Samstag verhandeln die Chefs Von der Leyen und Johnson – Endspiel um den Brexit
Nervenspiel bei den Verhandlungen über ein Handelsabkommen nach dem Brexit: Am Freitag gehen die Parteien erneut ohne Ergebnis auseinander. Nun sollen es am Wochenende die Chefs richten. Ob das gelingt?
Die Verhandlungen der EU mit Großbritannien über ein Handelsabkommen nach dem Brexit stecken in der Sackgasse. Die Verhandlungsführer beider Seiten teilten am Freitagabend mit, sie hätten sich wegen "bedeutender Meinungsverschiedenheiten" auf eine Pause in den Gesprächen verständigt. Um ein Scheitern zu verhindern, sollen nun am Samstagnachmittag der britische Premierminister Boris Johnson und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gemeinsam beraten.
Großbritannien war zum 1. Februar aus der EU ausgetreten. Bis Jahresende bleibt es aber noch im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion. Diese Übergangsphase wollten beide Seiten eigentlich nutzen, um ein Handelsabkommen auszuhandeln. Die Gespräche kommen aber seit Monaten kaum voran. Inzwischen ist die Zeit für eine rechtzeitige Ratifizierung eines möglichen Abkommens bis zum 1. Januar schon äußerst knapp.
"Bedingungen für ein Abkommen nicht gegeben"
EU-Verhandlungsführer Michel Barnier führt seit dem vergangenen Wochenende Gespräche mit seinem britischen Kollegen David Frost in London. "Nach einer Woche intensiver Verhandlungen in London" hätten sich beide Seiten "heute darauf verständigt, dass die Bedingungen für ein Abkommen nicht gegeben sind", teilten Barnier und Frost am Freitagabend in gleichlautenden Erklärungen mit.
Grund seien "bedeutende Meinungsverschiedenheiten" in den Verhandlungen zu fairen Wettbewerbsbedingungen, der Kontrolle eines künftigen Abkommens und der Fangrechte für EU-Fischer in britischen Gewässern, hieß es weiter. Medien in Großbritannien zufolge beklagten sich britische Unterhändler über angebliche neue Forderungen der EU. Damit seien die Gespräche gebremst worden.
Allerdings hatte London zuvor angekündigt, die umstrittenen Klauseln ihres Binnenmarktgesetzes wiederherzustellen, das am Montag ins Unterhaus zurückkehren soll. Der Gesetzentwurf stieß auf heftige Empörung in Brüssel, weil er Teile des bereits abgeschlossenen Austrittsabkommens infrage stellte. Beide Verhandlungsparteien würden nun ihre Vorgesetzten über den Stand informieren, hieß es am Freitag, bevor Johnson und von der Leyen die Lage am Samstagnachmittag besprechen würden.
"Dann haben wir einen No Deal"
EU-Ratspräsident Charles Michel warnte am Freitag vor einem Scheitern der Verhandlungen für den Fall eines Vetos aus den Mitgliedsstaaten. "Die Mitgliedstaaten werden entscheiden müssen, ebenso wie die britische Seite", sagte Michel in Brüssel. "Die Mitgliedstaaten müssen ja oder nein sagen, und wenn eine Seite des Tischs nein sagt, dann haben wir einen No Deal."
Zuletzt hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron erklärt, er werde einem Vertrag nur zustimmen, wenn die langfristigen Interessen seines Landes gewahrt blieben. Europastaatssekretär Clément Beaune sagte dem Radiosender Europe 1 am Freitag: "Sollte es ein Abkommen geben, das nicht gut ist, würden wir uns ihm entgegenstellen." Frankreich werde von seinem Veto Gebrauch machen, falls bestimmte Bedingungen insbesondere beim Thema Fischerei nicht erfüllt seien.
Einige Mitgliedstaaten verdächtigen Deutschland, das derzeit den EU-Vorsitz hat, wegen seiner wichtigen Wirtschaftsbeziehungen zu Großbritannien auf jeden Fall einen Deal durchdrücken zu wollen. Regierungssprecher Steffen Seibert sagte am Vormittag in Berlin, die Bundesregierung wolle ein Abkommen, "aber nicht um jeden Preis".
Verhandlungsmarathon mit Pizza
Im Laufe der Woche hatten britische Medien bereits euphorisch von spätabendlichen Pizza-Lieferungen an die Verhandlungsteams berichtet. Das wurde als Zeichen gedeutet, dass eine Einigung in greifbarer Nähe sein könnte. Mit einem Durchbruch wird nun aber kaum noch vor Montag gerechnet. Sollte es bis dahin nicht zu einer Einigung kommen, droht das britische Binnenmarktgesetz die Verhandlungsatmosphäre empfindlich zu stören.
Mit dem geplanten Gesetz sollen für den Fall eines No Deals Teile des im vergangenen Herbst geschlossenen EU-Austrittsabkommens ausgehebelt werden. Das Oberhaus hatte die umstrittenen Klauseln im vergangenen Monat entfernt, nach Angaben der Regierung sollen sie nun aber wieder eingefügt werden.
Betroffen ist das sogenannte Nordirland-Protokoll, das eine offene Grenze zwischen dem britischen Nordirland und der zur EU gehörenden Republik Irland garantieren soll. Sollten entsprechende Bestimmungen in dem Gesetz angewendet werden, wäre eine Grenze zwischen Nordirland und Irland kaum zu vermeiden. Damit würde eine neuerliche Eskalation der Gewalt in Nordirland wahrscheinlicher werden. Dort standen sich bis zum Abschluss des Karfreitagsabkommens 1998 mehrheitlich katholische Verfechter eines vereinten Irlands und überwiegend protestantische Anhänger der Union mit Großbritannien in einem jahrzehntelangen Bürgerkrieg gegenüber.
- Nachrichtenagenturen AFP, dpa