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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Corona-Fallzahlen steigen Schwedens Sorgen vor der verspäteten zweiten Welle
Dank niedriger Infektionszahlen sah sich Schweden zuletzt auf seinem umstrittenen Corona-Sonderweg bestätigt. Doch nun wächst das Unbehagen wieder. Reicht der Appell an die Vernunft der Bürger?
Vor drei Wochen konnte Schweden in der Corona-Krise Positives vermelden. Das Land hatte die niedrigste Rate bei positiv ausfallenden Tests seit Ausbruch der Pandemie erreicht. Gleichzeitig waren die täglich registrierten Fälle auf 150 bis 300 und damit auf das bislang niedrigste Niveau gesunken.
Die Behörden sahen sich in ihrer Strategie bestätigt. Die Zahlen waren für sie der Nachweis dafür, dass der schwedische Sonderweg funktioniert, dass der nahezu vollständige Verzicht auf verpflichtende Maßnahmen das Ausbreitungsrisiko nachhaltig verringert hat.
Inzwischen allerdings ist die Zuversicht neuen Sorgen gewichen. Die Nachbarländer Dänemark und Finnland, die im Kampf gegen das Virus restriktivere Maßnahmen ergriffen hatten, wurden voll von der zweiten Welle erfasst. Die Neuinfektionen in europäischen Ländern wie Spanien oder Frankreich übertreffen sogar noch das Niveau vom Frühjahr. Und auch in Schweden selbst steigen die Zahlen wieder, und die Sorge wächst, dass die zweite Welle das Land doch noch trifft.
"Bewegt sich in die falsche Richtung"
Das veranlasste zuletzt sogar den Staatsepidemiologen Anders Tegnell, warnende Worte an seine Landsleute zu richten. Bei einer Pressekonferenz verwies der 64-Jährige auf den Anstieg in den vergangenen Wochen. Der sei zwar nicht so dramatisch wie in anderen europäischen Ländern, sagte er. "Aber es bewegt sich langsam, aber sicher in die falsche Richtung."
Die Äußerungen überraschen, denn Tegnell ist ein vehementer Verfechter laxerer Corona-Regeln. Er verantwortet auch die Strategie seiner Regierung und ist somit so etwas wie das Gesicht Schwedens in der Pandemie. Nun warnte er seine Landsleute vor einer raschen Zuspitzung der Situation und bat sie, von zu Hause aus zu arbeiten.
Damit stieß Tegnell in die gleiche Richtung wie tags zuvor Premierminister Stefan Löfven. Der Regierungschef bemängelte, dass seine Landsleute zunehmend unvorsichtig würden und die Gesundheits- und Sicherheitsempfehlungen immer häufiger ignorierten. "Die Krise ist noch nicht vorbei, längst noch nicht", sagte er. Löfven bat Arbeitgeber, Heimarbeit zu ermöglichen. Die Bürger rief er auf, Privatfeiern in engen Räumen zu vermeiden und auf Körperkontakte zu verzichten.
Eigenverantwortung statt staatlicher Vorgaben
Bislang fährt Schweden in der Corona-Krise einen eigenen Kurs, der auch im Ausland unter scharfer Beobachtung steht und mitunter heftige Kritik auslöst. Die Regierung hat auf einen Lockdown verzichtet und setzt stattdessen auf die Eigenverantwortung der Bürger. Auch sie empfahl Heimarbeit und rief zur Minimierung sozialer Kontakte und zum Einhalten von Abstandsregeln auf, was die Bürger Beobachtern zufolge zunächst auch in großer Zahl befolgten.
Eine Pflicht zum Tragen von Masken gibt es bis heute nicht. Restaurants, Cafés und Geschäfte blieben wie gewohnt offen. Einzig für Treffen in der Öfffentlichkeit galt eine Beschränkung auf 50 Personen. Die Idee dahinter ist, sich auf eine Verlangsamung der Virus-Ausbreitung zu konzentrieren, da sich der Krankheitserreger ohnehin nicht ausrotten lasse.
Allerdings hatte die Strategie auch ihren Preis. Vor allem in den Anfangsmonaten der Pandemie erlebte Schweden eine hohe Zahl von Todesfällen im Zusammenhang mit Covid-19. Bis heute sind es mehr als 5.800 Verstorbene. Die Pro-Kopf-Totenzahl liegt damit deutlich höher als in anderen nordeuropäischen Ländern. Zum Vergleich: In Deutschland mit rund 8-mal so vielen Einwohnern sind bislang rund 9.500 Todesopfer zu beklagen.
Stockholm sieht sich besser vorbereitet
In Stockholm sorgt man sich nun, möglicherweise gerade am Anfang einer verspäteten zweiten Welle zu stehen. Gleichwohl sieht man sich besser vorbereitet als noch im Frühjahr, als in der Hauptstadtregion zeitweise mehr als 1.000 schwer erkrankte Covid-19-Patienten in den Kliniken behandelt werden mussten. "Das Wissen um Infektion, Symptome und Behandlung ist heute größer", sagte Johan Bratt, Chef der Notfallvorsorge in der Provinz Stockholm, bei einer Pressekonferenz. "Wir sind darauf vorbereitet, die Kapazitäten notfalls wieder zu erhöhen."
Der Chef der regionalen Gesundheitsversorgung, Björn Eriksson, bat dennoch inständig darum, weiter den Empfehlungen der Behörden zu folgen. An die Bürger gerichtet sagte er: "Ich wünsche mir, dass sich jeder für 15 Minuten hinsetzt, zu Hause, am Tisch oder in der Küche, und über die Frage nachdenkt: 'Was können wir gemeinsam tun, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen?'"
- Berichte des schwedischen Portals "The Local" (in englischer Sprache)
- Bericht des "Spiegel"
- Mit Material der Nachrichtenagentur Reuters