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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Intersexualität "Du bist doch 'ne Transe, oder!?"
Tania Hagn hieß nicht immer Tania, und sie sah auch nicht immer schon so aus wie heute. Sie ist intersexuell – also von Geburt an nicht eindeutig ein Mann, aber auch keine Frau. Über ein Leben im Dazwischen.
Es ist einer dieser Tage im November, die einem in den Nacken kriechen. Aber in Gegenwart von Tania Hagn wird es gleich wärmer. Sie hat die Heizung aufgedreht im Büro der Deutschen Gesellschaft für Transidentität und Intersexualität in der Weisestraße in Berlin-Neukölln. Während die 57-Jährige von ihrem Alltag als Beraterin für Menschen erzählt, die im Unklaren über ihre sexuelle Identität sind, packt sie Lebkuchenherzen aus einer Schachtel und fragt, ob sie Kaffee machen soll.
"Du bist doch 'ne Transe, oder!?"
Beim anschließenden Herbstspaziergang in der Hasenheide schildert sie ihre Geschichte. Außerhalb des Büros ist Tania ein Außenseiter. Das Kiez rund um das Büro ist bunt, doch Tania fällt sogar hier auf. Ihr weißblondes Haar hat sie an einer Seite mit einem pinken Gummi zu einem Zopf über eine Schulter gebunden. Männer starren, mustern sie von oben bis unten, ihre breite Schultern, die starken Hände, und bäumen sich vor ihr auf: "Du bist doch 'ne Transe, oder!?"
Tania zuckt die Schultern. "So etwas gibt es halt", sagt sie und lächelt. Ihre stattliche Figur wirkt manchmal einschüchternd, sagt sie, das hilft. "Ich werde nach wie vor als Mann identifiziert, egal was ich tue." Ihre unbeschwerte Art zu erzählen, mit dem rollendem "R", und diesem gelegentlichen Kichern, deutet nicht darauf hin, wie schwer ihre Geschichte war.
Weder eindeutig ein Mann, noch eine Frau
Tania Hagn ist intersexuell. Intersexualität bedeutet, dass man biologisch gesehen nicht eindeutig Frau oder Mann ist. Bei intersexuellen Menschen sind nicht alle geschlechtsbestimmenden Merkmale wie Chromosomen, Hormone, Keimdrüsen oder Genitalien eindeutig einem Geschlecht zuzuordnen. Bei ihnen kommen gleichzeitig Geschlechtsmerkmale vor, die sich typischerweise entweder bei Frauen oder bei Männern finden. Intersexuelle besitzen nur ein X-Chromosom. Ein zweites Chromosom, das sie als weiblich (X-Chromosom) oder als männlich (Y-Chromosom) ausweisen würde, fehlt. Früher nannte man sie "Zwitter", diese Bezeichnung finden Intersexuelle jedoch abwertend.
Die Ärzte wollten mit Medikamenten einen Jungen aus ihr machen
Tania Hagn kam in der oberpfälzischen Provinz auf die Welt, zu klein, mit puppenhaftem Gesicht und nur rudimentär ausgebildetem Penis. Die Ärzte entschieden damals, aus ihr einen Jungen zu machen. Sie verabreichten ihr schon als Baby Wachstumshormone. Das Knochenmark wuchs und wuchs und entstellte ihr Skelett, so dass sich ihre Wirbelsäule um 90 Grad verkrümmte. "Aber ich seh aus, als hätte ich einfach einen dicken Bauch!", sagt sie. Dann folgt wieder dieses Lachen, wie von einer freundlichen Tante aus der Kindheit, die einem heimlich fünf Mark Taschengeld für Süßigkeiten zugesteckt hatte mit einem Augenzwinkern der Komplizenschaft.
"Ich fand vieles fremd, was Jungen taten"
Tania spielte als Kind weder gern Pirat noch mit Puppen. Sie wurde als Junge aufgezogen, die Leute im Ort hielten sie auch für einen – wenn auch für einen sonderbaren. Etwas schien nicht zu stimmen. "Lauf doch nicht wie ein Mädchen!", spotteten sie, erinnert sich Tania heute. Ihre Absätze klackern über den mit Laub bedeckten Weg. Es ist noch leer im Park an diesem nieseligen Freitagvormittag.
Tania merkte schnell, dass sie kein typischer Junge war. "Ich hab mich immer über die Jungs gewundert, fand vieles fremd, was die taten. Dieses Impulsive, dass sie gern rauften, das hab ich nicht verstanden." Die wenigen Freundschaften hatte Tania nur mit Mädchen. Doch mit der Pubertät änderte sich das: Die Mädchen hatten irgendwann alle einen Freund. Tania hatte niemanden. Mit der Vereinsamung kam die Wut: Sie lehnte alles Männliche ab – und vergötterte alles Weibliche.
Ein Hin und Her zwischen den Extremen
Eines Tages während des Studiums der Informatik in Regensburg überkommt es sie: Sie probiert Frauenkleider an. Es fühlt sich stimmig an. Aber es folgt die Scham, die Angst, krank zu sein. Also reißt sie sich umso mehr zusammen, der Norm zu entsprechen: Sie meldet sich im Karatekurs an. "Das ist ein typisches Verhalten von vielen Menschen, die bei mir in die Beratung kommen: dieses Hin und Her zwischen den Polen." Während Tania das erzählt, sagt sie oft "man" statt "ich". Intersexuelle fühlen sich "zwischen den Stühlen", weil sie weder Mann noch Frau sind, sondern etwas drittes, anderes.
Männlich, weiblich – und etwas Drittes
Seit das Bundesverfassungsgericht im November 2017 beschlossen hat, bis 2018 ein drittes Geschlecht neben "männlich" und "weiblich“ in das Geburtenregister aufzunehmen, zum Beispiel "inter" oder "divers", sind Intersexuelle in der Gesellschaft nicht mehr die Unsichtbaren, die durch alle Raster fallen, weil man selbst beim Onlinekauf einer Bahnkarte eine Geschlecht ankreuzen muss. Das Urteil befürwortet Tania, aber sie hat auch Vorbehalte: "Auch ein drittes Geschlecht bildet die Realität nicht ab, weil dadurch jede Person, die nicht als ‚normal‘ oder als nur 'männlich' oder 'weiblich' eingestuft wird, in das Sammelbecken der dritten Option abgeschoben wird. In dieser dritten Gruppe wären dann lauter Menschen, die sich untereinander wieder sehr stark voneinander unterscheiden."
Nicht nur intersexuell, sondern auch transsexuell
In Tanias Fall ist es noch komplizierter: Weil zumindest ihr Chromosomsatz bei der Geburt als männlich identifiziert wurde, fällt Tania durch ihr Frausein zusätzlich in die Kategorie der Transsexuellen. Diese Menschen werden bei der Geburt klar als Junge oder Mädchen bestimmt, können sich mit diesem zugewiesenen Geschlecht jedoch nicht identifizieren und fühlen sich als Angehöriger des anderen Geschlechts.
Tania kann also sowohl als intersexuell, als auch als transsexuell bezeichnet werden. Sie selbst stört dieser Zwang zur Einteilung. "Den Intersexuellen wird gesagt: Ihr habt halt dieses körperliche Problem und das ist nachweisbar, während den Transsexuellen gesagt wird: Ihr seid verrückt." Und tatsächlich: Laut ICD-10, einer Klassifizierung für Krankheiten der Weltgesundheitsorganisation, zählt Intersexualität zu den angeborenen Fehlbildungen, während Transsexualismus als Persönlichkeitsstörung gilt.
Mehr noch: Oft genug sind sich Intersexuelle und Transsexuelle sogar untereinander nicht grün – viele Intersexuelle kämpfen dafür, dass sich die Gesellschaft von dem Frau-Mann-Gegensatzpaar verabschiedet und halten Operationen für eine Verstümmelung der Natur, während Transsexuelle sich genau das wünschen: endlich den Körper des einen Gegengeschlechts zu haben.
Sex als Mann – aber das Gefühl dabei blieb aus
Bei Tania kam dieser Wunsch mit Mitte 30. Da verliebte sie sich. Es ist ihre erste Beziehung. Sie heiratete, versuchte, sich für ihre Ehefrau wie ein normaler Ehemann zu verhalten. Dazu gehörte auch Sex. Weil ihre "Ausstattung nicht perfekt" war und es nicht richtig klappte, paukte sie Taoismus, eine chinesische Philosophie, wollte den Geschlechtsakt intellektuell durchsteigen. "Es hat dann technisch ganz gut funktioniert", erzählt sie, ein wenig stolz, "aber es hat mich innerlich nicht berührt."
Gemeinsam mit ihrer Ehefrau stieß sie schließlich auf die Antwort auf die Frage, von der sie nicht wusste, dass sie sie schon ein Leben lang mit sich herumtrug: Ich bin kein ungenügender Kerl, keine "Pfeife" – ich bin eine Frau, wenn auch eine mit männlichen Anteilen. Da war sie 45 Jahre alt. Ihr bisheriges Leben zog tagelang wie in einem Zeitraffer an ihr vorbei. Eine Last fiel ab, hinterließ nichts als Euphorie. Die Ehe aber zerbrach. Aber dass nichts schwarz und weiß ist im Leben – das kannte Tania.
Die Transition ändert nicht den Menschen
Bis heute versteht sich Tania besser mit Frauen. Die sexuelle Neigung ist von der sexuellen Identität zu trennen und bleibt in der Regel auch nach einer Operation gleich – man bleibt ja derselbe Mensch. "Ich wäre wohl als lesbisch einzustufen", sagt sie und lacht.
Nach zwei Eingriffen hatte Tania die Transition vollzogen: Sie gilt nun körperlich als Frau, so steht es auch im Ausweis. Sie nimmt weibliche Hormone, jeden Tag, morgens und abends eine halbe Tablette. Innen ist seitdem Ausgeglichenheit – außen sind Anfeindungen. Ihren Job als Teamleiter in einem internationalen IT-Unternehmen hat sie verloren. Aus Augsburg musste sie geradezu fliehen, Christliche Fundamentalisten, sogenannte "besorgte Eltern" und Neo-Nazis veranstalteten in Augsburg regelmäßig Demonstrationen gegen Intersexuelle und Transsexuelle, unterstellen ihnen Pädophilie, und Schuld am Untergang des Abendlandes. "Ich hab die Erfahrung gemacht, dass Moslems weniger ein Problem damit haben als Christen. Solange man sich da in die traditionellen Rollen von Frau und Mann fügt, egal, wie man geboren wurde, ist das eigentlich kein großes Thema", erzählt Tania.
Ein Leben im Dazwischen
Für die Zukunft wünscht sie sich, dass der gesellschaftliche Zwang zur Binarität sich aufweicht, also der Vorstellung, dass es nur Mann und Frau gibt und dass sich diese körperlich wie geistig stark voneinander unterscheiden – mitsamt all der Klischees. "Dabei ist doch wissenschaftlich erwiesen, dass es sich bei Geschlecht vielmehr um ein Spektrum handelt, bei dem ein Mensch nicht nur auf der einen oder anderen Seite angeordnet werden kann, sondern auch dazwischen."