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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gewalttätige Kinder Strafunmündig: Drohen jungen Schlägern keine Konsequenzen?
Kinder unter 14 Jahren können in Deutschland auch für schwere Gewalttaten nicht strafrechtlich belangt werden. Ins Visier der Polizei geraten sie oft nur, wenn sie mehrfach straffällig wurden. Danach geht es um
Berichte über brutale Gewalt unter Kindern – zum Beispiel im schulischen Umfeld – schockieren nicht nur Eltern. Ein Beispiel aus der jüngsten Zeit: Im September wurde in Euskirchen ein Zwölfjähriger bei einer Prügelattacke während der Schulzeit auf dem Schulgelände lebensgefährlich verletzt. Zwei Mitschüler, ebenfalls jünger als 14, sollen ihn im Streit über ein Kartenspiel massiv angegriffen haben.
Das Opfer musste im Krankenhaus seiner schweren Verletzungen wegen zunächst in ein künstliches Koma versetzt werden. Die mutmaßlichen Schläger wurden nach Presseberichten vom Unterricht befreit, ihre Betreuung übernahm das Jugendamt. Zu den Details des eskalierten Konflikts der Kinder schwieg die Bonner Staatsanwaltschaft – mit Hinweis auf deren Strafunmündigkeit. Unklar blieb für die Öffentlichkeit auch die schulische Zukunft aller Beteiligten.
Zahl der Gewalttaten von Kindern geht zurück
Einzelfall oder Signal für eine beunruhigende Entwicklung? Weder noch. 2015 haben nach Angaben des Deutschen Jugendinstituts (DJI) hierzulande 6363 Kinder unter 14 Jahren Gewalttaten verübt. Um die Relation zu verdeutlichen: Von 100.000 Kindern dieser Altersgruppe wurden 123 einer ernsthaften Gewalttat beschuldigt. Die Jugendforscher des DJI berufen sich auf die Polizeiliche Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes. Demnach nimmt die Zahl der sehr jungen Tatverdächtigen, denen etwa schwere Körperverletzung vorgeworfen wird, seit dem Jahr 2010 ab.
Grund zur Entwarnung ist dies trotzdem nicht: 123 von 100.000 - das seien zwar nur 0,1 Prozent, erklärt Bernd Holthusen vom DJI. Allerdings zählten zu der Altersgruppe auch Babys und Kleinkinder, die zu gewaltsamen Handlungen noch nicht fähig seien. Dies verzerre das Ergebnis.
Einen deutlichen Rückgang von gewaltbedingten Unfällen an Schulen bestätigen die Statistiker der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV). Im Zeitraum von 2000 bis 2014 sank die Zahl solcher Schulhofunfälle laut DGUV um mehr als 30 Prozent - von über 135.000 auf etwa 80.000.
Polizei ermittelt: Wer ist tatverdächtig, wer das Opfer?
Was aber passiert, wenn Kinder, die kaum Teenager sind, anderen Gewalt antun und schweren Schaden zufügen? Vor dem Gesetz gelten junge Prügler, Räuber oder Erpresser unter 14 Jahren grundsätzlich als Tatverdächtige, nicht als Täter, denn sie sind strafunmündig. Sie müssen weder ein Strafverfahren noch eine Verurteilung fürchten.
In der Regel benachrichtigt bei einem Fall wie dem in Euskirchen die Schule umgehend die Polizei, die dann Ermittlungen aufnimmt. Keine leichte Aufgabe: Häufig sei es bereits schwierig festzustellen, wer Täter und wer Opfer sei, sagt DJI-Mann Holthusen. Denn beide befänden sich oft in der gleichen Alters- und Geschlechtergruppe, zudem erfolgten Gewalttaten im Kindesalter vielfach aus der Gruppe heraus.
Nicht jeder strafunmündige Tatverdächtige wird registriert
Um herauszufinden, wer wie in den Vorfall verwickelt war, darf die Polizei nach Polizeidienstverordnung 382 Kinder unter 14 Jahren nicht verhören, sondern lediglich in Anwesenheit der Eltern anhören. Stehen Tathergang, -ausführung und -verdächtige fest, schließt die Polizei die Ermittlungsakten.
Polizeilich registriert werden in der Folge nur strafunmündige Kinder, die bereits mehrfach oder mit sehr schweren Delikten aufgefallen sind. Manche Bundesländer führen laut Holthusen dazu eine Täterliste. Die Beamten übergeben den Fall anschließend der Staatsanwaltschaft, die das Verfahren wegen Strafunmündigkeit des Tatverdächtigen einstellt.
Wann das Jugendamt eingreift
Darüber hinaus informiert die Polizei den Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) des Jugendamts über den Vorfall. Ist die Familie des tatverdächtigen Kindes dort nicht bekannt, wird Holthusen zufolge auch keine Akte angelegt. Hat die Behörde die Familie bereits im Visier, wendet sie sich mit einem Beratungsangebot an die Eltern. Falls diese die Zusammenarbeit verweigern, hakt das Jugendamt weiter nach – vor allem, wenn das Wohl des Kindes möglicherweise gefährdet ist.
Um härtere Maßnahmen wie eine Unterbringung des Kindes außerhalb der Familie durchzusetzen, sei zusätzlich ein Beschluss des Familiengerichts notwendig, sagt der DJI-Experte.
Eltern mutmaßlicher Schläger können haftbar sein
Klar ersichtlich ist: Der gesamte Prozess läuft täterfokussiert ab. Die Kinder- und Jugendhilfe verfolge stets eine pädagogische Perspektive und richte den Blick nicht allein auf die Tat, sondern auf das Kind in seiner gesamten Lebenswelt, so Holthusen. Oberstes Ziel sei es, weitere Delikte zu verhindern.
Einen Ausgleich für den Schaden, den das Opfer erlitten hat, kann dessen Familie nur zivilrechtlich erwirken - unter Umständen sind die Eltern des strafunmündigen Tatverdächtigen haftbar zu machen. In einem Rechtsstreit über Schmerzensgeld oder Schadenersatz spielten die Schwere der Tat, das Alter des tatverdächtigen Kindes sowie eine etwaige Verletzung der Aufsichtspflicht eine entscheidende Rolle, erläutert Holthusen.
Einigung mittels Täter-Opfer-Ausgleich
Im besten Fall lässt sich - das Einverständnis des Opfers vorausgesetzt - ein Schadensausgleich ohne Gerichtsprozess erreichen, beispielweise mit einem so genannten Täter-Opfer-Ausgleich. Dieser führe alle Beteiligten unter pädagogischer Begleitung an einem Tisch zusammen, sagt der DJI-Fachmann. Das Verfahren kann von der Kinder- und Jugendhilfe, dem Anwalt der Opferfamilie oder Opferhilfe-Institutionen initiiert werden.
Gerade wenn Opfer und Tatverdächtige aus demselben Umfeld kämen, sei das wichtig, betont Holthusen. Die Tat werde auf diese Weise besser verarbeitet als durch eine Strafe, da der Bedränger lerne, sich in das Opfer hineinzuversetzen und Empathie zu empfinden. Verständlich ist aber, dass das geschädigte Kind und dessen Eltern nicht immer bereit sind, sich mit den Verursachern ihres Leids zusammenzusetzen.
Eine weitere Möglichkeit sei, gewalttätige Kinder in eine soziale Gruppenarbeit einzubeziehen, um ihre sozialen Kompetenzen und Fähigkeiten zur Konfliktbewältigung zu erweitern, sagt Holthusen. In erzieherischer Hinsicht ein guter Ansatz, der aber keine Lösung für das Opfer bietet.
Opfern droht Traumatisierung
Dabei ist dessen Genesungsweg ein langer und mit dem Verheilen der physischen Wunden nicht bewältigt. Kinder befänden sich in einer Phase, in der sie geformt würden, erste Lebenserfahrungen machten und besonders schutzbedürftig seien, sagt Bianca Biwer, Bundesgeschäftsführerin des Weißen Rings. Körperliches oder seelisches Leid, das ihnen gerade in dieser wichtigen Entwicklungsphase durch Täter zugefügt werde, könne zu massiver Traumatisierung führen, die das spätere Leben erheblich beeinträchtige.
Warum werden Kinder gewalttätig?
Wie kommt es jedoch überhaupt zu Gewalt im Kindesalter? Axel Becker, ehemaliger Lehrer und Moderator für Gewaltprävention, sieht verschiedene Gründe dafür. Junge Prügler könnten etwa im Elternhaus gewalttätigen Erfahrungen ausgesetzt gewesen sein. So hätten sie möglicherweise gelernt: Gewalt hilft mir, mich durchzusetzen. Auch psychische Verletzungen machen Kinder sensibel. Denkbar sei dann eine starke Reaktion auf eine vermeintliche Zurücksetzung oder Ausgrenzung, angestaute Wut könne sich entladen und die Situation eskalieren lassen.
Auch eine Rauferei kann schlimm enden
Auch eine normale Rauferei kann eine unglücklichen Verlauf nehmen und schlimm enden. Eine derartige Situation hat Becker in seinem Buch "Die Toleranzfalle" beschrieben: Im Zuge eines heftigen Streits trat ein 14-jähriges Mädchen in der Schule einer 17-Jährigen in den Bauch, die kurz zuvor am Blinddarm operiert worden war. Das mögliche Ausmaß ihrer Attacke war der Treterin nicht bewusst.
Becker plädiert für eine bessere Zusammenarbeit von Kinder- und Jugendhilfe, Schule, Polizei und Justiz. Es komme immer wieder vor, dass relevante Informationen nach einem Schulwechsel betroffener Kinder den neuen Lehrern nicht zur Verfügung stünden – etwa durch unklare Zuständigkeiten oder wegen Datenschutz.
Wie geht es nach der Tat mit der Schule weiter?
Nach gewalttätigen Auseinandersetzungen mit schweren Folgen ist für den Experten eine Rückkehr von Opfer und Täter in dieselbe Klasse – als sei nichts gewesen – undenkbar. Meist sei die Versetzung an eine andere Schule ratsam. Bei der Entscheidung über die Zukunft aller beteiligten Kinder sollten aus seiner Sicht unbedingt die Wünsche des Opfers im Vordergrund stehen: Möchte das geschädigte Kind in der Klasse bleiben oder nicht?
Eine Alternative sei zum Beispiel eine temporäre häusliche Beschulung, also die Betreuung durch Hauslehrer. Eine weitere Möglichkeit sei die in Berlin praktizierte "Extra-Beschulung": Kinder, die am normalen Schulunterricht nicht teilnehmen können, werden dabei in kleinen Gruppen von etwa sechs oder sieben Schülern betreut.
Über die schulische Perspektive der betroffenen Kinder haben Schulen und übergeordneten Schulbehörden zu entscheiden – zusammen mit den Beteiligten. Für solche Problemsituationen gäben die Bundesländer Regelungen vor, die den Rahmen für eine individuelle Lösung im konkreten Fall bildeten, sagt Holthusen.
Gegensteuern mit Konfliktlotsen
Grundsätzlich sei von Bedeutung, wie die jeweilige Schule auf Gewaltkonflikte vorbereitet sei, meint Becker. Stehen beispielsweise Schulsozialarbeiter als Vertrauenspersonen für die Schüler zur Verfügung? Für sehr wirkungsvoll hält er die Ausbildung von Lehrern in der Mediation, damit diese wiederum Konfliktlotsengruppen in den Schulen installieren könnten. Dabei griffen dazu ausgebildete Schüler selbst deeskalierend in Konfliktsituationen unter ihren Mitschülern ein.
Beratung und Hilfe für Geschädigte
Fakt bleibt: Die Bedürfnisse des Opfers und seiner Familie stehen nicht ganz oben auf der Liste der Behörden und Institutionen. Hilfe und Beratung finden Sie etwa bei der Caritas oder beim Weißen Ring. Dessen kostenfreies Opfer-Telefon ist bundesweit unter der Telefonnummer 116 006 täglich von 7 bis 22 Uhr erreichbar. Anonym und ebenfalls kostenfrei sind die Experten des Opferhilfevereins auch online unter weisser-ring.de/hilfe/onlineberatung zu erreichen.