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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kleinkind Jungen und Mädchen: kleine Kerle - große Machos?
Während der Frauenbewegung der 70er Jahre schien die Sache klar zu sein: Der "kleine" Unterschied zwischen den Geschlechtern schien nur eine Frage der Erziehung zu sein. Die damalige Überzeugung war, als Junge beziehungsweise Mädchen wirst du nicht geboren, sondern erst dazu gemacht. Bewusst handelnde Eltern bemühten sich deshalb, die Unterschiedlichkeit der Geschlechter schon im Laufstall aufzuheben. Doch dieses Experiment scheint bis heute nicht wirklich erfolgreich zu sein. Denn schon die kleinsten Kindergartenknirpse sind sich sehr wohl über ihr Geschlecht bewusst und leben "typische" Rollenbilder aus - gleichgültig wie aufgeklärt und modern die Mütter und Väter sind. Vor allem die Jungs wollen sich klar von den Mädchen abgrenzen und dokumentieren das Tag für Tag. Warum dies so ist, haben wir eine Woche lang bei regelmäßigen Stippvisiten in einem Kindergarten versucht herauszufinden - unterstützt von pädagogischem Expertenwissen.
Jungs im Kindergarten: "Neben der will ich nicht sitzen"
Montag 9.00 Uhr: Im Morgenkreis der Kita "Kunterbunt" startet die zwanzigköpfige Hummel-Gruppe in den Tag. Doch schon zu Anfang gibt es Reibereien, denn Leo will nicht neben Karen sitzen. "Die soll weg hier, ich will lieber neben Luis sein" mault der Vierjährige und knufft dabei seine kleine Nachbarin ohne Vorwarnung in die Seite. Das Ergebnis: Karen fängt an zu weinen und Leo muss kurz vor die Tür und sich überlegen, was er falsch gemacht hat. Das passiert ihm häufiger, denn passt ihm etwas nicht, fackelt er nicht lange. Daran sind auch die Erzieherinnen gewöhnt. Das sei aber nicht ungewöhnlich für Jungen in seinem Alter, meinen sie.
Erzieherinnen werden nicht als "Bestimmer" akzeptiert
Das bestätigt auch die Diplompädagogin Claudia Wallner aus Münster. Die Wissenschaftlerin beschäftigt sich seit Jahren mit dem Rollenverhalten von Jungs und Mädchen, berät Institutionen und hält Vorträge. Unter dem Motto "Junge, Junge, Junge? Wenn Erzieherinnen mit Jungs arbeiten", erklärt sie, warum die kleinen "Chauvis" so sind, wie sie sind: "Die geschlechtliche Identität ist in diesem Alter noch wenig sicher. Diese Unsicherheit führt dazu, dass Mädchen und Jungen Uneindeutigkeiten in der geschlechtlichen Zuordnung noch schlecht zulassen können, weil sie eine weitere Verunsicherung darstellt. Deshalb streben sie nach Eindeutigkeiten. Die Bevorzugung gleichgeschlechtlicher Spielpartner verstärkt sich entsprechend ab dem dritten Lebensjahr."
Jungs suchen Streit
Zu dieser klaren Abgrenzung gehöre auch, dass Jungs in diesem Alter sehr oft keinen konfliktreduzierenden Sprachstil pflegten. Sie neigten eher dazu als Mädchen, beschreibt Claudia Wallner, mit gebieterischem Tonfall kurz und knapp zu kommunizieren. So brächen Interaktionen schneller ab und Konflikte eskalierten leichter.
Kleine Männer bleiben unter sich
Dienstag 11 Uhr: Es ist Draußen-Spielzeit im Garten der Kita "Kunterbunt". Leo ist mit seinen Kumpels Luis, Ben und Felix unterwegs. Die kleinen "wilden Kerle" sind gerade ins Bauarbeiter-Spiel vertieft. Dabei haben sie die Baustelle mit rotem Band abgesperrt, graben tiefe Matschlöcher und bewegen mit schwerem Gerät die Erdhaufen. Und natürlich ist die Baustelle gut organisiert. Vorarbeiter Leo gibt fachmännische Anweisungen an sein Team. Er weiß alles besser und prahlt mit seinen Kompetenzen. Dabei ist Ben überhaupt nicht einverstanden mit der Arbeitsteilung. Er will endlich auch mal Chef sein. Als die fünfjährige Elli mitmachen will, bekommt sie eine deutliche Absage: " Du darfst nicht mitspielen, weil Bauarbeiten nur was für starke Jungs sind. Geh weg!"
Der Pädagogik-Experte weiß, dass die kleinen Baustellen-Machos auch hier ein für ihr Alter typisches Verhalten an den Tag legen, so Diplompädagogin Wallner in ihrem Vortrag: "Bereits mit vier, fünf Jahren bevorzugen Jungen große geschlossene Gruppen und das möglichst wilde Spielen im Freien, bei dem Hierarchien, Dominanz, und Rivalitäten ausprobiert und ausgekämpft werden."
Selber der Bestimmer sein
Außerdem sei der Gruppendruck, sich geschlechtsspezifisch zu verhalten vor allem bei Jungs sehr groß, weiß die Pädagogin: "Spielen mit Mädchen wird von der Gruppe sanktioniert und unterbleibt entsprechend. Die Jungengruppe und ihre Regeln sind für Jungen in einer als von Mädchen und Frauen dominierten Welt von erheblicher Bedeutung und ein wesentlicher Sozialisationsfaktor." Die Folge davon sei auch, dass Jungs weniger auf Betreuungspersonen reagierten und hörten als Mädchen. Die Erziehungsinstanz der Mini-Männer ist so meist die eigene Gruppe, nicht die Pädagogen. Sie fühlen sich selbst als "Bestimmer", als kleine Machos mit Imponiergehabe und wollen sich nur von anderen "Bestimmern" etwas sagen lassen.
"Ich bin ein unbesiegbarer Ritter"
Mittwochnachmittag: Es regnet und die "Hummeln" dürfen nach dem Mittagessen und der Ruhezeit drin spielen. Die Kostümkiste wird diesmal geplündert. Heiß begehrt sind die rosa und glitzernden Tücher für die Prinzessinnen- und Feenoutfits bei den Mädchen, während Leo und seine Kumpels sich die schwarzen Tücher raus kramen, um sich in wehrhafte Ritter oder Piraten mit entsprechend martialischen Gesten zu verwandeln. Natürlich finden dann auch Kämpfe statt, denn einen Gewinner muss es ja schließlich geben, was unweigerlich bei den Unterlegegenen zu tiefer Trauer führt. Diesmal hat es Felix getroffen. Doch Kuscheleinheiten bei der Erzieherin helfen schnell über die Niederlage hinweg.
Auch solche Rollenspiele dienen den Kindergartenkindern dazu, sich in ihrer geschlechtlichen Identität sicher zu fühlen, so das Ergebnis nach dem Kita-Besuch. Gerade ab dem vierten Lebensjahr, beschreibt Diplompädagogin Claudia Wallner, sei es auffällig, dass sowohl Mädchen als auch Jungen solche Spiele besonders gerne auslebten und durch typisch männliche beziehungsweise weibliche Verkleidungen ihre Geschlechtszugehörigkeit deutlich demonstrierten. "Dass Mädchen unbedingt rosa Röcke tragen und mit Puppen spielen wollen und Jungen auf alle Fälle cool und stark sein wollen, Basecaps tragen und sich wild und gefährlichen inszenieren, ist vor allem dem Phänomen der Unsicherheit geschuldet."
Zu wild für die weibliche Kindergartenwelt
Jungs setzen sich dabei oftmals besonders intensiv in Szene, wollen unbesiegbar und allmächtig sein. So dokumentieren sie auf ihre Weise ihre Sehnsucht positiv wahrgenommen zu werden. Zu oft erleben sie nämlich in der noch immer von weiblichen Pädagogen geprägten Kindergartenwelt, ebenso wie später in der Schule, dass sie zu wild, zu laut, zu dominant, unkonzentriert und anstrengend seien und dass es eigentlich im Alltag manchmal gar nicht so gut ist, ein "richtiger Junge" zu sein.
"Papa ist bei uns der Chef"
Donnerstag 10 Uhr: Heute sind der Kaufladen und die Puppenküche in der Hummel-Gruppe besonders umlagert. Diesmal spielen sogar Jungs und Mädchen zusammen. Thema: Familie. Nachdem der Einkauf erledigt ist und Geschäftsführer Luis alles eingepackt hat, zückt Ben seine Spezialkreditkarte - eine abgelaufene Krankenkassenkarte - und bezahlt. "Das macht mein Papa auch immer so, wenn wir zusammen essen gehen. Dann lädt er mich, meine Schwester und Mama ein. Er verdient ja auch das Geld, wenn Mama auf uns aufpasst und ist deshalb auch der Chef. Das weiß auch der Kellner, denn er legt immer Papa die Rechnung hin." Elli, die mit eingekauft hat, ist damit einverstanden, dass Ben der Chef der Familie ist. Sie deckt den Tisch und bereitet das Essen aus dem Kaufladen vor. "Mein Papa zahlt auch meistens, wenn wie zusammen einkaufen. Dafür kocht Mama besser", erzählt sie. Streit gibt es heute zwischen den "Hummeln" jedenfalls nicht.
Aber woher kommen solche traditionellen Rollenbilder, obwohl viele Väter und Mütter - auch die in der Kita "Kunterbunt" - felsenfest davon überzeugt sind, eine moderne Beziehung auf Augenhöhe zu führen und versuchen ihre Söhne und Töchter nicht geschlechtsspezifisch zu erziehen? Zur Klärung dieses Widerspruchs half diesmal ein aufschlussreicher Test britischer Wissenschaftler der journalistischen Neugier auf die Sprünge. Im Auftrag des Forscherteams sollten Erwachsene mit Babys spielen, die sie nicht kannten. Das Besondere dabei war: Die weiblichen Babys trugen typische Jungenkleidung und umgekehrt. Die Testpersonen meinten nun aufgrund dieser Äußerlichkeiten, typisch weibliche beziehungsweise typisch männliche Vorlieben zu erkennen. Sie reichten den rosa gekleideten Jungen kleine Püppchen und gingen zärtlicher und behutsamer mit ihnen um, als mit den vermeintlichen Jungs.
Mütter und Väter zementieren Rollenbilder
Auch andere Studien haben nachgewiesen, dass Erwachsene offenbar unbewusst unterschiedlich auf Jungs und Mädchen reagieren. So reden Mütter und Väter nachweislich häufiger mit weiblichen Babys, deren Sprachzentrum sich im Durchschnitt schneller entwickelt als das ihrer männlichen Altersgenossen und die deshalb auch früher und ausführlicher auf die Worte der Eltern eingehen können. Dafür wird mit kleinen Jungs automatisch mehr getobt und wilder gespielt, so dass sich ihre motorischen Fähigkeiten schnell ausbilden. Doch maßgeblich für das Manifestieren von Rollenbildern bei Kindern ist, wie Eltern miteinander umgehen und sprechen. Denn das Verhalten und Vorbild der Mütter und Väter zementiert auch heute noch viele eher stereotype Rollenbilder - auch wenn diese manchmal in modernen Variationen daherkommen.
"Ich bin auch der Bügel-Boss"
Am Freitagnachmittag steht nämlich bei Ben und Felix Hausarbeit auf der Agenda. Während Felix das Miniwäschegestell mit Puppenkleidern bestückt, greift Leo zu Bügelbrett und Bügeleisen und beginnt die Tücher aus der Kostümkiste zu plätten. Akribisch zieht er das Eisen über den Stoff. So wie sein Papa das auch macht, erzählt er. "Der bügelt immer seine Hemden fürs Büro. Er ist eben auch der Bügel-Boss bei uns zuhause."