sich angesichts des brutalen Vorgehens an einstige Kolonialkriege erinnert. "Ich fürchte, dass das, was wir jetzt sehen, erst der Anfang ist", befürchtete der Mitgründer des Think Tanks European Stability Initiative – es sei denn, Putin werde von Kräften in Moskau direkt gestoppt.
Röttgen hielt es für durchaus möglich, dass die öffentliche Unterstützung für Putin durch Kriegsverluste und Wirtschaftssanktionen wegbrechen wird. Aber dann entstehe womöglich eine brandgefährliche Situation. "Das ist meine größte Sorge. Es gibt keinen, der ihn berechnen kann, wenn er mit dem Rücken zur Wand steht", warnte der CDU-Politiker. Er fragte: Gibt es überhaupt eine Nummer zwei, wer könnte Putin stürzen – schon rein theoretisch? "Wer erreicht ihn überhaupt noch physisch, wie abgeschottet ist er. Das sind Fragen der Unberechenbarkeit." Für Militärexperte Masala ist die weitere Entwicklung in der Ukraine hingegen leider klar: "Mehr Gewalt, mehr Blut, eine Durchsetzung – militärisch gesehen – der russischen Ziele."
- "Markus Lanz" vom 1. März 2022