Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Zum Tod von Silvio Berlusconi Der Unersättliche
Er begann als Vertreter und Nachtclub-Sänger – und wurde zum mächtigsten Mann Italiens. Doch selbst auf dem Höhepunkt der Macht hatte er nicht genug.
Ein Nachruf von Hans-Jürgen Schlamp
Wer Silvio Berlusconis Erfolg verstehen will, der kommt nicht umhin anzuerkennen, dass dieser durchaus auch auf Fleiß beruht – und einem untrüglichen Instinkt für Macht. Geboren 1936 als ältester Sohn des Bankangestellten Luigi Berlusconi, studiert er nach dem Abitur Jura und schließt das Studium mit einer preisgekrönten Diplomarbeit ab.
Nebenbei arbeitet er als Staubsaugervertreter und Sänger in Nachtclubs sowie auf Kreuzfahrtschiffen. Was er dabei lernt, wird ihm viel später – als es ihn in die Politik verschlägt – noch sehr zugutekommen.
Er beginnt seine Karriere im Bau- und Immobiliengeschäft. Zunächst, 1961, im kleinen, schon ein paar Jahre später im ganz großen Stil: mit der riesigen Trabantenstadt Milano 2. Das Terrain habe er als Brachland erworben, erzählt Berlusconi, das dann überraschend zu Bauland deklariert worden sei. Und die Finanzmittel, um eine ganze Stadt daraufzusetzen, seien von "verdeckten Geldgebern aus der Schweiz" gekommen. Nein, das Geld stamme von der Cosa Nostra, sagt Jahre später der Sohn eines sizilianischen Mafia-Bosses aus. Bewiesen wird beides nicht.
Enge Verbindungen zu zweifelhaften Geschäftsleuten
In den 1970er-Jahren vertiefen sich mit dem erfolgreichen Baugeschäft auch die Verbindungen zu zweifelhaften Personen, die in Berlusconis weiterem Lebensweg noch wichtig werden. Zu dem Sizilianer Marcello Dell'Utri zum Beispiel, der bei der Gründung der Partei Forza Italia eine zentrale Rolle spielt, bald danach wegen enger Verbindungen zur Mafia verurteilt wird, erst ins Ausland flieht und später doch in Italien im Gefängnis landet.
Oder zu dem angesehenen Anwalt Cesare Previti, der Berlusconi eine prachtvolle Villa vor den Toren Mailands preiswert verschafft. Die minderjährige Erbin des architektonischen Schmuckstücks mit Park wurde von Previti beraten. Der wird später, als Berlusconi Italien regiert, Verteidigungsminister.
Die Geschäfte mit Bauland und die einflussreichen Freunde dieser frühen Zeit stehen aus heutiger Sicht sinnbildlich für das, was Silvio Berlusconi zeitlebens ist: ein mächtiger, reicher Mann, ein Mogul, der nie mit dem zufrieden ist, was er hat, sondern immer nach etwas Neuem, nach mehr von allem strebt – und dem dabei immer etwas Verruchtes anhängt.
TV für die Trabantenstadt
Nach der erfolgreichen Arbeit am Bau wirft sich der umtriebige Berlusconi ab 1972 ins Zukunftsgeschäft Fernsehen. Weil landesweites Fernsehen damals ausschließlich der staatlichen Rai (Radiotelevisione Italiana) vorbehalten ist, gründet der einfallsreiche Berlusconi den Lokalsender Milano 2, mit einem putzig-kleinen Sendegebiet von etwa zwei Kilometern. Aber zügig und trickreich wächst es weiter an: Berlusconi lässt das Programm mit Unterhaltungssendungen und Kurznachrichten täglich auf Kassetten per Moped an seine lokalen Kleinstsender bringen. Das ist eigentlich verboten. Nach dem Gesetz darf damals niemand mehr als einen privaten Sender betreiben.
Aber das ändert dann netterweise der damalige sozialistische Regierungschef und Berlusconi-Freund Bettino Craxi. Er schafft das Berlusconi-Hemmnis einfach ab. Aus Milano 2 wird Telemilano und dieser bald zum landesweiten Sender.
Craxi kann seine Freundschaft zu Berlusconi nicht sehr lange genießen, denn er wird wegen Bestechlichkeit – aber nicht durch Berlusconi – verurteilt und flieht vor einer 28-jährigen Haftstrafe nach Tunesien, wo er bis zu seinem Tod im Jahr 2000 bleibt.
Berlusconi breitet derweil seine Privatfernseh-Welt immer weiter aus: Er kauft Verlegern deren TV-Lizenzen und Sender ab, baut eigene neue Sender und schafft zudem ein gigantisches Imperium aus Verlagshäusern, Kino- und Handelsketten. Bald drückt das Berlusconi-Fernsehen den behäbigen Staatssender Rai an die Wand.
Das bringt ihm freilich nicht nur Freunde. Immer lauter werden Stimmen, man müsse Berlusconis wachsende Vorherrschaft in den Medien stoppen.
Politik oder Bankrott
Berlusconi sieht nur einen Ausweg: Er muss selbst die TV-Regeln bestimmen können. Also steigt er in die Politik ein. Er tue dies nur, verkündet Berlusconi 1994, "um die Erben des Kommunismus an der Machtergreifung zu hindern". Tatsächlich, verrät später sein Freund Marcello dell'Utri, er habe nur "seine Firmen verteidigen" wollen.
Auch Journalisten mit gutem Draht zu Berlusconi, wie Indro Montanelli, versichern, Berlusconi habe selbst gesagt, wenn er nicht in die Politik gehe, "bringen sie mich ins Gefängnis und treiben mich in den Bankrott".
Zehn Wochen vor den Parlamentswahlen im März 1994 legt Berlusconis Medien-Crew los und seine neu gegründete Partei Forza Italia holt auf Anhieb 21,5 Prozent der Stimmen. Das reicht für eine Regierung gemeinsam mit der Alleanza Nazionale und der Lega Nord. Berlusconi erobert so die Macht im Staate.
Freilich nur kurz, denn schon nach wenigen Wochen tritt die Lega im Streit mit ihm wieder aus. Berlusconi wirft das Handtuch und wartet auf die nächste Chance. Das braucht ein Weilchen. Erst im Juni 2001 wird er erneut Regierungschef, darf den Job 2005 sogar um eine, wenn auch kurze, dritte Amtszeit bis Mai 2006 verlängern. Dann muss er wieder einmal den Platz räumen, wird im Mai 2008 erneut gewählt und kann dann bis November 2011 regieren. Ihm gelingt, so scheint es, alles, was er will. Ein Witz macht die Runde: "Was ist der Unterschied zwischen Gott und Berlusconi? Gott hält sich nicht für Berlusconi."
Dabei ist Berlusconi vielleicht mehr als jeder andere im Irdischen zu Hause. Er präsentiert sich mit fünf weißen Hündchen auf dem Sofa und bejubelt die "unendliche Freude", die Vierbeiner den Menschen schenken. Und die Menschen danken und bejubeln ihn dafür, mit "Bravo Cavaliere" und "Wir lieben Sie, Presidente".
Nur die Justiz mag ihn offenbar nicht
Das ist alles anstrengend, aber lohnend. Denn in den vier Perioden, in denen Berlusconi das Land regieren darf, hat er nicht nur leichten Zugriff auf die Fernseh-Konkurrenz der Rai, die er mit ihm genehmen Journalisten durchsetzt. Im Zentrum der Macht kann man hier und dort auch die Gesetze ändern. Und das wird – für ihn – dringend nötig.
Seit Mitte der 1990er-Jahre muss er sich ständig gegen juristische Verfahren wehren, wegen Meineids und Bestechung, illegaler Parteienfinanzierung, Bilanzfälschung, Steuerhinterziehung und Kontakten zur Mafia. Die meisten übersteht er, manche nur ganz knapp durch Verjährung, andere durch Gnadenerlasse. Aber manches auch nicht.
So wird er zum Beispiel 2013 wegen der Hinterziehung von 470 Millionen Euro Steuern zu vier Jahren Haft verurteilt. In erster Instanz. In der Berufung werden ihm drei Jahre gestrichen, weil er über 70 Jahre alt ist.
Das noch verbleibende Jahr wird wegen guter Führung auf sechs Monate reduziert. In denen muss er einmal in der Woche vier Stunden Sozialdienst bei Demenz- und Alzheimer-Patienten ableisten. Das Gesetz dazu hat er selbst 2005 durchgesetzt, ein Jahr vor seinem 70. Geburtstag.
Berlusconi und die Lust
Und das Alter ist für ihn keineswegs nur bloße Last. Er hat, im Gegenteil, mehr Freiheit denn je. Seine Kinder wie Frauen sind, zumindest finanziell, allesamt gut versorgt. Marina, aus erster Ehe mit Carla Dall'Oglia (1965–1985) ist heute Präsidentin der Familien-Holding Fininvest. Sohn Piersilvio ist Vizepräsident der Mediaset. Aus zweiter Ehe, mit der 20 Jahre jüngeren Veronica Lario (1990–2009), sind auch Barbara, Eleonora und Luigi im Familienkonzern untergebracht.
So hat Berlusconi selbst viel Zeit für ausschweifende Partys. Ein Unternehmer aus Bari offenbart, dass er Berlusconi bei 18 Festen 30 junge Frauen zugeführt und in wenigstens zehn Fällen auch für sexuelle Dienstleistungen bezahlt habe. Und solche Feste soll es vielfach gegeben haben. Berlusconi bestreitet das manchmal – man habe nur ein gemeinsames Abendessen eingenommen. Und manchmal spielt er den großen Hahn: "Es waren elf, aber ich habe es nur mit acht von ihnen geschafft".
Am Ende bereiten Berlusconi seine privaten Eskapaden zunehmend juristische Probleme. Zum Beispiel sein Umgang mit der Nachtclub-Tänzerin Karima el-Marough, nach dem Kontakt mit Berlusconi weltweit bekannt als "Ruby". Ihr soll er viel Geld für Sex gegeben haben, als sie erst 17 Jahre alt war – was Berlusconi bestreitet. Und, wie beinahe immer, verliert die Justiz gegen ihn: Nach drei Prozessen gegen Silvio Berlusconi und 28 weitere Personen, darunter auch Ruby, werden im Februar 2023 die Verfahren eingestellt.
Politisches Stehaufmännchen
Doch trotz der vielen Prozesse bleibt Berlusconi ein politisches Stehaufmännchen. Nachdem das sechsjährige Mandatsverbot aus dem Steuerprozess-Urteil um ein Jahr wegen "guter Führung" verkürzt wird, tritt Berlusconi bei den Europawahlen 2019 als Spitzenkandidat der Forza Italia an und wird zum Europaparlamentarier gewählt.
Da ist Berlusconi schon längst wieder eine wichtige Figur in der italienischen Politik. Ohne ihn und die Abgeordneten seiner Partei hätte auch die aktuelle Ministerpräsidentin Giorgia Meloni keine Mehrheit.
Und wieder spielt er seine Rolle wie eh und je. Er kann gar nicht anders. So hat er, zum Beispiel, 2022, als der Fußballclub AC Milan – dessen Präsident und Eigentümer er 20 Jahre war – mal wieder die Meisterschaft gewonnen hatte, gejubelt, Milan sei seine "größte Liebe". Und die Tifosi, also die italienischen Fans, jubeln ihm zu.
Ein Jahr später, als Neapel den Titel holt, jubelt er "Eviva, Eviva" durch alle sozialen Netzwerke und TV-Sender und bekennt: "Ich habe mich immer als Neapolitaner gefühlt!". In Italiens Süden feiern ihn dafür Zigtausende mit "Grazie presidente" und "Grandissimo presidente".
Der große – dank der modernen Medizintechnik ewig junge – Silvio weiß eben, wie man Menschen fängt: "Die Italiener folgen mir, wegen meiner richtigen Dosis von Optimismus".
Und in der Tat lieben ihn viele Italiener, bewundern, verehren ihn. Sogar viele, die ihn nie gewählt haben.
Doch auch Schönheitsoperationen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Berlusconi zuletzt immer mehr gesundheitliche Probleme hat. 2020 kommt er wegen einer Lungenentzündung infolge einer Corona-Infektion ins Krankenhaus, seit mehreren Jahren schon braucht er einen Herzschrittmacher und, wie kürzlich bekannt wurde, leidet er an chronischer Leukämie.
Am Montag ist er nun in einem Mailänder Krankenhaus gestorben. Silvio Berlusconi wurde 86 Jahre alt.