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EU-Abgeordnete Reintke klagt: "Ursula von der Leyen ist ein Bremsklotz"


Europa-Abgeordnete kritisiert
"Von der Leyen ist der Bremsklotz"

InterviewVon Madeleine Janssen

21.04.2020Lesedauer: 6 Min.
Interview
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"Sie duckt sich weg": EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen steht in der Corona-Krise in der Kritik.Vergrößern des Bildes
"Sie duckt sich weg": EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen steht in der Corona-Krise in der Kritik. (Quelle: ZUMA Wire/imago-images-bilder)

Sie beobachtet genau, wie Polen und Ungarn die Corona-Krise ausnutzen: Die Europa-Abgeordnete Terry Reintke fordert endlich mehr Druck auf beide Staaten. Zu Ursula von der Leyen hat sie eine deutliche Meinung.

Auf die Straße gehen und demonstrieren, das geht in den Monaten der Corona-Krise nicht. Deswegen fahren manche Frauen in Polen derzeit mehr Auto. Aus dem Fenster halten sie Fahnen, auf denen steht: "Strajk kobiet" – Frauenstreik. Sie protestieren damit auf kreative Weise gegen die geplante Verschärfung des polnischen Abtreibungsrechts.

Dass die Regierung einen alten Gesetzentwurf mitten in der Corona-Krise wieder aus der Schublade zieht, ist kein Zufall. Der Protest ist überschaubar, die Parlamentsdebatte kaum möglich. In Polen, aber auch in Ungarn nutzen die rechtskonservativen Regierungen die Krise, um demokratische Standards weiter auszuhöhlen.

In Ungarn setzte Ministerpräsident Viktor Orban Ende März mithilfe seiner Parlamentsmehrheit eine Verlängerung der Notstandsgesetze durch. Auf unbestimmte Zeit und ohne eine Begründung, weshalb dies notwendig sei. Die EU-Kommission hält sich zurück und verurteilt die Regierungen beider Länder höchstens in blumigen Worten, ohne die Länder namentlich zu nennen. Die grüne EU-Parlamentarierin Terry Reintke ist davon genervt. EU-Kommissionschefin von der Leyen stellt sie beim Schutz der rechtsstaatlichen Standards Europas ein schlechtes Zeugnis aus.

t-online.de: Die polnische Regierung will die geplanten Präsidentschaftswahlen am 10. Mai unbedingt durchführen ausschließlich als Briefwahl. In der zweiten Runde der bayerischen Kommunalwahl wurde das ebenso gehandhabt. Warum ist das aus Ihrer Sicht in Polen nun problematisch?

Terry Reintke: Briefwahl oder nicht, das ist hier nicht der entscheidende Punkt. Faktisch findet gerade kein Wahlkampf statt. Die Herausforderer des amtierenden Präsidenten Andrzej Duda haben sehr große Schwierigkeiten, sich in Wahlkampfveranstaltungen zu präsentieren – allen digitalen Angeboten zum Trotz. Sie kommen deshalb mit ihren Forderungen in den Medien und bei den Wählerinnen und Wählern kaum vor. Das muss aber im Vorfeld einer demokratischen Wahl gewährleistet sein. Die OSZE, aber auch die Opposition im polnischen Parlament haben da große Bedenken angemeldet.

Das dürfte an der Entscheidung für die Wahl nicht viel ändern.

Ich bin da auch sehr pessimistisch. Auch innerhalb der PiS-Regierung hat es daran Kritik gegeben. Einige hätten die Wahl lieber verschoben.

Präsident Andrzej Duda ist ein enger Vertrauter des PiS-Strippenziehers Kaczynski. Beobachter rechnen Duda zum jetzigen Zeitpunkt bessere Chancen aus als bei einer Wahl erst im Herbst.

Jaroslaw Kaczynski hat sich am Ende durchgesetzt. Ich sehe wenig Hoffnung, dass die Wahl verschoben wird.

Nicht nur die Wahl ist aus rechtsstaatlicher Sicht gerade schwierig. Proteste gibt es auch gegen die geplante Verschärfung des polnischen Abtreibungsrechts. Demnach soll der Schwangerschaftsabbruch selbst bei Föten mit schweren Behinderungen und Krankheiten nicht mehr erlaubt sein. Das ist eigentlich ein altes Thema. Warum kommt es ausgerechnet in der Corona-Krise wieder auf den Tisch?

Dieser Gesetzesentwurf ist bereits 2016 eingebracht worden ...

... daraufhin sind Hunderttausende Polinnen mit schwarzen Regenschirmen auf die Straße gegangen. Die Demonstrationen wurden als "Schwarzer Protest" berühmt.

Dieser Gesetzesentwurf sowie die mögliche Einschränkung von Sexualaufklärung im Schulunterricht unter dem Stichwort "Stoppt Pädophilie!" wurden von der Bürgerinitiative "Stiftung Leben und Familie" eingebracht. Dass das ausgerechnet jetzt wieder hochkommt, ist kein Zufall. Durch die Corona-Maßnahmen kann kein öffentlicher Protest stattfinden. Das ist problematisch. Auch die politische Debatte ist eingeschränkt.

Schon jetzt werden pro Jahr nur ungefähr 1.000 Abtreibungen legal vorgenommen.

Polen hat eines der restriktivsten Abtreibungsrechte innerhalb der EU. Nur drei Indikationen erlauben demnach einen Schwangerschaftsabbruch: die Gefährdung des Lebens der Schwangeren, die Schwangerschaft als Folge einer Vergewaltigung oder eben schwere körperliche Fehlbildungen des Fötus. Letzterer Punkt ist heute Grundlage für 98 Prozent der Schwangerschaftsabbrüche im Land.

Wie geht es jetzt mit der Gesetzesänderung weiter?

Die Regierungsmehrheit im Sejm hat beide Vorschläge in die Ausschüsse des Parlaments geschickt, um eine zweite Lesung vorzubereiten. Wir müssen achtsam bleiben, dass das nicht weiter vorangetrieben wird. Denn die Verschärfung des polnischen Abtreibungsrechts käme de facto einem Abtreibungsverbot gleich. Sexualkunde einzuschränken, wäre ein massiver Eingriff in die Informationsfreiheit junger Menschen.

(Quelle: Cornelis Gollhardt)


Terry Reintke, Jahrgang 1987, sitzt seit 2014 für die Grünen im Europäischen Parlament. Sie arbeitet im Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres und ist Schattenberichterstatterin des Parlaments für Polen.

Die SPD-Politikerin und Vizepräsidentin des Europaparlaments, Katarina Barley, sieht das laufende Artikel-7-Verfahren gegen Polen und Ungarn in einer Sackgasse, solange beide Länder sich gegenseitig stützen. Sie wünscht sich eine Klärung durch den Europäischen Gerichtshof. Was hält die EU-Kommission davon ab, den EuGH anzurufen?

Das Artikel-7-Verfahren ist nicht völlig ohne Konsequenzen. Die Spitze der EU beschäftigt sich dadurch immer wieder mit dem Thema Rechtsstaatlichkeit in Polen und Ungarn. In der Tat ist es aber so: Solange Polen und Ungarn sich da gegenseitig unterstützen, kommt dieses Verfahren niemals zu einem Abschluss. Die Kommission oder einzelne Mitgliedstaaten müssen deshalb andere Instrumente nutzen – etwa den EuGH bei einer Vertragsverletzung anzurufen.

EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen ist jetzt ein Dreivierteljahr im Amt. Welches Zeugnis stellen Sie ihr aus?

Frau von der Leyen ist der Bremsklotz. Ihretwegen ist beim Thema Rechtsstaatlichkeit in den vergangenen Wochen so wenig passiert. Sie versucht immer wieder, Verständnis aufzubringen und Dinge herunterzuspielen. Es mag so sein, dass es auch in anderen Mitgliedstaaten Probleme gibt. Dennoch ist die Situation in Polen und Ungarn dramatisch. Deswegen muss die EU-Kommission handeln. Nicht erst in einem Jahr, sondern jetzt.

Wollen Sie damit sagen, dass Frau von der Leyen sich vor der Verantwortung wegduckt?

Ich würde noch weiter gehen: Sie duckt sich weg, und sie relativiert. Das Argument gegen klare Schritte zu Polen und Ungarn kann doch nicht sein, zu sagen, dass es auch anderswo Probleme mit der Rechtsstaatlichkeit gebe.

Ungarn hat im Kampf gegen die Corona-Krise kürzlich viel Geld von der EU erhalten obwohl es im Land bislang vergleichsweise wenig Infektionen gibt und obwohl die Regierung der EU so auf der Nase herumtanzt. Warum lässt Brüssel sich so vorführen?

Diese Gelder, die jetzt besonders im Kampf gegen die Pandemie eingesetzt werden sollen, waren bereits vorher programmiert. Aktuell wird darüber diskutiert, Fördermittel strenger an Bedingungen wie etwa die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards zu knüpfen. Wir hoffen da im Parlament auf die deutsche Ratspräsidentschaft, die ab 1. Juli beginnt. Unter dem deutschen Vorsitz sollen die Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen abgeschlossen werden. Wir fordern eine Verordnung für den Haushalt, die vorsieht, dass Mitgliedstaaten nur noch selbst EU-Gelder verteilen können, wenn das betreffende Land auch die EU-Verträge einhält.

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Das ungarische Parlament hat Ende März die Notstandsgesetze im Zuge der Corona-Krise auf unbestimmte Zeit verlängert. Was wollen Sie jetzt noch dagegen tun?

Das Beispiel Ungarn hat gezeigt, dass das, was die EU-Kommission bisher geleistet hat, nicht ausreicht. Wir müssen im Zweifel aus Sicht des EU-Parlaments ein weiteres Artikel-7-Verfahren anstreben. Am Ende ist es aber ein politisches Problem. Die Konservativen im Europaparlament müssen sich endlich bewegen.

Wie meinen Sie das?

Die ungarische Fidesz-Partei von Viktor Orban ist bis heute Mitglied in der konservativen Parteienfamilie EVP. Die müssen rausgeschmissen werden. Damit würde Orban das Deckmäntelchen genommen, unter dem er immer noch tut, als sei er ein guter Demokrat, während er zu Hause antidemokratische Schritte durchsetzt. Wir hoffen, dass die deutsche Union, die sich dazu bisher nicht positioniert hat, den Ausschluss der Fidesz ebenfalls fordert.

Die Debatte über den Ausschluss ist nicht neu. Trotzdem will der EVP-Vorsitzende Donald Tusk erst im Herbst darüber entscheiden lassen. Was soll dieser Eiertanz?

Ich habe wirklich jede Geduld verloren. Ich bin seit 2014 im Europäischen Parlament, ich mache seit gut zehn Jahren auf europäischer Ebene Politik. Seitdem Viktor Orban in dieses Amt gewählt worden ist, gibt es diese Debatte. Seitdem wird immer klarer, dass Orban aus autoritären Beweggründen heraus Gesetzesvorschläge macht. Und trotzdem hält die EVP noch immer die Hand darüber. Das kann nicht mehr sein. Auch auf die Union muss der politische Druck jetzt wachsen. Wenn die sich als große Mitgliedspartei nicht bewegen, wird sich innerhalb der EVP auch nichts ändern. Wir können nicht bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag warten, wenn in Ungarn Journalisten wegen ihrer Arbeit ins Gefängnis kommen oder Menschen wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden.

Frau Reintke, wir danken Ihnen für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefonat am 20. April 2020
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