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Hajo Schumacher: Gefühlsporno Fußball


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Hajo Schumacher
Warum Männer beim Fußball so ausrasten

MeinungHajo Schumacher

Aktualisiert am 14.09.2018Lesedauer: 4 Min.
Jubelnde Männer: Fußball fesselt und entfacht bei Männern besonders viele Emotionen.Vergrößern des Bildes
Jubelnde Männer: Fußball fesselt und entfacht bei Männern besonders viele Emotionen. (Quelle: Ivanko_Brnjakovic/getty-images-bilder)
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Warum entgleisen erwachsene Männer mit dem Anpfiff? Warum hat der Fußball eine solche Macht? Ist es nur die sportliche Leistung? Nein, sagt Hajo Schumacher in seinem neuen Buch "Männerspagat". Fußball bietet Ersatzemotionen für Kerle, die ihre Gefühle im richtigen Leben nicht zeigen können. Ein Auszug aus Hajo Schumachers neuem Buch:

Männer sind manchmal rätselhaft. Wir verabscheuen unfaire Löhne, schlechte Shows, Flunkereien und das Gefühlsgedusel unserer Partnerinnen, sobald es um Prinz Harry geht. Aber, wehe, der Fußball rollt. Dann legen wir das löchrige Leibchen unseres völlig bedeutungslosen Viertligisten wie eine Rüstung an, wir planen unser Leben rings um noch so belanglose Spiele und machen dabei merkwürdige Geräusche. Fußball verleitet normale Männer zu merkwürdigen Verhaltensauffälligkeiten. Wie aber ist diese unheimliche Macht von elf Milchbärten in kurzen Hosen und einer Lederkugel zu erklären? Sportbegeisterung? Wohl kaum. Es handelt sich vielmehr um eine typisch männliche Gefühlsauslagerung.

"Jungen weinen nicht"

Therapeuten, die sich um ausgebrannte oder depressive Männer kümmern, diagnostizieren bei fast all ihren Patienten ein ähnliches Muster: Schon als Junge lernen wir, unsere Gefühle für uns zu behalten. In bis heute überwiegend weiblich geführten Kitas und Grundschulen ist Toben und Prügeln verpönt. Noch immer gilt: Jungen weinen nicht. Hinzu kommt der Heldenfimmel, der Männer von klein auf auf seine Rolle als einsamer Kämpfer trimmt: Clint Eastwood, Frodo, Bob Dylan – im Ernstfall sind wir allein auf uns gestellt. "Klappe halten, weitermachen" – "Stell' Dich nicht so an!" – "Schmerz ist Schwäche, die den Körper verlässt" – über solche Sprüche mögen wir lachen. Aber in Wirklichkeit meinen wir sie ganz schön ernst. Cool ist King.

Fußball als Sprache der Gefühle

Gefühlsabwehr ist ein Merkmal des Männlichen, Emotionen sind Frauensache. Doch unterdrückte Gefühle, ob Schuld oder Scham, Angst oder Zorn, stauen sich über die Jahre und können zu Süchten führen, zu dauerhafter Niedergeschlagenheit, unkontrollierten Wutausbrüchen oder therapeutischem Konsumieren. Wir suchen nach Anerkennung im Außen, ob mit fettem Gusseisengrill, dicken Autos oder Gin-Expertise. Hilft aber alles nichts. Und nun kommt der Fußball ins Spiel. Mit dem Anpfiff darf der Mann im geschützten Kicker-Reservat plötzlich ins Gefühl tauchen, aus sich rausgehen, brüllen, jubeln, weinen, leiden – all das ausleben, was er sich im richtigen Leben versagt. Die Emotionen werden gleichsam outgesourced, aber führen mitunter zu einer Blutgrätsche gegen sich selbst. Denn Fußball macht es leicht, das wirkliche Empfinden zu überspielen.

Körperlich und seelisch: 90 Minuten Kraftentladung

Ich gestehe mein gespaltenes Verhältnis zum Kicken. Auf der einen Seite sehe ich die gigantische kulturelle Leistung, Konflikte und ihre Lösung ritualisiert und entschärft zu haben. Fußball bietet Ersatzkrieg, Gewalt, Aggression, Wut, Ekstase, Verzweiflung, kollektive Lust. Ein gewaltiges Arsenal an überschüssigen Gefühlen wird in einem festen Rahmen von meist 90 Minuten und strukturierten Spielplänen abgelassen und ist deutlich sozialverträglicher, als wenn sich diese kollektive Kraft von Millionen Männerseelen auf archaischeren Umwegen entladen würde.

Auf der anderen Seite erlebe ich einstmals intelligente, zugewandte Männer, die über nichts anderes mehr reden als die 4-2-4-Formation eines unspektakulären Zweitligisten, über Transfersummen, Kreuzbänder und Taktiken. Ich ärgere mich, wie wir Unmengen positiver Energie im Bällebad versenken. Über Skandale, Betrügereien, Milliardenschlachten, die uns in der Politik, im Kapitalismus an sich und überall anders zu Recht empören, sehen wir gnädig hinweg und üben konsensual die Realitätsflucht in die Märchenmaschine.

"Fußball ist Gefühlsporno"

Es ist wie beim Konsum von Pornofilmchen: Männer schauen zu, empfinden mit, aber ohne Verpflichtung. Fußball ist Gefühlsporno und, ja, manchmal auch ziemlich geil. Der Rausch beispielsweise, die der Jahrhundert-Fallrückzieher von Cristiano Ronaldo im Champions-League-Spiel gegen Juventus Turin auslöste, war überwältigend. Wie eine Rakete rasten Adrenalin, Endorphin durch die Blutbahnen. Was ist der Unterschied zwischen Heroin und einem Sky-Abo? Praktisch keiner – beides macht süchtig nach dem nächsten Kick, führt aber dauerhaft zu Persönlichkeitsveränderungen.

Das emotional aufgeladene Gekicke könnte eine großartige Brückentechnologie bilden – die entdeckten Gefühle müssten nur auf das richtige Leben übertragen werden. Ist aber oft nicht so. Der Fußball ist seine eigene Welt, ein Fluchtraum, abgeriegelt gegen die komplexe Welt da draußen wie Daily Soaps oder Romane: Man kennt die Akteure, man will dabei sein, wissen, wie es weitergeht. Man ist mittendrin in einem Geschehen, das als Ersatz für Freundeskreis und Familie gleichermaßen dient, womöglich auch als Abbild des eigenen Ichs. Die Historie des Lieblingsklubs ist ja oft eine Art Selbstbeschreibung: Früher, da lief's. Jetzt gerade nicht so. Aber: Wird schon, muss ja. Schaaalke.

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Ist die Heldenmaschine Fußball geeignet, den emotional verkarsteten Mann zu lockern und zu öffnen? Ist der Millionenkicker tatsächlich ein gesundes Vorbild, wenn sich schon Grundschüler auf dem Platz und in der Kabine schlimmer aufführen als Lothar Matthäus? Oder ist die Fußballwelt nicht vielmehr ein Refugium altmodischer Männlichkeitsbilder?

Geschlechterrollen auf dem Fußballplatz

Um mir die Illusion vom gesunden Leben zu verschaffen, besuche ich bisweilen einen öffentlichen Sportplatz. Dort trabe ich ein paar Runden und simuliere Gymnastik, wie ich sie beim Physiotherapeuten auf dem Plakat gesehen habe. Oft tollen dort jugendliche Fußballer umher. Noch häufiger als ihr Smartphone checken sie die Frisur. Dann wird gerotzt und über das Trikot des Mitspielers gespottet. Wie immer: Je unbeweglicher der Spieler, desto teurer die Klamotte. Mutti steht derweil mit Elektrolyten am Rand und wartet auf einen Spielervermittler. Sprinten, Flanken, Grätschen? Och nee, Trainer, ist so anstrengend. Die aufgeblasenen Prinzen spielen halt nach, was sie im Fernsehen sehen – dicke Hose.

Neulich erzählte mir eine Mutter von der Fußballbesessenheit ihrer Tochter, 12. Sie spiele so gut, dass sie seit sieben Jahren bei den Jungen kickt, offenbar ein Stahlgewitter. Permanent wird sie von Gegenspielern blöde angequatscht, allein unter Jungs steht sie in der Kabine. Als sie in einem harten Spiel den Siegtreffer erzielte, drehte die gegnerische Mannschaft komplett durch. Die Spieler brüllten sich gegenseitig an, dass man ja wohl "gegen ein Mädchen" nicht verlieren dürfe. Der Trainer brüllte die Abwehr nieder. Der Torwart wurde von seinem Vater geohrfeigt. Einzelfall? Vielleicht. Aber womöglich auch der Nachweis, dass gerade der Fußball überkommene Rollenbilder eher verstärkt als mildert.

Verwendete Quellen
  • Hajo Schumacher: "Männerspagat"
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