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Zum journalistischen Leitbild von t-online.50 Jahre internationaler Umweltschutz Eine vernichtende Bilanz
Vor 50 Jahren haben sich die Vereinten Nationen auf ein großes Ziel geeinigt: die Rettung der Umwelt. Versprochen wurde seitdem viel. Zum Jubiläum gibt es jedoch wenig zu feiern, ganz im Gegenteil.
"Ist es unrealistisch zu erwarten, dass der Mensch weise genug ist, das zu tun, was er für sein eigenes Wohlergehen tun muss?" Diese Frage ist bereits ein halbes Jahrhundert alt. Es sind die Worte des kanadischen UNO-Funktionärs Maurice Strong, der mit seiner Rede die Stockholmer Umweltkonferenz 1972 eröffnete.
Der Gipfel war der erste seiner Art und brachte Umweltpolitik erstmals auf die internationale Agenda. Nun trifft die Weltöffentlichkeit in Stockholm erneut zu einer UN-Konferenz zusammen, um Bilanz zu ziehen – und die ist bitter.
Erste Anzeichen einer drohenden Klimakrise und die zunehmende Umweltverschmutzung ließen vor 50 Jahren einen Großteil der Weltgemeinschaft in der schwedischen Hauptstadt zusammenkommen. Unter dem Einfluss des Kalten Krieges boykottierten nach dem Ausschluss der DDR die Ostblockstaaten mit Ausnahme Rumäniens die Konferenz. Doch die mehr als 100 anwesenden Länder einigten sich auf eine Erklärung, die mit 26 Prinzipien und 109 Empfehlungen die Umwelt in der nationalen wie internationalen Politik an erste Stelle bringen sollte.
Viele gute Absichten, wenig gute Taten
50 Jahre später hat sich tatsächlich einiges getan: Die Klimakrise ist wissenschaftlich belegt und wird immer besser erforscht, regelmäßige Gipfeltreffen sorgen für globalen Austausch, in vielen Bereichen eröffnen neue Technologien Möglichkeiten, die man sich 1972 noch nicht erträumen konnte.
Seit der Stockholmer Abschlusserklärung wurden auch etliche weitere Abkommen geschlossen – beispielsweise das Pariser Klimaabkommen mit dem 1,5-Grad-Ziel oder die Agenda 2030, die die internationalen Ziele für nachhaltige Entwicklung festlegt. In Stockholm soll es vorrangig um die Umsetzung dieser Abkommen gehen.
Denn: Trotz der vielen guten Absichten wurde zu wenig getan. Eine Analyse des unabhängigen Stockholm Environment Institute (SEI) und des indischen Think Tanks Council on Energy, Environment and Water (CEEW) kommt zu dem Schluss: Nur zehn Prozent der seit 1972 vereinbarten internationalen Ziele zum Umweltschutz und zur nachhaltigen Entwicklung wurden erreicht oder haben bedeutende Fortschritte erlebt.
"Besser gerüstet als je zuvor"
Es mangele nicht mehr, wie noch 1972, an Wissen und Mitteln, sondern ausschließlich an der Umsetzung. "Wir sind für den Wandel besser gerüstet als je zuvor", schreiben die Autoren. Doch die menschliche Beziehung zur Natur und die menschliche Lebensweise müssten völlig neu definiert werden, damit es in weiteren 50 Jahren keine "Stockholm+100"-Konferenz brauche.
Denn seit 1972 hat sich die Weltbevölkerung verdoppelt, die Weltwirtschaft vervierfacht, der Welthandel verzehnfacht, wie die Autoren feststellen. Das ging an Umwelt und Klima nicht spurlos vorbei. Dazu kommen globale Herausforderungen wie die wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie.
Die Veranstalter der diesjährigen "Stockholm+50"-Konferenz sprechen daher von einer dreifachen Krise: der Klimakrise, dem Verlust der biologischen Vielfalt und der Umweltverschmutzung.
Die Menschheit habe nun die Wahl, heißt es. Man könne den Weg der letzten 50 Jahre weitergehen, welche geprägt gewesen seien von "unausgewogenem Wachstum, ungleichem Wohlstand und nicht nachhaltigem Konsum". Dies habe zu "Ungleichheit, Krankheit, Misstrauen und Hoffnungslosigkeit für die vielen und einem guten Leben für die wenigen" geführt, so die Veranstalter.
Man wolle sich daher auf die Abschlusserklärung von 1972 rückbesinnen, so die Ankündigung. Denn die Stockholmer Prinzipien sind zum Großteil noch genauso relevant wie vor 50 Jahren – um sich dessen bewusst zu werden, reicht ein Blick auf die aktuellsten Entwicklungen.
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Von Grundrechten und Verantwortung
"Der Mensch hat das Grundrecht auf Freiheit, Gleichheit und angemessene Lebensbedingungen in einer Umwelt, deren Qualität ein Leben in Würde und Wohlbefinden ermöglicht, und er trägt die feierliche Verantwortung, die Umwelt für die heutigen und künftigen Generationen zu schützen und zu verbessern."
Es ist das erste der 26 Prinzipien – und wohl auch das wichtigste. Denn der Satz ist eine Art Leitgedanke, den der "Report über die menschliche Umwelt", wie die gemeinsame Erklärung der Staaten genannt wurde, in den weiteren Punkten spezifiziert.
Schutz der Ressourcen für heutige und künftige Generationen
Luft, Wasser, Boden, Pflanzen- und Tierwelt sollen für den Nutzen heutiger und künftiger Generationen geschützt werden, schrieben die Länder 1972 fest. Die Erhaltung der Natur müsse bei der Bewirtschaftung einen hohen Stellenwert bekommen, nicht erneuerbare Ressourcen dürften nur so bewirtschaftet werden, dass es keine Gefahr einer Erschöpfung gebe.
Doch mittlerweile weiß die Menschheit: Die Klimakrise ist mit den bisherigen Maßnahmen kaum noch aufzuhalten. Das Pariser Ziel, die Erderhitzung auf 1,5 Grad zu beschränken, kann laut dem im April veröffentlichen Bericht des Weltklimarats zwar noch erreicht werden, wird es wohl wohl aber nicht – denn die Bereitschaft zu dem dafür notwendigen, grundlegenden und schnellen Politikwandel lässt sich derzeit nicht erkennen.
Die Weltwetterorganisation prognostizierte kürzlich, die Marke werde mit hoher Wahrscheinlichkeit bereits in den nächsten fünf Jahren erstmals geknackt – was noch keine Bankrotterklärung wäre, aber doch ein deutliches Zeichen.
Naturkatastrophen werden wahrscheinlicher
Und auch mit der Generationengerechtigkeit ist es nicht weit her: Beispielsweise nimmt die Wahrscheinlichkeit von Extremwetterereignissen immer weiter zu. Ein Kind, das heute geboren wird, könnte eine Welt erleben, die vier Grad wärmer ist als die vorindustrielle Erde. Es würde wohl bis zu sieben Mal mehr Hitzewellen erleben als eine Person, die 1960 geboren wurde, so der Bericht von SEI und CEEW.
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Und die Wahrscheinlichkeit von Naturkatastrophen wächst weiter: Mittlerweile gehen Wissenschaftler davon aus, dass es sogenannte Kippelemente gibt, also Systeme wie Eisschilde in der Antarktis oder den Amazonas-Regenwald. Werden sie über einen bestimmten Punkt hinweg zerstört, kann die Entwicklung nicht mehr umgekehrt werden – das könnte den Kollaps weiterer Systeme nach sich ziehen.
Die zunehmende Zerstörung von Regionen wie dem Amazonas-Regenwald hängt wiederum mit der Übernutzung der Ressourcen zusammen – gegen die sich die Länder in den Stockholmer Prinzipien eigentlich ebenfalls ausgesprochen hatten. Forscher rechnen jedes Jahr den sogenannten Erdüberlastungstag aus: den Tag, an dem das "Budget" an Ressourcen, die nachhaltig genutzt werden können, für das laufende Jahr verbraucht ist. Jedes Jahr ist dieser Tag früher.
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Auch die Artenvielfalt nimmt seit Jahren ab, ganze Ökosysteme sind in Gefahr. Die Weltnaturschutzorganisation führt die sogenannte Rote Liste der vom Aussterben bedrohten Arten. Mehr als 40.000 stehen darauf – 28 Prozent aller bekannten Tier- und Pflanzenarten gelten somit als gefährdet.
Schutz der Ökosysteme – gescheitert?
Der "Report über die menschliche Umwelt" verbietet zudem die Umweltverschmutzung. Es solle sichergestellt werden, "dass den Ökosystemen keine schweren oder irreversiblen Schäden zugefügt werden". Insbesondere der Schutz der Meere wird dabei hervorgehoben.
Doch die jüngsten Statistiken zeigen, dass der Ausstoß von Treibhausgasen nach einer kurzen Pandemie-Pause durch die weltweiten Lockdowns mittlerweile wieder angestiegen ist. Nicht nur die Temperatur der Luft, sondern auch die der Ozeane steigt, weswegen ihre Fähigkeit, Kohlenstoffdioxid zu binden, sinkt.
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Im Pazifik schwimmt zudem ein riesiger Teppich aus Plastikmüll. Selbst in den entlegensten Teilen der Ozeane wurde mittlerweile Mikroplastik nachgewiesen – im März dieses Jahres fanden Forscher die winzigen Partikel sogar in menschlichem Blut.
Entwicklungsländer leiden besonders
Doch den Teilnehmerstaaten von 1972 ging es nicht nur um die Natur: Für die "Gewährleistung eines günstigen Lebens- und Arbeitsumfeldes für den Menschen" soll auch die soziale und wirtschaftliche Entwicklung vorangetrieben werden, hielt die Stockholmer Abschlusserklärung fest – immer im Einklang mit dem Naturschutz.
Entwicklungsländer sollen dabei mit finanzieller und technologischer Hilfe unterstützt werden. Im "Geiste der Zusammenarbeit" sollen Umweltangelegenheiten von allen Staaten gleichermaßen behandelt werden, schrieben die Teilnehmer nieder.
Heute sieht die Realität anders aus: Es sind gerade die Menschen in den Entwicklungsländern, die die Folgen des hauptsächlich von den Industrienationen verursachten Klimawandels besonders deutlich zu spüren bekommen. Dies attestierte zuletzt auch der Bericht des Weltklimarats.
Und gerade der Kampf gegen die Klimakrise zeigt, wie unterschiedlich ernst es den Staaten mit dem Einsparen von Emissionen ist – auch Deutschland reiht sich noch immer unter den größten Luftverpestern ein.
Appell von 1972: Handeln an der Umwelt ausrichten
"Wir sind an einem Punkt in der Geschichte angelangt, an dem wir unser Handeln auf der ganzen Welt so gestalten müssen, dass die Folgen für die Umwelt besser berücksichtigt werden", hieß es in der Abschlusserklärung von 1972. Dieselbe Forderung stellen heute nicht nur die Aktivisten von "Fridays for Future", auch viele Politiker scheinen sich dem Ernst der Lage bewusster zu sein als je zuvor.
Und noch eine neue Herausforderung ist dazu gekommen: Umwelt- und Klimaschutz gehören zwar untrennbar zusammen, können sich allerdings auch widersprechen, wenn zum Beispiel der Rohstoffabbau für E-Auto-Batterien Unmengen an Wasser schluckt und die Umwelt mit Chemikalien vergiftet.
"Die Menschheit hat vielleicht gerade noch eine geringe Chance, ihr Überleben für einige Zeit zu sichern", darum ginge es in Stockholm, schrieb die "Zeit" im Juni 1972. Dies scheint 50 Jahre später aktueller denn je.
- Eigene Recherche
- Stockholm+50: "It’s time for bold choices. It’s time for urgent action. It’s time for a better future on a healthy planet."
- Stockholm+50: "A Healthy Planet for the Prosperity of All –
Our Responsibility, Our Opportunity – Concept Note" - United Nations: United Nations Conference on the Human Environment, 5-16 June 1972, Stockholm
- United Nations: Report of the United Nations Conference on Human Enviroment
- SEI, CEEW: "Stockholm+50: Unlocking a better Future"
- Maurice Strong Foundation: "1972 Stockholm Conference: opening statement"
- "Zeit": "Vielleicht noch eine Chance zum Überleben"