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Delta-Desaster: Wie Russland in der Pandemie so versagen konnte


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Delta-Desaster
Wie Russland in der Pandemie so versagen konnte


01.07.2021Lesedauer: 5 Min.
Corona-Sorglosigkeit in St. Petersburg: 45.000 Schülerinnen und Schüler feierten bei einem Massenevent vor einer Woche ihren Abschluss – trotz Pandemie fast komplett ohne Maske.Vergrößern des Bildes
Corona-Sorglosigkeit in St. Petersburg: 45.000 Schülerinnen und Schüler feierten bei einem Massenevent vor einer Woche ihren Abschluss – trotz Pandemie fast komplett ohne Maske. (Quelle: Dmitri Lovetsky/ap)

Russland hatte früher als der Westen einen Impfstoff, der trotz Vorbehalten seine Wirksamkeit bewies. Jetzt explodieren wegen Delta die Infektionszahlen – und die Impfskepsis ist groß. Wie passt das zusammen?

Kaum ein Tag vergeht, ohne dass Russland einen weiteren traurigen Rekord vermelden muss. Am Donnerstag verzeichnete das Land mit 672 die bisher höchste Zahl an täglichen Corona-Toten. Am Mittwoch waren es 669, bis dahin Spitzenwert. Zudem wurden über 23.000 Neuinfektionen registriert. Damit stieg die Gesamtzahl der offiziell registrierten Ansteckungen auf mehr als 5,5 Millionen.

Die heftige Infektionswelle – die auf die Ausbreitung der deutlich ansteckenderen Delta-Variante und die schleppende Impfkampagne zurückgeht – bringt das Gesundheitssystem allmählich an die Belastungsgrenze und die Regierung in Erklärungsnot. Monatelang hatte sie den Eindruck von Normalität vermittelt.

Die Eindämmungsmaßnahmen waren schon länger nahezu aufgehoben worden. Ende März feierten 80.000 Menschen im Moskauer Luschniki-Stadion ein Konzert zum Jahrestag der Annexion der Krim. Bars und Clubs blieben mit wenigen Einschränkungen offen. Maske trug in der Öffentlichkeit nur eine kleine Minderheit.

Dass sich angesichts dieser Sorglosigkeit der heimische Impfstoff Sputnik V zum Ladenhüter entwickelt hat, verwundert wenig. In Moskau oder St. Petersburg, wo sich jeder, der will, schnell und unkompliziert eine Impfung abholen kann, sind die Impfraten noch immer beunruhigend niedrig – die Neuansteckungen indes erschreckend hoch.

Putin: Alles ist sicher

Wenn Staatschef Wladimir Putin dann am Mittwoch in der jährlichen Bürgerfragerunde "Der direkte Draht" den Zuschauern erklärt, seine Partei habe das Land sicher durch die Corona-Krise geführt, dürften das viele mit Kopfschütteln quittiert haben. Weltweit hat Russland mit die meisten Corona-Toten. Offiziell sind es mehr als 135.000 – in Wahrheit dürften es aber weit mehr sein. Die russische Statistikbehörde Rosstat nannte im April eine doppelt so hohe Zahl. Berücksichtigt man die laut offiziellen Zahlen hohe Übersterblichkeit in Russland seit Ausbruch der Pandemie, könnten es sogar mehr als 340.000 Tote sein.

Aus den Krankenhäusern kommen nun mehr und mehr Warnungen vor einer sich ankündigenden Notlage. Eine Ärztin aus der Stadt Puschkino, nördlich von Moskau, berichtete dem Portal "The Insider" von täglich knapper werdenden Kapazitäten. Derzeit würden dreimal so viele neue Covid-Patienten in ihre Klinik eingeliefert, wie sie im gleichen Zeitraum wieder verlassen. Zwar sei das Personal besser vorbereitet als in der ersten Welle, bestimmte Routinen im Umgang mit Covid-Patienten hätten sich etabliert, jeder wisse, was wann zu tun ist. Doch die Arbeitsbelastung steige mit jedem Tag. Viele Kollegen seien an ihrer Belastungsgrenze.

Bemerkenswert ist, was die Ärztin über das Krankheitsbild der neuen Covid-Patienten berichtet. Einen Zusammenhang mit der Ausbreitung der Delta-Variante kann sie nur vermuten, weil ihr dazu Labordaten fehlten. Doch sie beobachte eine kürzere Inkubationszeit als im letzten Jahr, Patienten erkrankten schneller schwer. Vor allem aber seien sie deutlich jünger. Noch in der ersten Welle hätte sie kein einziges Kind auf der Station gehabt, nun waren es bereits zwei unter fünf Jahren. Hinzu kämen zahlreiche Erkrankte zwischen 20 und 40 Jahren, viele mit schweren Verläufen.

Sputnik V wirkt – trotzdem Skepsis

Auch dass sich immer wieder Geimpfte infizierten, berichtet die Ärztin. Schwere Fälle seien ihr in dieser Gruppe jedoch noch nicht begegnet. Sputnik V verfehlt seine Wirkung erwiesenermaßen nicht. Dennoch ist die Impfskepsis groß. Warum nur?

Als das Vakzin im Sommer 2020 nach enorm kurzer Entwicklungszeit eine Notfallzulassung erhielt, wurde dies als eine Demonstration nationaler Stärke gefeiert, als ein zweiter "Sputnik-Moment" – in Anspielung an den Start des Sputnik-Satelliten 1957 – , der den Westen verblüffen sollte. Doch schnell wurde klar, dass die Zulassung überstürzt erfolgte. Die eigentlich obligatorische dritte Studienphase wurde nicht abgewartet. Zum Zeitpunkt der Freigabe hatten gerade einmal 20 Menschen beide Dosen des Vakzins erhalten.

Das sorgte für Zweifel in der Bevölkerung, ob der Wirkstoff tatsächlich gut ist und ausreichend auf mögliche Nebenwirkungen überprüft wurde. Bis heute bleiben die offiziellen Stellen wichtige Antworten zu Entwicklung, Überprüfung und Produktion von Sputnik V schuldig. Das bremst auch die Zulassung des Vakzins in der Europäischen Union aus.

Soziale Medien brachten etwas Transparenz

Gleichwohl bewährte sich der Impfstoff in der Praxis. Eine Anfang Februar 2021 in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift "The Lancet" veröffentlichte, wenngleich umstrittene Studie beschied ihm eine hohe Wirksamkeit. Und das, was die Öffentlichkeitsarbeit der Regierung an Transparenz nicht leisten konnte oder wollte, stellten die sozialen Medien her: Geimpfte, die auf Telegram von einer guten Verträglichkeit des Impfstoffs und hohen Antikörper-Konzentrationen berichteten.

Doch ein Unbehagen blieb. Und es wurde noch gefüttert von dem seit Jahren wachsenden tiefen Misstrauen gegen die Regierung. Durch massive Korruption und politische Willkürjustiz gegen Oppositionelle und Journalisten ist in weiten Teilen der Bevölkerung jegliche Glaubwürdigkeit aufgebraucht. Eine Umfrage der Kommunikationsagentur Edelman wies 2019 für Russland das niedrigste Vertrauen in politische Institutionen unter 26 Industrienationen aus. Eine Untersuchung der Moskauer Wirtschaftshochschule HSE aus dem April vergangenen Jahres bestätigte diesen Befund, speziell mit Blick auf Angaben der Regierung zur Corona-Lage.

Moskau erließ Impfzwang für Berufsgruppen

Wegen der Impfmüdigkeit – erst 11,5 Prozent der Bürger haben sich bislang beide Spritzen verabreichen lassen, auch in den Metropolen Moskau und St. Petersburg sind es nicht wesentlich mehr – wird jetzt hitzig über eine Impfpflicht diskutiert. Staatschef Putin lehnte eine solche Maßnahme in der Fragerunde am Mittwoch gleichwohl ab. Unpopuläre Maßnahmen bleiben wie so häufig den lokalen Behörden überlassen, die sich angesichts der dramatischen Lage nicht anders als mit Druck zu helfen wissen.

Die Hauptstadt Moskau reagierte kürzlich mit einem Impfzwang für Angestellte vieler Berufsgruppen. Es gibt außerdem Restaurantverbote für Menschen, die nicht geimpft, genesen oder negativ getestet sind, und eine Beschränkung von Großveranstaltungen auf maximal 1.000 Menschen. Die EM-Fanmeile der Hauptstadt, in der 5.000 Menschen Platz haben, durfte nach einigen Tagen Pause trotzdem wieder öffnen – zumindest für Geimpfte, Getestete und Genesene.

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Offizielle Abschlussparty mit 45.000 Schülern

Auch St. Petersburg verhängte jetzt neue Corona-Beschränkungen, die angesichts der dramatischen Lage jedoch halbherzig wirken: Die größte EM-Fanmeile der Stadt darf statt 5.000 nur noch 3.000 Gäste empfangen. Restaurants müssen nachts vier Stunden lang geschlossen bleiben. Freizeitparks und Ausstellungen haben zu.

Gleichzeitig bevölkern Touristenmassen das Zentrum der früheren Zarenmetropole. Fans der Fußball-EM feiern und grölen ohne Schutzmasken, als hätte es nie eine Pandemie gegeben. Vor wenigen Tagen veranstaltete die Stadtverwaltung im Zentrum eine Party mit 45.000 Schülern, die dicht gedrängt und weitgehend ohne Masken ihren Abschluss feierten. "Mitten in der Epidemie", kommentiert die Redaktion der oppositionellen Zeitung "Nowaja Gaseta" diese Corona-Sorglosigkeit.

Inzwischen hat das laxe Krisenmanagement Konsequenzen über die Landesgrenzen hinaus. Deutschland hat Russland als Virusvariantengebiet eingestuft. Damit gelten nun die strengsten Reiseregeln. Wer zurück in die Bundesrepublik kommt, muss 14 Tage in Quarantäne und kann sich nicht freitesten.

Russlands Nachbar Finnland wiederum sieht sich mit Hunderten Fußballfans konfrontiert, die infiziert von der EM zurückgekehrt sind. Von 4.500 bis 6.000 Anhängern der Nationalmannschaft, die nach St. Petersburg gereist waren, haben sich mindestens 300 mit dem Coronavirus angesteckt.

Angesichts dessen erscheint es unverantwortlich, dass die russischen Veranstalter keine Notwendigkeit für ein verschärftes Hygienekonzept beim letzten Spiel in der Stadt am Freitag sehen. Es bleibe dabei: 50 Prozent der mehr als 60.000 Plätze in der Gazprom-Arena dürften beim Spiel von Spanien gegen die Schweiz besetzt werden. Der Kreml betonte, in der Stadt laufe alles nach den Regeln.

Verwendete Quellen
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