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Großbritannien vor dem Brexit: Ganz nah am Abgrund


Großbritannien vor dem Brexit
Ganz nah am Abgrund

MeinungEine Kolumne von Gerhard Spörl

04.03.2019Lesedauer: 5 Min.
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Premierministerin Theresa May kämpft um ihr Brexit-Abkommen mit der EU: In den nächsten zwei Wochen entscheidet sich, ob Großbritannien mit oder ohne Abkommen aus der EU ausscheidet.Vergrößern des Bildes
Premierministerin Theresa May kämpft um ihr Brexit-Abkommen mit der EU: In den nächsten zwei Wochen entscheidet sich, ob Großbritannien mit oder ohne Abkommen aus der EU ausscheidet. (Quelle: ap)

Die Zeit im Brexit-Chaos läuft ab.

Am 29. März will Großbritannien die Europäische Union verlassen. Bis dahin wird die Entscheidung das Land noch stärker zerreißen, noch tiefer spalten. Auch der Tag der Abspaltung wird keinen Frieden bringen, im Gegenteil. Diejenigen, die lieber in der EU geblieben wären, werden sagen: Seht ihr, wir haben es euch gesagt, die Folgen gehen tief, wirtschaftlich geht es uns schlechter, die Krise ist nicht vorbei, sie hat sich verschärft und es wird noch schlimmer werden und nicht besser. Und diejenigen, die mit biblischem Eifer am Brexit hängen, werden sagen: Wartet nur ab, nach dem Tief tritt das Hoch ein und unser Land wird erblühen, anstatt sich diesem Moloch in Brüssel zu unterwerfen.

Es ist fast schon egal, wer von beiden recht haben wird, die Leavers oder die Remainers. Jede der beiden kann leicht Gründe finden, die ihre These bestärken, so oder so. Die Wirkung ist das Problem. England teilt sich in zwei Stämme, die einander feindselig gegenüberstehen wie die Republikaner und die Demokraten in Amerika. Sie legen Kriegsbemalung an und führen Kriegstänze auf. Sie belegen den jeweils anderen Stamm mit Flüchen und rufen gegen ihn die Götter zu Hilfe. Sie fuchteln mit ihren Speeren und schreien sich markerschütternd an. Ganz toll, sehr atavistisch.

Großbritannien als Vorbild

Dabei ist Großbritannien das Mutterland der Demokratie, das sich historisch, vielleicht sogar bedingt durch die Insellage, autonom vom Festland entwickelte. Die Bürgerkriege brachte das Land schon im 17. Jahrhundert hinter sich, als Oliver Cromwell den König Karl I. hinrichten ließ, das war 1649. Cromwell musste den Frevel sogar posthum büßen. Er starb 1658, seine Leiche wurde jedoch 1661 ausgegraben und sein Kopf an einer Stange gegenüber von Westminster Hall, dem Sitz des Parlamentes, aufgespießt und zur Belustigung oder dem Erschrecken, je nach Gemüt, dem gemeinen Volk vorgeführt.

Dann kam die Glorreiche Revolution 1688/9, die darin endete, dass ein Holländer auf den Thron berufen wurde, der sich fortan Wilhelm III. nannte, und die Bill of Rights hinnahm, die seine Machtbefugnis gegenüber dem Parlament einschränkte. Vorbei war es mit den ewigen Bürgerkriegen und mit dem Absolutismus und zwar genau 100 Jahre, bevor die Französische Revolution ausbrach, die Gleiches wollte, aber nicht erreichte. Und der deutsche Kaiser hielt bis 1918 an seiner Gottesunmittelbarkeit fest und das deutsche Parlament kam erst durch den verlorenen Krieg zu seinem extrem verspäteten Recht.

Großbritannien kann uns durchaus als Vorbild dienen. Ging immer eigene Wege und oft genug voran. Hatte Churchill, der Hitler durchschaute und widerstand. Gehörte zu den großzügigen Siegern nach dem Zweiten Weltkrieg und entließ seine Kolonie Indien freiwillig in die Unabhängigkeit. Das ist schon was, das kann man bewundern, wenn man will.

Clowns und Intrigen

Um einen Rest an Größe zu simulieren, bestand Großbritannien in den letzten Jahrzehnten auf seiner Sonderbeziehung zu Amerika, das ja auch mal eine Kolonie gewesen war, bis 1776. So machte es sich größer, als es war, und so nahm es eben auch am Irakkrieg teil, unter gefälschten Begründungen und mit verhängnisvollen Folgen für den Nahen Osten. Nichts Großes blieb Großbritannien als die Londoner City, das Finanzzentrum der Welt und der Inbegriff der Globalisierung mit ihren Finanz- und Warenströmen rund um den Erdball.

Der Brexit will Rückzug aus dieser Welt auf das Eigene. Wie Donald Trump aus internationalen Verträgen und Verpflichtungen aussteigt, steigt Großbritannien aus der Europäischen Union aus. Amerika kann sich Irrsinn leisten, sicherlich nicht auf Dauer, aber zumindest vorübergehend. Amerika ist militärisch mächtig und ökonomisch stark. Die britischen Kernwaffen sind veraltet und ökonomisch ist das Land seit der Finanzkrise 2008 geschwächt.


Großbritannien kann sich den Brexit eigentlich nicht leisten, will ihn aber trotzdem. Mag sein, dass dieses Referendum im Jahr 2016 verdammt knapp ausgegangen ist, aber Mehrheit ist Mehrheit und Abstimmung ist Abstimmung und Niederlage bleibt Niederlage. Das Mutterland der Demokratie muss die Demokratie zwangsläufig achten und ihre Urteile hinnehmen. Nimmt es auch. Und damit hat es sich.

In dieser Woche steht wiederum eine Abstimmung im Parlament an und Theresa May wird sie wiederum verlieren. Die Clowns um Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg werden sich wiederum über sie lustig machen und sie lüstern zum Rücktritt auffordern. Die Labour Party wird wiederum ein Trauerspiel hinlegen und nicht etwa die Abstimmung freigeben. Hätten die Abgeordneten freie Hand, könnten sie ja für den organisierten Abschied von Europa votieren und Theresa May helfen. Stattdessen sollen sie, geht es nach dem schlaumeierischen Parteichef Jeremy Corbyn, für ein zweites Referendum eintreten, das ganz sicher keine Mehrheit bekommt. So macht man sich einen weißen Fuß, der keiner ist.

Alle belauern sich gegenseitig

Ein Trauerspiel, das man, wie ich, mit einer Mischung aus Wut und Fassungslosigkeit erträgt. Eine Komödie, weil so viele Spielertypen und Unernste eine wichtige Rolle einnehmen. Ein persönliches Drama, weil Theresa May unbeirrt durchzusetzen versucht, wovon sie innerlich nicht überzeugt ist, denn anfangs war sie gegen den Brexit, bevor sie für ihn sein musste, weil sie Premierministerin geworden war.

Alle belauern sich gegenseitig. Die Konservativen belauern die anderen Konservativen. Theresa May belauert Boris Johnson und Boris Johnson belauert Theresa May. Teile der Labour Party belauern die anderen Teile der Labour Party und die Gesamtpartei belauert die Konservativen. Jeder intrigiert gegen jeden, jeder spricht jedem die Ehre und den Ernst und die Kompetenz ab, jeder versucht jeden gegen jeden anderen auszuspielen.

Nur eines haben sie versäumt und das verstößt gegen das Grundgesetz der Demokratie: Sie haben nicht miteinander geredet. Wer nicht miteinander redet, kann auch keine Kompromisse erzielen, weiß nicht, wie weit die anderen gehen würden und so verkriechen sie sich in ihre Hütten und fluchen übereinander und erklären sich wechselseitig für verantwortungslose Schwachköpfe.

Rache der Demokratie

Wie geht’s jetzt weiter? Vieles ist möglich. Theresa May hat einen Vertrag mit der EU über den Abschied geschlossen, der sich ab dem 29. März in Raten vollziehen soll. Darüber wird das Unterhaus spätestens am 12. März abstimmen. Bekommt die Premierministerin keine Mehrheit, will sie tags darauf einen Antrag auf Verschiebung des Austritts stellen. Scheitert sie auch damit an den Mehrheitsverhältnissen, steht ein Brexit ohne Vertrag bevor.


Egal wie es weitergeht, Großbritannien bleibt geteilt in zwei Stämme und das ist das trostlose Ergebnis eines Referendums, das keiner richtig ernst nahm. So rächt sich die Demokratie an ihren unernsten Demokraten.

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