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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wolfgang Ischinger Deutschland verliert an Einfluss? "Das muss nicht schlecht sein"
Wolfgang Ischinger war Staatssekretär im Auswärtigen Amt sowie deutscher Botschafter in Washington – nun leitet er die Münchner Sicherheitskonferenz. Im Interview spricht der 74-Jährige über den zähen EU-Sondergipfel.
Im Kampf gegen die Corona-Wirtschaftskrise konnten sich die EU-Staaten auf das größte Haushalts- und Finanzpaket ihrer Geschichte einigen. Der Kompromiss wurde nach viertägigen Verhandlungen am frühen Dienstagmorgen bei einem Sondergipfel in Brüssel von den 27 Mitgliedsstaaten angenommen.
Während des Gipfels standen die Staats- und Regierungschefs mächtig unter Druck, aufgrund zu großer Differenzen stand oft das Scheitern der Gespräche im Raum. Die Nerven lagen blank, es wurde gestritten, der französische Präsident Emmanuel Macron soll aus Verzweiflung auf den Tisch gehauen haben.
Wolfgang Ischinger, Chef der Münchner Sicherheitskonferenz, spricht im Interview mit t-online.de über die zähen Verhandlungen und erklärt den Wandel, der auf dem EU-Sondergipfel zu beobachten ist.
t-online.de: Was lief in Brüssel eigentlich schief?
Ischinger: Ich fand den Vorschlag von Macron und Merkel über das 750-Milliarden-Wiederaufbauprogramm großartig. Vermutlich bestand der Fehler darin, dass die beiden daraus eine große Pressekonferenz machten. Es war ja nicht zu überhören, dass relativ viele aus den kleineren Mitgliedsstaaten sagten: Oh je, sie versuchen, uns unter Druck zu setzen, das lassen wir uns nicht gefallen. Die Methode muss man noch mal Revue passieren lassen, um daraus Konsequenzen fürs nächste Mal zu ziehen.
Was wäre die Alternative gewesen?
Sie hätten sich auf das Programm einigen können, aber ohne große Verkündungspressekonferenz. Stattdessen hätten sie allen anderen 25 Staaten einen vertraulichen Brief schreiben können, in dem gestanden hätte: Wir sind der Meinung, so kann es gehen, aber was meint ihr dazu? Der Unterschied wäre gewesen, dass die Kleinen Ideen und Meinungen vorgebracht hätten, vertraulich, ohne Öffentlichkeit. Sie wären gefragt worden. Sie hätten nicht vor vollendeten Tatsachen gestanden.
Die autoritäre Phase der EU, in der Frankreich und Deutschland bestimmen, wo es langgeht, ist vorbei. Das muss kein Nachteil sein.
Für die innere Hygiene, für den inneren Frieden der Europäischen Union muss es gar nicht schlecht sein, das stimmt. Die Kleinen haben den Beweis erbracht, dass sie nicht untergebuttert werden. Sie haben gezeigt, dass es auch auf sie ankommt. Aus Brüssel wollte jeder nach Hause fahren und sagen: Ohne mich ging es nicht.
Mark Rutte machte sich zum Anführer der Kleinen, die sich für mehr Kredite und weniger Zuschüsse einsetzten. Warum er?
Er ist schon länger im Amt, er ist erfahren. Er kann für sich in Anspruch nehmen, dass er nicht anders konnte, weil er in seinem Parlament keine Mehrheit für den ursprünglichen Merkel-Macron-Programm bekommen hätte. Er stand unter Zwang, er hatte keine Bewegungsfreiheit.
Diese Probleme hatte Sebastian Kurz nicht.
Ich will ihm nicht bestreiten, dass er plausible Gründe für sein Verhalten hatte, aber ihm kam es auch auf Profilierung an, in Österreich wie in der EU.
Italien ist das entscheidende Land. Dort ist noch jede Regierung abgewählt worden, die sich ernsthaft an Reformen wagte.
Ich wäre nicht allzu optimistisch, dass nach so vielen Jahren ausgerechnet jetzt vieles so anders wird, dass man von einem Durchbruch sprechen könnte.
Wolfgang Ischinger (74) leitet seit 2008 die Münchner Sicherheitskonferenz, einen Pflichttermin für Staats- und Regierungschefs, Außenminister und Berater aus aller Welt. Zuvor war er Botschafter in den USA und Großbritannien. Ischinger gilt als herausragender Kenner der internationalen Politik – und als überzeugter Europäer.
Eine Trendwende wäre auch ganz schön. Der Alptraum aber wäre die Rückkehr Matteo Salvinis, der permanent gegen Europa hetzt.
Die beste Art, Salvinis Rückkehr zu verhindern, ist die rasche Umsetzung des Programms, sodass Italien bemerkt, dass die EU Teil der Lösung und nicht Teil des Problems ist. Genauso wichtig ist es für Macron, die Rechte um Marine Le Pen auf Abstand zu halten.
Und die deutsche Regierung die AfD?
Es ist ja interessant, dass die AfD von der Krise nicht profitiert. Offensichtlich ist es so, dass in diesen Zeiten vernunftgesteuertes Handeln überzeugt. Der Mainstream gewinnt an Überzeugungskraft.
Deutschland hat diesmal ganz anders als in der Weltfinanzkrise 2008 argumentiert. 750 Milliarden Euro sind eine gewaltige Summe, ursprünglich 500 Milliarden an Zuschüssen ein gigantischer Vorschlag. Eigentlich kein Wunder, dass der Wunsch nach mehr Verbindlichkeit aufkam, nach Garantien, dass die Milliarden nicht einfach versickern. Die vier Sparsamen hatten auch recht.
Ja, sie haben durchaus einen Punkt getroffen. In den quälend langen Verhandlungen ging es ja darum, ob die Milliarden an Reformziele, an eine gewisse Rechnungsprüfung gebunden sein sollen, damit das Geld nicht in Staatshaushalten versickert oder zur Deckung fremder Finanzlöcher verwendet wird. Da haben die vier recht, wenn sie auf Berichtspflicht bestehen, zum Beispiel an das Europäische Parlament oder einen seiner Ausschüsse.
Es gibt ja das griechische Beispiel. Zuerst gab es einen großen Aufschrei wegen der Beschränkung der Souveränität, dann aber erwies sich die Bindung an Reformen als hilfreich, vor allem für Griechenland. Oder denken Sie an die Ukraine: Der Internationale Währungsfonds gab einen Milliardenkredit nach dem anderen, aber immer nur unter Auflagen.
Wer Geld gibt, will wissen, wo es bleibt – das ist verständlich.
So ist es. Und die EU würde großen Schaden nehmen, wenn sich in ein paar Jahren herausstellte, dass die Milliarden, die ja auf dem Kapitalmarkt aufgenommen werden, in einem großen schwarzen Loch verschwunden sind. Das Geld muss für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit, für Reformen eingesetzt werden. Alles andere wäre verhängnisvoll für die Union.
Die Verhandlungen sind eine Zäsur wegen der Dauer und der Summen, wegen der Schärfe der Auseinandersetzungen und der Gegensätze zwischen dem Süden und dem Norden. Man könnte fragen, ob Europa in dieser Zusammensetzung überhaupt eine Zukunft hat.
Eindeutig ja. Was Handel und Wirtschaft anbelangt, ist Europa ein anerkannter Player, weil es dort imstande ist, mit einer Stimme zu sprechen, nämlich mit der Stimme der Kommissionspräsidentin von der Leyen. Dazu hat sie das Mandat. In der gesamten Außen- und Sicherheitspolitik fehlt diese Ausrichtung.
Der Mangel ist bekannt. Wer behebt ihn?
Die Kanzlerin und ihre Außenminister haben sich diverse Male dafür ausgesprochen, dass auch in der Außenpolitik qualifizierte Mehrheitsentscheidungen gelten sollten. Auch Josep Borrell, der EU-Außenbeauftragte, setzt sich jetzt dafür ein. Dafür könnte man schrittweise sorgen. Aber hat die deutsche Regierung etwas dafür unternommen, hat sie den Vorschlag im Europäischen Rat zur Diskussion gestellt? Hat sie nicht.
Deutschland hat Gewicht, die Kanzlerin besitzt Autorität, die Ratspräsidentschaft ist auch so etwas wie ihr Vermächtnis. Warum begnügt sie sich mit dem Status quo?
Na ja, das ist eben auch das Markenzeichen einer auslaufenden Ära. In ihren 15 Jahren Amtszeit musste Angela Merkel von Krise zu Krise eilen. Kaum war sie Kanzlerin, brach die Weltfinanzkrise 2008 aus und erstreckte sich rasch auf Europa. Sie musste beständig Krisen managen und da blieb zwangsläufig wenig Raum für große Ideen.
Emmanuel Macron hat vor drei Jahren ein Füllhorn an Vorschlägen unterbreitet, die in Berlin auf dröhnendes Schweigen stießen.
Leider.
Deutschland hätte sagen können: Prima, lasst uns darüber reden, mal schauen, was die anderen sagen. Was waren die Gründe für die Echolosigkeit?
Ein Grund lag in der Innenpolitik. Die CDU/CSU-Fraktion war damals kritisch gegenüber Frankreich und Europa gestimmt, zumal rechts von ihr die AfD auftauchte. Hätte die Kanzlerin auf die Sorbonne-Rede mit einem enthusiastischen Ja geantwortet, hätte ihr die Fraktion womöglich die Gefolgschaft verweigert. Dieses Risiko ging sie nicht ein.
Und warum rührte sich diesmal kein Widerstand? Der Übergang zur Schuldenunion ist eine echte Zäsur.
Diesmal konnte die Fraktion dem Argument der Kanzlerin, dass es um das nackte Überleben der EU geht, nichts entgegenhalten. In Italien gab es Meinungsumfragen, bei denen herauskam, dass viele Italiener China für einen besseren Freund hielten als die EU. Deshalb ging es um die Demonstration, dass die EU lebt, dass sie sich vielleicht quält, es aber am Ende schafft, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
Wie schauen die Weltmächte eigentlich auf Europa, zum Beispiel jemand in führender Stellung in China?
Die chinesische Einschätzung der Europäischen Union hat sich in den letzten 20, 30 Jahren immer nur verfestigt. Sie besteht darin, dass es mit China aufwärtsgeht und mit Europa nicht. Heute mehr denn je interessiert China, ob es Europa in absehbarer Zeit gelingt, mit einer Stimme eine China-Strategie zu entwickeln, die den Namen verdient. Momentan haben wir eine deutsche China-Politik, die sich auf den Verkauf von Autos konzentriert. Es gibt auch eine französische China-Politik, während andere EU-Länder gar keine haben.
Worauf müsste eine europäische China-Strategie achten?
Die Probleme, die Europa eine Antwort abverlangen, sind etwa Huawei und das G-5-Netz, auch der Umgang mit den Uiguren oder Tibet oder Taiwan oder Hongkong. Es gibt einfach viele Gründe, dass die EU endlich ihren Laden in Ordnung bringt. China hat in den letzten Jahren seine Gangart verschärft und versteht es vorzüglich, einzelne europäische Länder herauszulösen – hier Griechenland, dort Estland. Solange Europa nicht mit einer Stimme spricht, nimmt uns China nicht ernst.
Wie schaut Amerika auf Europa?
Anders als vor Corona. In Amerika hört man jetzt oft: Schaut mal, was die Europäer hinbekommen und wir nicht. Dort verändert sich die Einschätzung, dass die EU aus einer wilden Horde unverantwortlicher Leute besteht, die eigentlich ins Museum gehören, während Amerika die Zukunft gehört. Das führt dazu, dass ein Mann wie Elon Musk eine Fabrik in Brandenburg bauen will, in der EU. Plötzlich werden wir attraktiver.
Aufs Ganze gesehen: Sind Sie nach dem Brüsseler Marathon eher optimistisch oder pessimistisch für Europa?
Ich bin sehr optimistisch, weil die Europäische Union nach anfänglichen Schwächen jetzt doch ihre Resilienz unter Beweis stellt und eine echte Chance hat, aus dieser Krise – anders als andere Mächte – hervorzugehen.