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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Brexit-Talk bei "Anne Will" Röttgen: "Ihr versucht, das Volk für dumm zu verkaufen"
In London ist der Teufel los. Dem britischen Premierminister werde alles zugetraut, meint Norbert Röttgen. Er wirft Johnson vor, das Volk für dumm zu verkaufen. Ein anderer Gast meint: Der erste Mann im Staate ist jemand ganz anderes.
Die Gäste
- Norbert Röttgen (CDU), Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses des Deutschen Bundestages
- Greg Hands, Tory-Abgeordneter und ehemaliger Staatssekretär im britischen Außenhandelsministerium
- Irina von Wiese, Mitglied des Europäischen Parlaments, Abgeordnete der Liberal Democrats
- Rolf-Dieter Krause, ehemaliger Leiter des ARD-Studios Brüssel
- Tanja Bueltmann, die deutsche Historikerin lebt in England
Die Positionen
"Wird das womöglich die kürzeste Amtszeit eines Premierministers?", fragte Anne Will nach einer chaotischen Woche, in der Boris Johnson wiederholt im Machtkampf mit dem Parlament unterlegen war. Greg Hands bekam an diesem Abend das erste Wort, war aber ansonsten als Johnson-Mitstreiter allein auf weiter Flur. Das sorgte für eine wieder einmal unausgewogene Runde. Denn Gründe gegen einen Brexit dürften in Deutschland bekannter sein als vermeintlich gute Argumente für einen, womöglich sogar chaotischen, Austritt aus der EU.
"Ich bin tief über die Lage des Landes besorgt und über die Lage des Parlaments", war dann doch ein überraschendes Eingeständnis des Tory-Politikers. Ansonsten aber betonte er ein ums andere Mal: Der Brexit wurde demokratisch in einem Referendum beschlossen und Johnson ist der legitime britische Premierminister. Hands forderte Brüssel auf, den Regierungschef nicht länger zu "demütigen" und einen neuen Deal zu verhandeln.
"Johnson hat eindeutig ausgespielt", meinte hingegen dessen politische Gegnerin Irina von Wiese. Der Rauswurf von 21 moderaten Abgeordneten werde den Premier den Job kosten, zeigte sich die deutsch-britische Juristin überzeugt. In einem aber pflichtete sie Hands bei. "Für mich ist das wirklich ganz ganz gefährlich, was hier gerade passiert", mahnte von Wiese. Denn sie traut Johnson zu, das am Freitag vom Oberhaus gebilligte Gesetz zur Verhinderung eines ungeregelten EU-Austritts schlicht zu ignorieren, also Rechtsbruch zu begehen.
Ex-Brüssel-Korrespondent Rolf-Dieter Krause hält seinen ehemaligen Kollegen Johnson (ehemals Journalist beim "Telegraph") für ein Phänomen, wenn auch ein erschreckendes: "Es ist ja das Interessante, dass er so weit gekommen ist. Er ist ja ein notorischer Lügner."
Der Aufreger des Abends
"Anne Will" braucht dringend einen neuen deutschsprachigen Brexit-Befürworter. Hands war an diesem Abend argumentativ zwar allein auf weiter Flur. Dafür dürfte sich der Mitstreiter des britischen Premierministers Boris Johnson im "Anne Will"-Studio rundum heimisch fühlen. In diesem Jahr war es bereits sein dritter Besuch. Bei der Sendung am 20. Januar (die andere war am 7. April) scheint Hands sogar dieselbe "Grün ist die Hoffnung"-Krawatte getragen zu haben wie jetzt.
Ganz im Sinne des munteren Gäste-Recyclings war im Januar auch schon Norbert Röttgen mit dabei. Beide Politiker duzen sich. Trotzdem gerieten sie am Sonntagabend leidenschaftlich aneinander. Hands hatte die von Johnson verordnete Zwangspause für das Parlament wiederholt als ganz normalen Verwaltungsvorgang nach Amtsantritt eines neuen Premiers dargestellt. Da wurde Röttgen geradezu wütend. "Ihr versucht, das Volk für dumm zu verkaufen. Kein Mensch glaubt diese Erklärung!", rief der CDU-Politiker unter dem Applaus des Publikums. Seine Prognose: "Wenn der 31. Oktober vorüber ist, werden wir sehr bald Neuwahlen sehen. Wer dann Premierminister ist, das ist offen."
Das Zitat des Abends
Hands warnte davor, Johnson zu unterschätzen. Nach Ansicht von Röttgen trifft bedauerlicherweise eher das Gegenteil zu. "Der Punkt ist, dass eigentlich alle ihm alles zutrauen", lautete sein verheerendes Fazit über den britischen Premier. Der habe mit der Suspendierung des Parlaments die gespaltene Opposition geeint. "Er sitzt total in der Falle", urteilte Röttgen. Johnson könne nun entweder das Gesetz brechen und eine Anklage riskieren oder aber zurücktreten und in einem Wahlkampf neu um das Amt kämpfen.
Röttgen warf Johnsons Berater Dominic Cummings vor, für Parlamentarier nur Verachtung übrig zu haben, Hass zu säen und der Demokratie im Vereinigten Königreich riesigen Schaden zuzufügen. Ähnlich sah das Tanja Bueltmann, Professorin an der Northumbria Universität in Newcastle. "Cummings ist meiner Ansicht nach der erste Mann im Land. Das sind seine Methoden", meinte die Historikerin mit Blick auf das Hetzen gegen immer neue Feindbilder. Sie zog nach drei Jahren Brexit-Querelen den Schluss: "Es ist eine Katastrophe. Die Menschen können nicht mehr."
Der Faktencheck
Wer ist Dominic Cummings? Beobachter sind sich in ihrem Urteil einig. "Johnsons 'böser Geist'", wird er in der "Tagesschau" genannt. Die "New York Times" spricht vom "Rasputin" in der Downing Street. So, wie Johnsons politischer Erfolg gern mit jenem Donald Trumps verglichen wird, passt es ins Bild, dass beide Männer bei ihrem Aufstieg zum Regierungschef von einem mächtigen Chefberater mit populistischer, anti-Politikbetrieb-Agenda begleitet wurden. Beim US-Präsidenten war es Steve Bannon, beim Brexit bereitete Cummings "Leave"-Kampagne seinem späteren Chef den Boden.
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Lange wurde Cummings selbst von Gegnern widerwillig als strategischer Meister gefeiert. In den vergangenen Tagen aber wächst auch innerhalb der konservativen Partei der Widerstand. Gerade forderte der ehemalige Premierminister John Major seinen Nachfolger auf, Cummings zu entlassen. Angeblich kommen selbst Johnson allmählich Zweifel, ob die kompromisslose Strategie seines Beraters zu weit führt. "Es herrscht absolutes Chaos und Dominic liebt Chaos", sagte ein ehemaliger Kollege aus dem Bildungsministerium über Cummings.
- Reuters-Bericht zu John Major (engl.)