Presseschau zu von der Leyen "Der Ärger ist berechtigt, er ist aber auch naiv"
Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen soll den Job als EU-Kommissionschefin übernehmen. Eine starke Wahl, urteilt die europäische Presse – und eine, die Probleme machen wird.
Der Personalpoker um die Spitzenposten in der EU ist vorerst beendet. Überraschend haben sich die europäischen Staats- und Regierungschefs auf die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen als Kommissionschefin geeinigt. Doch im EU-Parlament könnte der Kompromiss ein jähes Ende finden, glaubt auch die europäische Presse in ihren Kommentaren zur Von-der-Leyen-Personalie – und findet dennoch Gefallen an dem Deal.
De Standard (Brüssel): "Keiner der Spitzenkandidaten, die von ihren Parteien als europäische Gallionsfiguren aufgestellt wurden, überlebte das zynische Kräftemessen, das die Verteilung der Spitzenjobs in Europa darstellt. (...) Stattdessen kam in der letzten Minute die Ersatzspielerin von Angela Merkel, Ursula von der Leyen, von der Bank. Es wirkte wie eine schlechte Imitation eines Agatha-Christie-Thrillers, in dem sich auf der letzten Seite eine bisher unbekannte böse Zwillingsschwester als Täter erweist. Deutsch, christdemokratisch, merkeltreu und weiblich waren ihre entscheidenden Trümpfe."
Berliner Morgenpost: "Aussichtslos sah es für die Kanzlerin aus. Ein Deutscher an der Spitze der Kommission schien unerreichbar. Jetzt wird es eine Deutsche. Nach Angela Merkel als erste Bundeskanzlerin Deutschlands soll jetzt Ursula von der Leyen als erste Präsidentin der EU-Kommission Geschichte schreiben. Wenn das Europäische Parlament zustimmt, ist ein Scoop gelungen. Ein Scoop, der hoffen lässt, dass Europa weiter auf dem Weg der Einigkeit ist und die destruktiven Kräfte kontrolliert werden können. Europa wird weiblicher und deutscher. Das ist gut so."
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Westfälische Nachrichten (Münster): "Da staunt der Laie, und der Fachmann wundert sich. Der Poker um die Spitzenjobs in Europa treibt seltsame Blüten. Ursula von der Leyen hatte in Brüssel kaum jemand auf dem Zettel. Plötzlich steht die Bundesverteidigungsministerin ganz oben auf der Liste der möglichen Nachfolger für Jean-Claude Juncker. Es ist die überraschende Wende in einem fast schon zur Groteske ausgearteten Gerangel um das Amt des EU-Kommissionspräsidenten. ... Problematisch bleibt der Umgang mit Manfred Weber, der als Spitzenkandidat der EVP in die Europawahlen gezogen ist. Der CSU-Mann wird auf offener Bühne der Früchte seiner Arbeit beraubt. Auch der Sozialdemokrat Frans Timmermans ist auf dem seifigen Brüsseler Parkett gestrauchelt. So wird das Demokratie-Prinzip ad absurdum geführt."
Spiegel-Online (Hamburg): "Im Grunde ist es ein Schachzug ganz nach Merkels Geschmack: Der mächtigste Posten in Brüssel geht nach 52 Jahren wieder an die Deutschen und erstmals an eine Frau. Und die Verteidigungsministerin, daheim im ständigen Feuer wegen eines Untersuchungsausschusses zu dubiosen Beraterverträgen, wegen Rechtsextremisten in der Truppe und finanzieller Engpässe, hat eine Fluchttür entdeckt. Die Treppe dahinter führt nach oben. Der Deal ist nicht ohne Risiko. Der Koalitionspartner SPD ist not amused. (…) Die Abgeordneten nehmen den Regierungschefs übel, dass sie sich nicht an das Prinzip gehalten haben, nur Spitzenkandidaten für den Posten vorzuschlagen. Der Ärger ist berechtigt, er ist aber auch naiv: Hätte das Prinzip gegolten, hätten wir heute Morgen keine Nominierung."
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Flensburger Tageblatt: "Von der Leyen kann Regierungserfahrung vorweisen und hat in der Nato ihre Solidarität mit den Osteuropäern unter Beweis gestellt. Sie ist in Brüssel aufgewachsen und kennt als überzeugte Europäerin seit Langem die Befindlichkeiten der anderen, vor allem der Kleineren. Sie ist zwar eine Konservative, aber gesellschaftspolitisch eher modern, was ihr als Familienministerin erheblichen Ärger eintrug. Es ist nicht abwegig zu sagen: Ursula von der Leyen wäre die geborene EU-Kommissionschefin, trüge sie nicht die Abnutzungsspuren einer langen Karriere. Das aber ist für Brüssel nicht neu."
de Volkskrant (Amsterdam): "Die größte Verliererin ist Bundeskanzlerin Angela Merkel. Zwar soll ihre Parteifreundin Ursula von der Leyen Kommissionspräsidentin werden, die erste Deutsche auf diesem Posten in 52 Jahren. Aber es war nicht ihre Wahl. Von der Leyen ist für Merkel eine bittere Pille, ein "Geschenkchen" von Macron, der ihren Namen ins Spiel brachte. Von der Leyen stößt bei Merkels Koalitionspartner SPD auf heftigen Widerstand, weshalb sie sich am Dienstag bei der Abstimmung der EU-Regierungschefs als Einzige enthalten musste."
Badische Zeitung (Freiburg): "Ursula von der Leyen ist zweifellos eine fähige Politikerin. Als Verteidigungsministerin hat sie sich aber aufgerieben, wie das vor ihr schon einigen Chefs dieses Ressorts ergangen ist. Der Wechsel nach Brüssel eröffnet der erfahrenen Pro-Europäerin eine neue Perspektive. Die Kanzlerin aber gewinnt Spielraum für eine Kabinettsumbildung. Inwieweit die schon Teil ihrer persönlichen Nachfolgeregelung werden wird, dürfte daran ablesbar sein, ob Annegret Kramp-Karrenbauer Ministerin wird. Der Nachfolgerin Merkels im CDU-Vorsitz täte ein Amt zum Nachweis der Kanzlerinnen-Reife wohl gut. Kein Wunder, dass die SPD schäumt. Mal sehen, ob Merkels Rechnung aufgeht."
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t-online.de: "Bundeskanzlerin Angela Merkel hat im Hintergrund – vielleicht zum letzten Mal – die Fäden gezogen. Von der Leyen soll Kommissionspräsidentin werden, die Merkel-Vertraute Christine Lagarde an die Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB) rücken und selbst Weber darf sich noch Hoffnungen machen, dass er den zweiten Teil der fünfjährigen Präsidentschaft im Europäischen Parlament übernehmen darf. Eine überraschende Wende, nachdem Merkel ihren Einfluss zuletzt eingebüßt zu haben schien. Auch die Zurückhaltung Merkels im Europa-Wahlkampf erscheint nun in einem neuen Licht."
Neue Osnabrücker Zeitung: "Schön, dass erstmals eine Frau auf dem Chefsessel der EU-Kommission Platz nehmen soll. Das ist aber auch schon das Positivste, das sich über den Coup sagen lässt. Die Tatsache, dass Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen Jean-Claude Juncker beerben soll und nicht jemand, der sich bei der Europawahl behauptet hat, sendet ein fatales Signal. Die EU-Lenker entsorgen ohne Not das Spitzenkandidatenprinzip, das doch erst mit für eine steigende Wahlbeteiligung gesorgt hatte. Die neben den Christdemokraten drei größten Fraktionen im EU-Parlament, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne, könnten nun die ausbaldowerte Personalie einfach nicht abnicken. Damit gingen sie das Risiko einer handfesten Krise zwischen Rat und Parlament ein. Verständlich wäre es aber."
Südkurier (Konstanz): "In letzter Minute zaubern Europas Staats- und Regierungschefs im Streit um das Spitzenpersonal doch noch eine Lösung aus dem Ärmel. Und was für eine: Mit Ursula von der Leyen als Nachfolgerin für Jean-Claude Juncker war nun wahrlich nicht zu rechnen. Ihre Nominierung erlaubt es allen, ihr Gesicht zu wahren. Frankreichs Staatspräsident Macron kann CSU-Mann Weber verhindern und erhält eine Kommissionspräsidentin mit Regierungserfahrung. Die Kanzlerin kann in Brüssel eine Deutsche auf den Spitzenposten schieben, zudem eine Parteifreundin, der sie vertraut. Eleganter könnte die Lösung kaum sein. Der Haken ist nur, dass sie mit Demokratie nichts zu tun hat. Im Europawahlkampf warben die Parteien mit völlig anderen Namen und Gesichtern um das Vertrauen der Wähler. Die müssen jetzt ernüchtert zur Kenntnis nehmen, dass ihre Stimme nichts zählt. So schafft man Europaverdrossenheit. Die neue Kommissionschefin hat einen schweren Weg vor sich."
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Leipziger Volkszeitung: "Angela Merkel, maulten Missgünstige, sei in der EU isoliert. Deswegen könne sie, logisch, auch beim Ringen um die Brüsseler Posten nichts durchsetzen. In Wirklichkeit hat die Kanzlerin nun einen Riesenerfolg errungen. Ihre langjährige Vertraute Ursula von der Leyen soll die EU-Kommission führen. Zum ersten Mal seit den 50er-Jahren kommt Deutschland in Brüssel zum Zug."
- Nachrichtenagenturen dpa, AFP