Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Präsidentschaftswahl in Russland Er will den Krieg sofort beenden
Boris Nadeschdin möchte bei der Präsidentschaftswahl gegen Wladimir Putin antreten, und er erhält in Russland viel Unterstützung. Aber hat der Oppositionspolitiker wirklich eine Chance?
Es sind Bilder, die bei internationalen Beobachtern für großes Misstrauen sorgen. In Russland bildeten sich in der vergangenen Woche lange Menschenschlangen in vielen größeren Städten. In einem Land, in dem seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine jegliche Kritik am Kreml gewaltsam niedergeschlagen wird, kommen Gegner des russischen Präsidenten Wladimir Putin zusammen. Sie möchten ausgerechnet einen Putin-Konkurrenten unterstützen.
Boris Nadeschdin möchte bei der russischen Präsidentschaftswahl am 17. März gegen Putin antreten, doch dafür benötigte der liberale Oppositionspolitiker zunächst 105.000 Unterschriften, die bis zum 25. Januar bei der Wahlkommission eingereicht werden mussten. Auf seiner Internetseite spricht das Team von Nadeschdin am Samstagmorgen sogar von 200.000 Unterschriften, die erreicht wurden.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Spätestens am 10. Februar wird die Wahlkommission, die in Russland eher als Sprachrohr des Kremls gilt, die Registrierung der Kandidaten bekannt geben. Nedeschdin ist es gelungen, zumindest in Teilen Russlands einen Hype um sich zu erzeugen und im Ausland die Hoffnung zu nähren, dass die Ära Putin vielleicht bei Wahlen ihr Ende finden kann. Aber ist das überhaupt realistisch?
Zumindest spricht vieles dafür, dass Putin seinen Kritiker nicht als Gefahr sieht. Im Gegenteil: Der Kremlchef nutzt Nadeschdin, um Russland eine demokratische Fassade zu geben. Das Ergebnis der Präsidentschaftswahl steht schon fest, aber die Wahl ist vergleichbar mit einem manipuliertem Fußballspiel: Für den Kreml würde es schlecht aussehen, wenn Putin von Anfang an allein auf dem Platz steht.
Bekanntheit durch das Staatsfernsehen
Mittlerweile kann Nadeschdin auf über 30 Jahre in der russischen Politik zurückblicken. Für viele kam es trotzdem überraschend, dass er es überhaupt so weit geschafft hat. Er stand mit Putin in engem Kontakt während dessen erster Amtszeit, ehe dieser nach der Festnahme des Oligarchen Michail Chodorkowski im Jahr 2003 abbrach. Damals festigte Putin seine Macht und begann, rücksichtslos gegen seine Gegner vorzugehen.
Dabei spielte Nadeschdin politisch eigentlich nie eine große Rolle. Er war Mitglied der liberalen Partei Union der Rechten Kräfte und von 1997 bis 1999 Berater von Noris Nemzow. Nemzow war ein in Russland äußerst beliebter Gegner von Putin, der aber 2015 auf einer Brücke in Moskau erschossen wurde.
Nadeschdin war im Jahr 1999 Duma-Abgeordneter. Bei Wahlen danach gelang es ihm jedoch nicht mehr, in das russische Parlament einzuziehen. Seit 2019 ist er Abgeordneter des Stadtrats von Dolgoprudny bei Moskau, befindet sich politisch also eher auf dem Abstellgleis. Er trat in Russland jedoch oft in den politischen Talkshows des Staatsfernsehens auf – als Kritiker des russischen Präsidenten. Dadurch erlangte er Bekanntheit.
Bei der russischen Präsidentschaftswahl möchte er nun für die Partei Bürgerinitiative kandidieren.
"Sie sehen mich nicht als Bedrohung"
Putin verzichtete seit Jahrzehnten darauf, gegen Nadeschdin vorzugehen. Dass er im Staatsfernsehen und in Talkshows auftreten durfte, ist eher ein Zeichen dafür, dass die russische Staatsführung ihn als Kritiker tolerierte. Dort sprach er sich meistens für einen pro-westlichen und wirtschaftsliberalen Kurs aus. Dementsprechend wurde Nadeschdins Kritik bislang sogar vom Kreml gefördert.
Die Kandidatur des 60-Jährigen für die Präsidentschaftswahl 2024 ist vor allem aufgrund einer Sache brisant: Nadeschdin sprach sich für die sofortige Beendigung des Krieges in der Ukraine aus. Ein Wermutstropfen aus westlicher Perspektive: Auch er hat bisher nicht verlangt, dass die von Russland annektierten Gebiete in der Ukraine zurückgegeben werden.
Trotzdem wäre er der einzige Kandidat bei den russischen Präsidentschaftswahlen, der ein Kriegsende fordert und der Kreml wird entscheiden müssen, ob er einen Gegner seiner sogenannten militärischen Spezialoperation antreten lässt.
Warum er bisher nicht ins Visier der russischen Unterdrückungsmaschinerie geraten ist, weiß Nadeschdin nach eigenen Angaben nicht. Doch er äußerte sich dazu auch überraschend ehrlich. "Ich glaube, sie wissen, wer ich bin, und sehen mich offenbar nicht als schreckliche Bedrohung. Aber ich kann nur vermuten", sagte Nadeschdin vergangene Woche im Interview mit der Nachrichtenagentur AFP.
Er ist zwar skeptisch, ob er überhaupt bei der Wahl kandidieren darf, aber als Kenner des politischen Systems in Russland glaubt er auch, dass seine Kritik toleriert wird. "Ich habe die vergangenen zehn Jahre damit verbracht, Putin zu kritisieren."
Forderung nach Ende des Ukraine-Krieges
Das stimmt, aber Kritik am russischen Angriffskrieg in der Ukraine – oder wie er vom Kreml genannt wird "Spezialoperation in der Ukraine" – ist in Russland illegal. Nadeschdin, dessen Name das russische Wort für "Hoffnung" enthält, würde eigenen Angaben zufolge den "katastrophalen" Krieg beenden und "politische Gefangene befreien". Er wolle, dass Russland ein Land ist, "das nicht versucht, sein Territorium mithilfe der Armee zu erweitern", erklärte er der AFP.
Diese Haltung ist durchaus mutig. Es sind eigentlich undenkbare Aussagen in einem Land, wo Menschen wegen ähnlicher Äußerungen gegen den seit fast zwei Jahren andauernden Konflikt inhaftiert werden. Die Warteschlangen zur Unterstützung des 60-Jährigen stehen im Kontrast zu den Darstellungen des Kremls, die russische Gesellschaft stehe voll und ganz hinter der Ukraine-Offensive. Sie boten kritischen Russen eine seltene Chance, ihre Ansichten in der Öffentlichkeit zu äußern.
"Die Menschen haben nicht die Möglichkeit zum friedlichen Protest", meinte Nadeschdin. "Die Menschen verstehen, dass ihr Leben und die Sicherheit ihrer Familien durch das, was Putin tut, bedroht ist." Die Militäroperation bezeichnete er zuvor im Staatsfernsehen schon als sinnlos. "Ich glaube nicht, dass irgendeine Seite einen wirklich entscheidenden militärischen Sieg erringen könnte. Das ist völlig unrealistisch."
"Die Menschen verstehen, dass ihr Leben und die Sicherheit ihrer Familien durch das, was Putin tut, bedroht ist"
Boris Nadeschdin
Putin lässt aber bisher all das zu. Nadeschdin darf diese Thesen in Talkshows der staatlichen Fernsehsender vertreten. Er darf westlichen Nachrichtenagenturen Interviews geben, Stimmen für seine Kandidatur sammeln, und der Kreml lässt ihn über Onlinenetzwerke wie Telegram mit seinen Unterstützern kommunizieren.
Es passt in Putins Spielbuch
All das offenbart eher ein Dilemma für Putin. Wahlen in Russland gelten als manipuliert. In der Vergangenheit gab es immer wieder Vorwürfe des Wahlbetruges gegenüber Putin. Videos zeigten bei vergangenen Wahlen, wie Menschen mehrfach für den Kremlchef abstimmten und mittlerweile sind alle namhaften Oppositionspolitiker aus Russland geflohen oder sie sitzen wie Alexej Nawalny im Gefängnis.
Putin möchte aber zumindest den demokratischen Schein wahren. Wenn er Nadeschdin nun antreten lässt, würde er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Einerseits würde er damit die demokratische Fassade Russlands aufrechterhalten, indem Nadeschdin als Symbol dafür verkauft wird, dass Kritik geäußert werden darf. Andererseits kann er mit einem deutlichen Sieg demonstrieren, dass Nadeschdins Antikriegshaltung in Russland nur von einer kleinen Minderheit geteilt wird.
Dementsprechend könnte Nadeschdin Putin letztlich sogar innenpolitisch stärken, sich für den Kremlchef als nützlicher Kandidat bei einer ohnehin manipulierten Wahl im März erweisen. Für den Kreml ist es trotzdem ein schmaler Grat: Denn Putin wird auch verhindern wollen, dass durch die Kandidatur des Oppositionspolitikers eine Antikriegsbewegung entsteht.
Das wird aber vor allem auch dadurch verhindert, dass es kaum Zeit für einen Wahlkampf in Russland gibt. Anfang Februar stehen die Kandidaten für die Wahl fest, im März wird schon gewählt. Nadeschdin wird zwar von einem breiten Oppositionsbündnis getragen, was in Russland durchaus eine Besonderheit ist, weil die Opposition als schwach und untereinander zerstritten gilt. Doch Chancen auf einen Sieg hat er kaum. Fakt ist: Nadeschdins Kandidatur passt gut in Wladimir Putins Spielbuch der Unterdrückung.
- Mit Material der Nachrichtenagentur afp
- nadezhdin2024.ru: Homepage von Boris Nadeschdin (russisch)
- zeit.de: Großes Interesse für Nadeschdin
- spiegel.de: "Das Land will Frieden, das ist völlig klar"