Europäische Union Die härtesten Stunden der Angela Merkel - eine Chronik
Alle gegen Merkel - es sind die vielleicht härtesten Stunden für die Kanzlerin. Der zweitägige Verhandlungsmarathon beim Brüsseler EU-Gipfel ist noch nicht zu Ende, da wirft ihr die Opposition bereits vor, eingeknickt zu sein. Die ersten sprechen von einer Niederlage gegen Italiens Regierungschef Mario Monti - das "Ja" für Fiskalpakt und Rettungsschirm in Bundestag und Bundesrat wackelt plötzlich wieder.
Auch aus den eigenen Reihen werden Kritik und Häme laut. Dann kommt die Kanzlerin nach Berlin zurück. Sie muss sich und die Beschlüsse verteidigen. Bis kurz vor Mitternacht wird abgestimmt. Wir dokumentieren den Ablauf eines denkwürdigen Tages, Freitag, der 19. Juni 2012.
00.01 Uhr: In Brüssel ist die Geisterstunde angebrochen. Kanzlerin Angela Merkel sitzt zusammen mit den anderen Staats- und Regierungschefs im achten Stock des Brüsseler Ratsgebäudes. Immer noch, muss man sagen: Am Donnerstagmittag war die CDU-Vorsitzende in Brüssel aufgeschlagen, hatte ein Treffen der Europäischen Volkspartei (EVP) besucht und war dann ein paar Hundert Meter weitergefahren, um sich dem EU-Gipfel zu widmen.
00.30 Uhr: Die EU-Spitzen sitzen immer noch zusammen und sprechen über die Zukunft der Währungsunion. Nebenan feilschen die Sherpas, so werden die Mitarbeiter genannt, erbittert über Rettungsmaßnahmen für Spanien und Italien. Die Niederlage der Fußball-Nationalmannschaft hat Merkel wohl nicht gesehen. Keine Zeit.
00.55 Uhr: Die erste Limousine braust von einer Polizeieskorte begleitet vom Hof. Mehr und mehr Politiker verlassen das Ratsgebäude - allerdings gehören sie alle Staaten an, die den Euro nicht als Währung haben. Die Kanzlerin beginnt mit ihren Kollegen der Euro-Länder die entscheidende Verhandlungsrunde über Sofortmaßnahmen für Spanien und Italien.
1.00 Uhr: EU-Ratspräsident Herman Van Rompuy entscheidet, dass die Euro-Länder die Nacht durchverhandeln.
1.30 Uhr: Hollande hat seine Pressekonferenz beendet. Er lässt durchblicken, dass Rom und Madrid ihre Zustimmung zum Wachstumspakt vom Einlenken Merkels zu Zinserleichterungen abhängig machen. Er wisse nicht, ob "Erpressung" das passende Wort sei. Er habe Verständnis für die Sorgen von Spaniern und Italienern, es müssten rasch Lösungen gefunden werden.
3.35 Uhr: Aus Delegationskreisen verlautet, dass für Spanien direkte Bankenhilfe ermöglicht wird.
4.45 Uhr: Hollande verkündet beim Verlassen des Justus-Lipsius-Gebäudes, man habe sich auf Sofortmaßnahmen für Spanien und Italien geeinigt.
4.50 Uhr: Angela Merkel verlässt sichtlich geschafft das Ratsgebäude. Die künftigen Einsätze des Rettungsschirms würden "im Rahmen unserer Methoden" bleiben, sagt sie. Und sie begrüßt "gute Entscheidungen, was das Wachstum anbelangt". Dann geht es für ein kurzes Schläfchen ins Hotel "Amigo" am Grande Place in der Brüsseler Altstadt.
5.00 Uhr: Ein aufgeräumter italienischer Ministerpräsident Mario Monti sieht mit Blick auf den unveränderten Entwurf für eine Vertiefung der Währungszone Euro-Bonds am Horizont aufscheinen.
6.15 Uhr: Deutsche Regierungskreise dementieren heftig: "Heute Nacht ist kein Beschluss in diese Richtung gefasst worden. Im Gegenteil."
9.40 Uhr: Die Kanzlerin steigt im beigen Blazer aus ihrer Limousine und gibt ein vierminütiges Statement ab. Danach verhandelt sie weiter, unter anderem muss der Wachstumspakt noch durchgewunken werden.
13.30 Uhr: Kanzlerin Merkel gibt ihre Abschluss-Pressekonferenz. In Berlin hagelt es Kritik an den Beschlüssen - Merkel müht sich um "Klarstellung". Die Veranstaltung dauert gut 20 Minuten. Danach macht sie sich auf den Weg in die deutsche Hauptstadt.
Gegen 13.40 Uhr: Der Haushaltsausschuss des Bundestages kommt zu einer Sondersitzung zusammen. Vor Beginn der Sitzung hatte SPD-Haushaltsexperte Carsten Schneider via Informationsdienst Twitter gefordert: "Regierung muss 180 Grad Wende erklären." FDP-Haushaltsexperte Jürgen Koppelin stellt zudem öffentlich die Tagesordnung des Bundestages infrage und bringt eine Verschiebung der ESM-Abstimmung ins Gespräch.
13.50 Uhr: Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble erläutert im Haushaltsausschuss die Ergebnisse des EU-Gipfels. Danach besucht er Fraktionen, um ebenfalls für die europäischen Vorhaben zu werben.
Gegen 15.00 Uhr kommen die Fraktionen zusammen.
15.00 Uhr: Der Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Bundestag, Jürgen Trittin, lehnt eine Verschiebung der Abstimmung im Bundestag über den dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM ab. Kurz danach findet eine Probeabstimmung der Fraktion statt: Große Mehrheit für den Rettungsschirm. Beim Fiskalpakt ist die Zustimmung nicht ganz so groß.
15.25 Uhr: Aus SPD-Kreisen ist zu erfahren: Die Sozialdemokraten wollen an dem Ablauf festhalten: "Die Zwei-Drittel-Mehrheit kommt zustande."
15.50 Uhr: SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier bekundet den Willen seiner Fraktion, den dauerhaften Euro-Rettungsschirm ESM trotz der jüngsten Brüsseler Gipfel-Beschlüsse am Freitagabend im Bundestag zu verabschieden.
Gegen 16.30 Uhr: Merkel trifft auf der Fraktionsebene des Reichstags ein. Sie besucht die Fraktionen von Union und FDP; später geht sie in den Plenarsaal.
17.36 Uhr: Bundestagspräsident Norbert Lammert eröffnet die zwischenzeitlich unterbrochene Bundestagssitzung: "Nehmen Sie Platz - es gibt noch einige freie Plätze."
17:37 Uhr: Die Linke-Abgeordnete Dagmar Enkelmann stellt einen Antrag auf Verschiebung der heutigen Abstimmung. Sie wettert gegen den Fiskalpakt und gegen den Rettungsschirm: Die Parlamentsrechte würden ´"mit den Füßen getreten", die Beschlüsse bedeuteten einen "massiven Eingriff in den Sozialstaat". Enkelmann nennt all das "Arroganz der Macht". Der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Michael Grosse-Brömer, entgegnet ihr: "Europa wartet auf ein Zeichen aus Deutschland." Der Antrag der Linken wird ablehnt.
17.45 Uhr: Die Kanzlerin beginnt ihre Regierungserklärung im Bundestag. Sie verteidigt die jüngsten EU-Beschlüsse sowie den Fiskalpakt und den ESM-Rettungsschirm: "Es gibt hier die rechtliche Verknüpfung zwischen Solidität und Solidarität." Noch immer trägt Merkel den beigen Blazer. Sie wirkt angespannt. Am Ende ihrer Rede erhält sie rund zwei Minuten Applaus.
18.06 Uhr: Merkel nimmt wieder Platz auf der Regierungsbank. Zwischendurch fallen ihr kurz die Augen zu. SPD-Chef Sigmar Gabriel folgt als Redner. Er ruft die Kanzlerin auf, für ein neues, transparentes und bürgeroffenes Europa zu streiten. Dazu gehöre auch eine neue europäische Grundordnung, über die in Deutschland die Bürger dann abstimmen sollten. "Alleine gehen wir unter, auch wir Deutschen", sagt Gabriel.
21.02 Uhr: Bundestagspräsident Norbert Lammert schließt die Debatte, es folgen vier namentliche Abstimmungen. Für den Fiskalpakt ist eine Zweidrittelmehrheit zwingend erforderlich, das sind 414 Stimmen.
21.21 Uhr: Das Ergebnis zum Fiskalpakt ist deutlich: 491 Ja-Stimmen, das sind rund 80 Prozent Zustimmung. Beim ESM liegt der Anteil der positiven Voten mit 493 sogar noch etwas höher. Merkel kann aufatmen. Die historische Entscheidung ist gefallen.
22.05 Uhr: Lammert schließt die 187. Sitzung des Bundestages in dieser Legislaturperiode. Die nächste Sitzung beruft er für spätestens den 11. September ein. Zugleich gibt er den gut 600 Abgeordneten mit auf den Weg, sie sollten bei ihrer Urlaubsplanung berücksichtigen, "dass es auch deutlich früher sein könnte". Denn wegen der Parlamentsbeteiligung an Entscheidungen über Euro-Finanzhilfen für Spanien und Zypern wird mit Sondersitzungen noch im Juli gerechnet. Feierabend für Merkel.
22.31 Uhr: Bundesratspräsident Horst Seehofer eröffnet die Beratungen der Länderkammer. Erster Redner ist Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Danach folgen zu später Stunde unter anderem die Ministerpräsidenten Kurt Beck (SPD), Volker Bouffier (CDU), David McAllister (CDU), sowie der Hamburger Erste Bürgermeister Olaf Scholz (SPD).
23.56 Uhr: Auch in der Länderkammer wird die Zweidrittelmehrheit locker übertroffen. Von 69 Vertretern stimmen in beiden Abstimmungen 65 zu. Die Regierungskoalition hatte sich die Zustimmung des Bundesrats vorab gesichert, indem sie Ländern und Kommunen Zusagen in Milliardenhöhe gemacht hat.