Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Moderner Ablasshandel Scham als Freischein fürs Böse
Heizscham, Flugscham, Fleischscham? Kein Problem! Einfach fliegen, heizen, Steak essen und das schlechte Gewissen dabei herausschreien. So gelingt das gute Leben auch zu Zeiten des Klimawandels.
Neulich hat eine Kollegin, die das Stethoskop immer am Herzschlag der sozialen Netzwerke hat, in der Konferenz nur ein Wort gesagt: "Heizscham". "Heizscham trendet gerade total", sagte sie. Für einen kurzen Moment war es mucksmäuschenstill am Tisch, über dem unausgesprochen ein Satz hing: Dazu müssen wir unbedingt was machen. Darin waren sich alle einig und dankbar für den Hinweis.
Damit Sie das verstehen, wenn Sie digital nicht so auf Zack sind: Trenden, das heißt, ein Schlagwort steht ganz oben in der Hitliste bei X (vormals Twitter) und Google und TikTok und überhaupt. Also: Das ist gerade der heißeste Stoff. Jedenfalls in der virtuellen Welt, die wir inzwischen für die reale halten. Bei Trends sind wir in der Redaktion verständlicherweise immer ganz schnell elektrisiert. Was die Leute interessiert, muss uns auch interessieren. Also: Heizscham? Okay, Heizscham. Jawoll, da müssen wir was machen.
Die Heizscham hat viele Geschwister
Der Begriff geht mir seit diesem Morgen nicht mehr aus dem Kopf. Heizscham. Heizscham, man muss das kurz erklären, ist das schlechte Gewissen, das ich bekomme, wenn ich bei kühleren Außentemperaturen beginne, das Thermostat der wieder eingeschalteten Heizung sanft hochzudrehen. Und dabei an das viele böse CO2 denke, das dann durch den Kamin geht.
Die noch junge Heizscham hat viele Geschwister. Schon etwas älter, beinahe schon in der Pubertät, ist die Flugscham. Mit der fing es irgendwie an. Bestimmt gibt es aber auch eine Fleischscham, eine Pornoscham, eine Schokoladenscham, eine Verbrennermotorscham.
Die Mechanik dieser Scham funktioniert immer gleich: Wir wissen, dass das, was wir gerne machen, schlecht ist. Vor allem und zuvorderst für die Umwelt, fürs Klima. Wir tun es aber trotzdem, indem wir einen Ryanair-Flug nach Mallorca buchen, Fleisch von methanrülpsenden und -furzenden Kühen in die Pfanne hauen oder eben die Heizung aufdrehen. Und danach gehen wir zu X (oder Y), jedenfalls in irgendein soziales Netzwerk und blasen neben den Klimagasen auch noch unser schlechtes Gewissen in die Welt. (Was übrigens auch wieder ganz viel CO2 freisetzt mit all den riesigen zu kühlenden Hochleistungsrechnern, die überall herumstehen.)
Wie wär's mit einem zweiten Pulli?
Man könnte diesen diversen Schamen natürlich ganz leicht entgehen. Indem die Flugreise eben ausfällt für einen Fahrradurlaub. Oder indem wir uns daheim den zweiten Pulli und ein Extrapaar Wollsocken überstreifen. Dann wäre das Leben aber nur halb so schön. Lieber weit fliegen und muckelig heizen – und hinterher öffentlich drüber greinen. Das ist die Lösung der praktischen Vernunft. So gelingt das gute Leben zu Zeiten des Klimawandels.
Im Grunde ist das ein uraltes Muster, an dem sich schon die Kirche gesundgestoßen hat wie heute Elon Musk, der Herrscher der neuen Kirche Tesla. Der Vatikan hat im Mittelalter bedruckte Zettel verkauft für viel Geld, die dem Käufer als Quittung dafür dienten, dass seine Sünden hiermit erlassen seien. Der Ablasshandel hat irgendwann ein Mönchlein aus Eisleben so auf die Palme gebracht, dass er seine eigene Kirche gegründet hat. Aber das ist eine andere Geschichte.
Die diversen Schamen, die im Netz flagellantenartig bekannt werden, sind ein Spiegel unserer Zeit. Philosophen haben den zugrunde liegenden Gedanken als "Als ob"-Prinzip bezeichnet: Ich tue, wozu ich Lust habe, schreie hinterher mein schlechtes Gewissen heraus – und fühle mich dadurch so, als ob ich es nicht getan hätte. Dann habe ich beides: Meine Lust an der sinnlosen Spritztour mit meinem alten 500er SE (giftiger V8, 15 Liter auf 100 Kilometer bei einer Fahrweise, die man schönfärberisch sportlich nennt) und ein – halbwegs – gutes Gewissen dabei, habe ich schließlich hinterher am Smartphone um digitalen Ablass gebeten. Fertig.
Biobrötchen im SUV abholen
Nichts anderes sehe ich übrigens jeden Sonntagmorgen beim Biobäcker zu Hause in Berlin-Lichterfelde-West: Da kommen die jungen Väter, zwei süße Kinder in Barbour-Jacken an der Hand, mit dem dicken Audi SUV, den sie im Parkverbot abstellen, um schnell Biobrötchen für Mondpreise zu kaufen, um hinterher dem wuchtigen Straßenkreuzer wieder das Benzin in die Brennräume zu pumpen, dass es hinten nur so dampft.
Oder die Straßen-Klimakleber, die ab und zu einen kleinen Ausflug nach Thailand inklusive Langstreckenflug machen. Die Flugscham ist vorher mit Zwei-Komponenten-Kleber auf dem Asphalt weggeklebt worden. Sie haben damit eine Art individuellen Emissionshandel betrieben, eine Art CO2-Zertifikat erworben – auf nervliche und auch monetäre Kosten von Berufspendlern und Lieferanten, aber zugunsten eines eigenen Langstreckenfluges nach Asien.
Ein ganz frivoler Gedanke
Wir haben dann, logo, zur Heizscham ganz schnell was gemacht in der Redaktion. Eine Umfrage. Leiden Sie an Heizscham? Ja oder Nein. Ergebnis: Nur fünf Prozent der t-online-Leserinnen und -Leser empfanden Heizscham.
Vielleicht, nur so als frivoler Gedanke, hat die virtuelle Welt, das real existierende Metaversum doch nicht so viel mit der wirklichen Welt zu tun, wie wir meinen. Das wäre im Übrigen über den Einzelfall hinaus doch mal eine sehr erfreuliche Erkenntnis.
- Redaktionskonferenz, eigener Verstand