Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ein Jahr Proteste im Iran "Die Beerdigung sollte um vier Uhr morgens stattfinden"
Jina Mahsa Amini starb vor einem Jahr in Polizeigewahrsam. Die Proteste, die darauf folgten, sind längst nicht vorbei. Auch Aminis Cousin Erfan Mortezaie kämpft gegen das Regime – obwohl ihm ebenfalls der Tod droht.
Verzweiflung, Wut, Trauer – Erfan Mortezaie hat seit dem Tod seiner Cousine Jina Mahsa Amini viele Gefühle durchlebt. Die 22-jährige Kurdin starb am 16. September 2022 in Teheran, nachdem die sogenannte Sittenpolizei sie festgenommen hatte. Der Vorwand: ein falsch sitzendes Kopftuch.
Seither ist im Iran nichts mehr, wie es war. Die Bevölkerung lehnt sich gegen das Mullah-Regime auf, das Gewalt und Tod übers Land bringt. Die Proteste waren zwischenzeitlich so stark wie seit Jahrzehnten nicht. Auch Erfan Mortezaie kämpft von Deutschland aus für ein Leben in Recht und Freiheit im Iran. Die Trauer treibt ihn an, wie er im Gespräch mit t-online erzählt.
t-online: Herr Mortezaie, der Todestag Ihrer Cousine Jina Mahsa Amini jährt sich am 16. September zum ersten Mal. Wie sehr vermissen Sie sie?
Erfan Mortezaie: Jina war ein Sonnenschein, hat viel gelacht. Unsere Familien haben immer viel zusammen unternommen. Wir haben zusammen Hochzeiten und Geburtstage gefeiert. Das fehlt mir sehr. Die Trauer über ihren gewaltsamen Tod hält bis heute an.
Was haben Sie damals gefühlt, als Sie von Jinas Tod erfahren haben?
Hilflosigkeit. Ohnmacht. In dem Moment konnte ich nichts tun. Irgendwann sind diese Gefühle in Wut umgeschlagen. Ich habe mir gesagt: Du musst die Kraft haben, aufzuzeigen, was das Regime Jina angetan hat.
Sie haben sich auch schon vor Jinas Tod dem Regime entgegengesetzt. Sie waren wegen "Mitgliedschaft in Oppositionsgruppen" 18 Monate im Gefängnis. Dann sind Sie in den Nordirak geflohen und haben sich einer iranisch-kurdischen oppositionellen Organisation angeschlossen. Nun leben Sie in Berlin. Warum?
Ich kann derzeit auf keinen Fall in den Iran zurückkehren. Das wäre mein sicheres Todesurteil. Nach Jinas Tod hat mich das islamische Regime in den Staatsmedien zum Anführer der Revolution und damit zum Staatsfeind Nr. 1 ernannt.
Und Sie kämpfen trotzdem weiter?
Ja. Jinas Tod hat im Iran viel verändert. Das Regime beraubt noch mehr Frauen und Männer ihrer Rechte. Die Behörden foltern sie, töten sie. Als meine Cousine gestorben ist, war klar: Wir werden nicht schweigen, wir werden laut sein – für Jina und all die Menschen, die unter dem Druck der Islamischen Republik stehen.
Hat diese Entschlossenheit keine Konsequenzen für Sie und Ihre Familie?
Natürlich. Der Druck besteht seit dem Moment, als Jina starb. Er ist groß und wird immer größer. Jinas Bruder Ashkan muss sich inzwischen zurückhalten, weil es sonst ebenfalls tödlich für ihn enden könnte. Auch ich habe schon viele Anrufe und Drohbriefe bekommen – auch Morddrohungen. Sie haben gesagt, wenn ich den Nordirak verlasse, entführen sie mich und bringen mich in den Iran zurück. Glücklicherweise hat die französische Regierung mich damals aufgenommen und nun kann ich in Deutschland leben.
Gehen Sie trotzdem mit Angst durch den Alltag?
Ich habe keine Angst vor dem Regime. Ich habe keine Angst, dass sie mir etwas antun – denn mein Leben ist nicht weniger oder mehr wert als das Leben der Menschen im Iran. Ich bereue nichts, was ich bislang im Kampf für die Freiheit getan habe. Das hat auch damit zu tun, dass wir als Volk, vor allem als Kurden, es gewohnt sind, mit dem Druck zu leben. Das ist für uns nichts Neues, denn bis 1979 war unser Land eine Monarchie und auch nach der damaligen Revolution gab es Spannungen im Land.
Doch seitdem ist es nie so eskaliert wie im September 2022 nach Jinas Tod. Warum?
Es kam schon vor Jinas Tod zu Protesten und Streiks, aus unterschiedlichen Gründen: Armut, Ölkrise, Arbeitslosigkeit. Auch damals demonstrierten die Menschen schon gegen die Führung. Aber bei keinem dieser Proteste ging es um die gewaltsam herbeigeführten Tötungen durch das Regime und den Druck auf die eigene Bevölkerung. Die Wirkung war beispiellos.
Jina Mahsa Aminis Tod
Das iranische Regime hat nach Aminis Tod behauptet, die Kurdin habe medizinische Probleme gehabt und sei nach einem Herzinfarkt im Krankenhaus behandelt worden. Zuvor war sie wegen des angeblichen Verstoßes gegen die Kleiderordnung in Teheran in Gewahrsam genommen worden. Aminis Familie beschuldigt die Behörden jedoch, die 21-Jährige gewaltsam festgenommen und in Haft gefoltert zu haben. Es soll 1,5 Stunden gedauert haben, bis Amini ins Krankenhaus kam. Die junge Frau soll demnach keine Vorerkrankungen gehabt haben. Sie fiel ins Koma und starb. Mehr zu den Todesumständen lesen Sie hier.
Inwiefern?
Als Jinas Leichnam einen Tag nach ihrer Ermordung in ihre Heimatstadt Saqqez im Westen des Landes gebracht wurde, setzte das Regime meine Familie enorm unter Druck. Die Beerdigung sollte um 4 Uhr morgens stattfinden, damit niemand etwas davon mitbekommt. Das hat aber einen gegenteiligen Effekt erzielt: Die Einwohner haben sich hinter meine Familie gestellt und sind auf die Straßen gegangen. Es ging nicht um Ölpreiserhöhungen oder irgendeinen wirtschaftlichen Engpass, sondern um freiheitliche Grundrechte.
Es ging und geht um die Freiheit, die sie uns nehmen. So entstand die Protestbewegung "Jin, Jiyan, Azadî" ("Frau, Leben, Freiheit"). Wenn die Menschen nicht diese Einheit gezeigt hätten, wäre die Flamme nicht in diesem Ausmaß entfacht. Und je größer nun der Druck ist, desto stärker ist der Zusammenhalt.
Ist das der große Vorteil der Bevölkerung gegenüber dem Regime?
Bildlich gesprochen sitzen wir als Bevölkerung in einer dunklen Gefängniszelle. Wenn der Gefängniswärter, in dem Fall das Regime, die Tür öffnet, sieht er einen dunklen Raum. Der Gefangene jedoch sieht helles Licht, sieht Hoffnung. Das spornt uns täglich an. Aufgeben ist keine Option.
Früher hat es viele Menschen nicht interessiert, wenn das Regime jemanden umgebracht hat. Nun ist die Aufregung viel größer, weil sich auch mehr Menschen aus der unteren und Mittelschicht mit den politischen Ereignissen auseinandersetzen. Dadurch entsteht eine starke Energie zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsschichten.
Was ist das konkrete Ziel der Revolution?
Der Niedergang der Islamischen Republik. Wie lange das dauern wird, kann ich nicht sagen. Eine Revolution braucht Zeit. Ein, zwei oder drei Jahre sind aber keine lange Zeit, wenn am Ende der Erfolg steht. Wenn wir es schaffen, das Regime zu stürzen, wollen wir selbst darüber entscheiden, welche Regierungsform angemessen ist. Unsere Stimme muss zählen. Der Machthaber und seine Anhänger sollen vor dem Internationalen Gerichtshof für all die grausamen Taten zur Rechenschaft gezogen werden.
Und ihr persönliches Ziel?
Eines Tages will ich frei in meinem Land mit meiner Familie leben.
Wie können westliche Staaten, vor allem Deutschland, den Kampf für die Freiheit mit vorantreiben?
Wir erwarten nicht, dass die EU uns als Land befreit. Aber wir erwarten, insbesondere von Deutschland, dass es die Zusammenarbeit mit dem Iran stoppt. Dass die iranische Botschaft geschlossen wird. Dass die Revolutionsgarden (IRGC) auf die EU-Terrorliste kommen. Und auch die Kooperation von deutschen Firmen mit dem Iran muss ein Ende – und Folgen – haben.
Menschenrechte dürfen nicht vor wirtschaftlichen Interessen stehen. Außerdem sollte die EU dafür sorgen, dass wir freien Internetzugang haben, auch während Protesten. Sonst können die Informationen nicht nach außen dringen und international ist die Aufmerksamkeit geringer.
Herr Mortezaie, vielen Dank für das Gespräch.
- Interview mit Erfan Mortezaie am 8. September 2023