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100 Tage nach "Freedom Day": Großbritannien feiert nicht – Regierung unter Druck


100 Tage nach dem "Freedom Day"
Großbritannien ist die Feierlust vergangen

dpa, Christoph Meyer

Aktualisiert am 27.10.2021Lesedauer: 3 Min.
Boris Johnson: Der britische Regierungschef gerät unter Druck erneut Corona-Maßnahmen im Land einzuführen.Vergrößern des Bildes
Boris Johnson: Der britische Regierungschef gerät unter Druck, erneut Corona-Maßnahmen im Land einzuführen. (Quelle: imago-images-bilder)
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Im Juli feierten die Menschen in Großbritannien das Ende der Corona-Maßnahmen. Die gute Laune erhält zurzeit jedoch einen argen Dämpfer, denn die Infektionszahlen explodieren wieder – die Regierung gerät unter Druck.

100 Tage nach dem "Freedom Day" hat Großbritannien eine der höchsten Infektionsraten weltweit. Auch die Zahlen der Krankenhaus- und Todesfälle steigen wieder. Experten fordern die Rückkehr von Corona-Maßnahmen, doch die Regierung stellt auf Durchzug.

"Vorsichtig, aber unumkehrbar" – so hatte der britische Premierminister Boris Johnson die schrittweise Aufhebung der Corona-Maßnahmen in England angekündigt. Am 19. Juli war es so weit. Im größten britischen Landesteil fielen die letzten Pandemie-Regeln wie Abstandhalten und Maskentragen. Junge Nachtschwärmer feierten den "Freedom Day" ausgelassen in den Diskotheken des Landes. Doch 100 Tage später ist vielen nicht mehr zum Feiern zumute.

Auffrischungsimpfungen stocken

Großbritannien hat inzwischen eine der höchsten Infektionsraten weltweit. Die Sieben-Tage-Inzidenz lag zuletzt bei etwa 485, Tendenz steigend. Die als Impfwunder gefeierte Kampagne – die zu Beginn viel schneller anlief als in vielen EU-Ländern – gerät bei den Auffrischungsimpfungen für Ältere und den Impfungen von Jugendlichen ins Stocken.


Zuletzt kletterte die Zahl der registrierten Neuinfektionen auf beinahe 50.000. Die Zahl der täglichen Krankenhauseinweisungen liegt bei mehr als 1.000, täglich werden Dutzende Corona-Tote gemeldet. Eine neue, womöglich geringfügig ansteckendere Variante des Virus in Großbritannien gilt hingegen bislang als wenig besorgniserregend.

Beim Parteitag seiner Konservativen in Manchester Anfang Oktober ließ sich Johnson noch dafür feiern, dass man "seit Monaten eine der offensten Wirtschaften und Gesellschaften" habe.

Regierung "bewusst fahrlässig"

Doch Experten und Mediziner warnen inzwischen davor, dass der Abbau des während der Pandemie entstandenen Rückstaus an Krankenhausbehandlungen in Gefahr gebracht werden könnte. "Wir sind am Limit, und es ist Mitte Oktober. Es würde unglaublich viel Glück brauchen, damit wir uns in drei Monaten nicht in einer schweren Krise wiederfinden", sagte der Geschäftsführer des Verbands der Trägerorganisationen des Nationalen Gesundheitsdiensts NHS, Matthew Taylor, dem "Guardian". Der Ärzteverband BMA (British Medical Association) bezichtigte die Regierung sogar, "bewusst fahrlässig" zu handeln.

Taylor fordert wie viele andere, dass die Regierung ihren vor einigen Wochen angekündigten Plan B nun ins Spiel bringt – das würde zum Beispiel eine Wiedereinführung der Maskenpflicht in überfüllten Räumen und die Pflicht zum Vorzeigen von Impfpässen bei Großveranstaltungen bedeuten.

Auch BMA-Chef Chaand Nagpaul forderte die sofortige Wiedereinführung von Corona-Maßnahmen. Die Regierung habe versprochen, Plan B zu ergreifen, wenn der Nationale Gesundheitsdienst NHS in Gefahr sei, überwältigt zu werden. "Als Ärzte, die in erster Reihe stehen, können wir absolut sagen, dass dieser Punkt jetzt erreicht ist", so Nagpaul einer Mitteilung zufolge.

Regierung zögert aus finanziellen Gründen

Doch die Regierung will ihr Versprechen von der großen Freiheit noch nicht zurücknehmen, noch sei es nicht an der Zeit für Plan B, sagte Gesundheitsminister Sajid Javid jüngst. Zwar warnte er, die Zahl der täglichen Neuinfektionen könne schon bald auf bis zu 100.000 steigen. Stattdessen sollten die Menschen verstärkt dazu aufgerufen werden, sich impfen zu lassen. Freudig verkündete Javid, mehr als sechs Millionen Menschen hätten bereits eine Auffrischungsimpfung erhalten.

Wie das Onlineportal "Politico" berichtete, könnte das Kurshalten der Regierung auch finanzielle Gründe haben. Interne Dokumente, aus denen "Politico" am Dienstag zitierte, geben den Schaden für die britische Wirtschaft durch einen fünfmonatigen Plan B mit Maskenpflicht und Homeoffice mit bis zu 18 Milliarden Pfund (21,4 Mrd. Euro) an.

Beschleunigung der Impfkampagne gefordert

Warum Großbritannien erneut zum Sorgenkind in der Pandemie zu werden droht, dürfte verschiedene Gründe haben. Womöglich wird den Briten ihr Impfwunder nun teilweise zum Verhängnis, weil die Wirkung bei vielen bereits nachlässt, wie ein Datenjournalist der "Financial Times" (FT) mutmaßt. Ein Effekt, der sich auch in Israel gezeigt hatte. Ein Vergleich der Statistiken verschiedener Länder zeige auch, dass die völlig uneingeschränkten Menschenansammlungen in Innenräumen einen großen Anteil am Infektionsgeschehen haben dürften, so "FT"-Journalist John Burn-Murdoch auf Twitter.

Zu ähnlichen Schlüssen kommt auch der Epidemiologe Neil Ferguson vom Imperial College in London. Er blickt vor allem mit Sorge auf die besonders hohen Infektionsraten unter Jugendlichen. 12- bis 15-Jährige in England werden bislang nur einmal geimpft, und die Impfrate ist niedrig. Er fordert daher eine Zweitimpfung für Jugendliche und eine Beschleunigung der Impfkampagne insgesamt.

In Deutschland ist man von britischen Verhältnissen noch weit entfernt. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei etwa 110. Gesundheitsminister Jens Spahn will die sogenannte epidemische Lage nationaler Tragweite – die rechtliche Grundlage für Verordnungen und zentrale Corona-Maßnahmen – Ende November auslaufen lassen. Das ist zwar kein "Freedom Day", weil Maßnahmen wie Abstands- und Hygieneregeln bleiben, doch es gibt bereits Warnungen, dass dieser Eindruck in der Bevölkerung entstehen könnte. Ob das wünschenswert ist, dürfte angesichts der britischen Erfahrung in Zweifel gezogen werden.

Verwendete Quellen
  • Nachrichtenagentur dpa
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