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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Zum Tod von Jacques Chirac Er machte Frankreich größer, als es war
Jacques Chirac war überzeugter Europäer und wie selbstverständlich gewohnt, den Ton anzugeben. Anders als sein Widersacher François Mitterrand gestand er Frankreichs Schuld an den Juden-Deportationen ein.
Wenn ich an Jacques Chirac denke, fällt mir zugleich François Mitterrand ein. Die beiden Vollblutpolitiker haben Frankreich jahrzehntelang beherrscht und geprägt. Sie waren zuerst Machtmenschen und dann erst rechts respektive links, wobei sie immer auch anders konnten, so richtig ideologisch festgelegt war keiner von beiden und das machte sie interessant.
Chirac und Mitterrand hassten und achteten sich zugleich. Der hoch aufgeschossene Konservative war ein Produkt der üblichen elitären Ausbildung auf der Kaderschmiede Ena und der französischen Klassengesellschaft. Der kleine, feinsinnige Mitterrand, der auf exemplarische Weise Kälte um sich verbreiten konnte, war der linke Außenseiter, der seinen Wahlsieg 1981 als grandioses Ereignis feierte: "Die Seele Frankreichs lebt in mir," sagte er in einem Interview mit dem "Spiegel". Darauf muss man erst einmal kommen.
Zweimal verlor Chirac gegen Mitterrand, 1981 und 1988. Deshalb galt er als der ewige Verlierer wie Schimon Peres in Israel. Mitterrand machte ihn immerhin 1986 zum Premierminister, eigentlich eine ultimative Demütigung, denn der Regierungschef ist erstens abhängig vom Staatspräsidenten und zweitens in seinen Befugnissen eingeschränkt. Die Notwendigkeit ergab sich, weil die Konservativen im Parlament die Mehrheit erobert hatten.
"Cohabitation" nannte sich dieses Modell: Zusammenwohnen. Na ja, die politische Sprache kann mitunter eine seltsame Sprache sein. Nach zwei Jahren war es damit vorbei.
Erlösende Worte für Frankreichs Verbrechen
Bis zu diesem Zeitpunkt hatte kein Präsident auch nur ein Wort für die Deportation der französischen Juden gefunden. Eigentlich wäre Mitterrand der ideale Mann dafür geworden: mit seinem Sinn für Geschichte und Literatur war er die französische Ausgabe Willy Brandts. Aber im Gegenteil lehnte er jede Mitverantwortung seines Landes für die Verbrechen im Krieg ab.
Es war der Präsident Chirac der am 16. Juli 1995 endlich die erlösenden Worte fand: "Diese Stunden der Finsternis besudeln für immer unsere Geschichte. Sie sind eine Schande für unsere Vergangenheit und unsere Überlieferungen." Große Worte, 50 Jahre nach Kriegsende.
Auf deutsche Verhältnisse übertragen wäre das so, als hätte sich Willy Brandt geweigert, die deutsche Schuld anzuerkennen und statt seiner wäre Helmut Kohl im Warschauer Ghetto auf die Knie gegangen.
Frankreich größer machen, als es war und ist
Erst nach zwei Niederlagen war Chirac, was er unbedingt sein wollte: Präsident mit Pomp und Gloria, wie es die Tradition in Frankreich gebietet. Er war ein überzeugter Europäer, das schon, und wie selbstverständlich gewohnt, den Ton anzugeben. Von den ökonomisch überlegenen Deutschen erwartete er politische Zurückhaltung. Darin unterschieden sich Chirac und Mitterrand, die ewigen Rivalen, eben nicht. Beide verstanden es, Frankreich größer zu machen, als es war und ist.
Gemeinsam mit Gerhard Schröder lehnte der Präsident Chirac den Krieg gegen den Irak ab. Russland vervollständigte das Trio, das mit seiner Kriegs-Skepsis recht behielt – nicht gegenüber den USA, sondern auch gegenüber Großbritannien. Die Konsequenzen aus der verhängnisvollen Irak-Invasion sind in Syrien zu besichtigen. Das war damals eine Sternstunde der beiden wichtigsten europäischen Staaten im Konzert mit Russland, das damals noch nicht so destruktiv war wie heute.
Bis ins Jahr 2007 blieb Chirac Präsident, zweimal gewählt wie Mitterrand, auch eine Genugtuung für ihn. Damit endete allerdings auch seine Immunität für ein paar Vergehen, die er sich als Bürgermeister von Paris geleistet hatte. Wegen der "Veruntreuung öffentlicher Gelder" und "Vertrauensmissbrauchs" verurteilte ihn das Gericht zu zwei Jahren Haft auf Bewährung. Für Frankreich ein ungeheurer Vorgang und ein Zeichen dafür, dass die Zeiten größtmöglicher Freiheit für hochmögende Amtsträger vorbei war.
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Und wiederum eine dieser schweren Demütigungen, aus denen die Biographie Jacques Chiracs besteht. Nun ist er gestorben, 23 Jahre nach François Mitterrand, dem Widersacher, an dem er fast zerbrochen wäre.