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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Zustand der Erde "Das kann sogar die Klimakrise übertreffen"
Noch nie stand die Tierwelt so nah am Abgrund. WWF-Chef Christoph Heinrich über die Schuld des Menschen und wie wir uns aus dieser riskanten Lage befreien können.
Seit mehr als 10.000 Jahren finden sich Menschen in nahezu jedem Winkel der Erde. Doch keine unserer Vorfahrengenerationen schaffte, was die heutige Weltbevölkerung innerhalb weniger Jahrzehnten zustande brachte: das größte Massensterben seit Ende der Dinosaurier.
Im Interview bei t-online erklärt Christoph Heinrich, Chef der Umweltorganisation WWF in Deutschland, wieso der Mensch eine Art moderner Asteroideneinschlag ist, wie Maikäfersuppe helfen könnte – und weshalb gerade die Bauern nicht an den Pranger gehören.
t-online: Herr Heinrich, der WWF setzt sich seit mehr als 60 Jahren für den Schutz von Tieren und Pflanzen ein. Die Zerstörung der Natur hat in dieser Zeit aber zu- statt abgenommen. Was läuft schief?
Christoph Heinrich: Wir sind immer rücksichtsloser darin geworden, wie wir unsere Umwelt verändern. Das hat Konsequenzen. Der Mensch formt die Erde zwar schon seit der Steinzeit, aber es sind unser Egoismus und unsere Kurzsichtigkeit in den vergangenen Jahrzehnten, die Klimakrise und Artensterben ausgelöst haben.
Also am besten zurück in die Bronzezeit für den Artenschutz?
Nein, wir müssen nicht zurück in die Höhle. Die Erfahrung zeigt, dass wir bei allem Fortschritt andere Lebewesen mitdenken müssen. Und das wird höchste Zeit: Die Ökosysteme an Land und im Meer sind inzwischen so stark mitgenommen, dass es für viele Arten sehr eng wird.
Wie schlimm steht es um die Artenvielfalt konkret?
Wenn man beobachtet, wie sich die Bestände der Säugetiere, Vögel, Fische, Reptilien und Amphibien entwickeln, ist das wachsende Risiko ganz offensichtlich: Wir haben weltweit zwei Drittel weniger Tiere als noch im Jahr 1970. Bei den Insekten sind die Zahlen im gleichen Zeitraum um mehr als 75 Prozent eingebrochen – und das allein in Deutschland. Das Artensterben beschleunigt die Erderhitzung und umgekehrt. Langfristig kann die Dimension des Artensterbens das Problem der Klimakrise sogar übertreffen.
Welche Tiere sind besonders betroffen?
Beispielsweise lebten in den Regenwäldern Westafrikas vor wenigen Jahren noch Tausende Gorillas, jetzt sind nur noch sehr wenige übrig. Auch die Bestände der Amazonasdelfine schrumpfen schneller als bei fast jeder anderen Art. Der Tierschwund greift aber auch in Europa um sich: Hier haben wir zum Beispiel innerhalb von rund vierzig Jahren mehr als die Hälfte der Feldlerchen verloren. Das ist dramatisch.
Schon immer sind einige Arten ausgestorben und andere hinzugekommen. Wie unterscheidet sich die jetzige Situation davon?
Das natürliche Aussterben verläuft sehr langsam und auf einem geringen Niveau – es ist die Grundlage der Evolution. Das heutige Massensterben hat damit nichts zu tun: Wissenschaftler schätzen, dass die Sterberate aktuell bis zu 1000-fach höher ist als normal.
Christoph Heinrich, WWF Deutschland
Als geschäftsführender Vorstand verantwortet Christoph Heinrich die Arbeit des WWF rund um Naturschutz und den Erhalt der Artenvielfalt. Der Fokus der Organisation liegt dabei auf den Tropen, den gemäßigten Klimazonen sowie auf Deutschland. Seine berufliche Laufbahn begann der Diplom-Geograf bei der Umweltschutzorganisation NABU, 2004 wechselte er zum WWF.
Aber auch Massenaussterben hat es bereits gegeben.
Das stimmt, es gab schon fünf große Wellen. Am bekanntesten ist der Asteroideneinschlag vor 66 Millionen Jahren, der für die Dinosaurier der Anfang vom Ende war. Die Erde ist auch schon einmal fast vollständig vereist, was massenweise Arten ausgelöscht hat. Heute sind wir es: Der Mensch ist quasi ein moderner Asteroideneinschlag. Auf den ersten Blick mag der Vergleich hinken, weil das, was wir mit dem Planeten anstellen, viel subtiler scheint und die Folgen viel langsamer sichtbar werden. Aber die Konsequenzen sind auf lange Sicht ähnlich. Wenn innerhalb weniger Jahrzehnte die artenreichsten Ökosysteme verschwinden, geht es nicht mehr nur um das Überleben von Tier- und Pflanzenarten.
Kurz: Es geht auch uns an den Kragen.
Auf jeden Fall. Wir vergessen manchmal, dass wir auch nur Säugetiere sind. Kollabiert unser natürlicher Lebensraum, sieht es für uns genauso finster aus wie für alle anderen Lebewesen.
Woran denken Sie da genau?
Wir sind dabei, die Ökosysteme, die diesen Planeten zu einem angenehmen Ort machen, in eine Wüste zu verwandeln: degradierte Ackerböden, verseuchtes Grundwasser, Mikroplastik überall, ausgetrocknete Moore, abgeholzte Wälder, zubetonierte Landstriche. Ausgerechnet in der Klimakrise verlieren wir so unseren engsten Verbündeten.
Wie meinen Sie das?
Wäre die Natur intakt, könnten Wälder, Meere und Pflanzen eine enorme Menge der menschengemachten Treibhausgase aufnehmen. Aber in diesem lädierten Zustand funktioniert das nicht. Wir sind auch deshalb selbst schuld, dass Dürren, Überschwemmungen und steigende Temperaturen immer extremer werden.
Experten haben vor allem unsere Ernährung im Auge: Nichts schade der Natur mehr als unsere Essensvorlieben. Wie hängen Umweltzerstörung und Artensterben mit dem zusammen, was wir auf dem Teller haben?
Der weltweite Appetit auf tierische Erzeugnisse, wie Fleisch, Wurst oder Käse ist das größte Problem – und die Nachfrage wächst jedes Jahr. Um Schritt zu halten, müssen jährlich mehrere Milliarden Tiere schlachtreif gefüttert werden, viele bekommen Soja zu fressen. Das stammt oft aus Südamerikas Regenwaldregionen, wo immer mehr Flächen für Sojaplantagen und Rinderfarmen abgeholzt werden.
Die Weltbevölkerung hat kürzlich die Marke von acht Milliarden geknackt. Bräuchten wir diese Gebiete möglicherweise ohnehin, um zukünftig genug Lebensmittel anzubauen?
Das ist ein Irrtum. Gerade mit einer stetig wachsenden Weltbevölkerung können wir es uns nicht leisten, wichtige Ökosysteme wie Regenwälder für Landwirtschaft zu roden – das befeuert die Erderhitzung und macht es durch mehr Dürren und Hitze noch schwieriger, die Welt zu ernähren. Im Gegenteil: Wir müssen die Flächen, die wir haben, effizienter nutzen als bisher. Und das klappt, wenn wir darauf Lebensmittel für Menschen statt für Tiere anbauen.
Speisemais für den Grill sticht also Futtermais fürs Rind.
Genau. Auf dem Feld mag der Ertrag ähnlich sein, aber es kommt darauf an, was am Ende auf dem Teller liegt. Ein Rind muss zehn Kalorien aus seinem Futter ziehen, um daraus eine Kalorie Fleisch zu machen. Das ist unheimlich ineffizient, wenn man bedenkt, dass man die zehn Kalorien aus pflanzlicher Quelle auch direkt selbst essen könnte. Um denselben Nährwert aus Fleisch zu bekommen, ist also das Zehnfache an Ackerfläche nötig. Mit ein und demselben Stück Land kann man eine oder zehn Personen satt kriegen – je nachdem, was dort wächst. Ganz davon abgesehen, dass die Haltung und Verarbeitung von Tieren ein Siebtel der globalen Treibhausgase produziert.
Wenn wir alle auf Fleisch verzichten, wäre das Problem gelöst?
Wir müssen unsere Ernährung umkrempeln. Das reicht aber nicht. Fast überall werden die Felder überdüngt – sie werden dadurch weniger fruchtbar und geben mehr CO2 ab als sie aufnehmen. Die Äcker werden zu Schornsteinen. Gleichzeitig werden große Mengen Pestizide verspritzt und vielerorts fehlen Blühpflanzen – auf einmal sind die Bienen, Schmetterlinge und Insekten weg, die unser Obst und Gemüse bestäuben. Das ist für die Bauern selbst ein Riesenproblem. Und es gibt kaum noch natürliche Rückzugsorte für Wildtiere. Wir haben die Landschaften mit unserer intensiven Landwirtschaft sehr, sehr artenarm gemacht. Den ersten Schritt beim Fleischkonsum zu machen, ist aber gerade für Verbraucher ein guter Anfang.
Dass wir weniger Fleisch essen sollten, ist vielen bewusst. Es tut sich aber nur wenig – gerade in Deutschland polarisiert das Thema enorm. Wie soll das klappen?
Ich hoffe, dass die Diskussion reifer wird. Wenn man das Thema Fleischkonsum anspricht, schreien viele immer noch "Verzichtsdiktatur", dabei geht es überhaupt nicht um Verbote. So kriegt man die Leute nicht überzeugt. Weniger Fleisch heißt auch nicht, dass wir uns schlechter ernähren – im Gegenteil. Wer weniger Fleisch isst, kann sich höhere Qualität leisten. Das schmeckt auch besser. Und da haben wir noch gar nicht über die gesundheitsfördernde Wirkung gesprochen.
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So weit die Theorie. Wie kommen wir tatsächlich aus dem Grabenkampf ums Fleisch heraus?
Einerseits muss die Bundesregierung die Bevölkerung besser aufklären und andererseits braucht es finanzielle Anreize. Zum Beispiel sollte die Mehrwertsteuer auf pflanzliche Lebensmittel gesenkt werden.
Und die Steuer auf Fleisch und Wurst dafür hoch?
Fleisch würde sich automatisch etwas verteuern, wenn der Preis die tatsächlichen Produktions- und Umweltkosten widerspiegeln würde. Langfristig werden wir sicherlich über eine Nachhaltigkeitssteuer für Lebensmittel reden müssen, die die wahren Kosten berücksichtigt. Wer weiterhin gern Fleisch isst, soll das tun. Aber ich wünsche mir, dass wir unseren Fleischkonsum insgesamt deutlich gedrosselt kriegen. Alles andere schafft der Planet nicht.
Auf der Grünen Woche in Berlin war eine weitere Option Thema: Laborfleisch. Inwiefern kann Hack aus dem Reagenzglas eine umwelt- und tierfreundliche Lösung sein?
Das ist ein interessanter Ansatz. Es geht dabei um bestimmte Geschmackswelten und ein Angebot für Verbraucher, die mit Tofu und Seitan noch nicht viel anfangen können. Gesicherte Aussagen zu den Umweltwirkungen lassen sich jedoch noch nicht treffen. Problematisch scheinen der hohe Energieverbrauch, die bisher unverzichtbare Nutzung von Antibiotika und auch die Frage nach dem zugrunde liegenden Nährmedium zu sein. Eine andere interessante Option sind Insekten: Die haben gute Nährwerte, einen winzigen Öko-Fußabdruck und werden im Gegensatz zu Rind und Co. ganz verwertet. Das mag gewöhnungsbedürftig klingen, aber Maikäfersuppe war in Europa jahrhundertelang ein Hit. Und wir essen ja auch Shrimps – die sehen roh auch alles andere als appetitlich aus.
Beim Einkaufen spielt Artenschutz auch abseits der Fleischtheke eine Rolle. Umweltfreundliche Bio-Lebensmittel kosten meist mehr als reguläre Produkte. Wie kann man mit wenig Geld der Natur etwas Gutes tun?
Es ist ein Mythos, dass Bio-Lebensmittel teurer seien. Sogar die Discounter sind längst auf den Bio-Zug aufgesprungen. Da lohnt es sich, genau hinzuschauen. Als zuletzt die Milchpreise überall hochgegangen sind, hatte eine gute Bekannte in ihrer Bio-Ladenkette in Norddeutschland zum Beispiel bei Weitem die günstigste Milch im Umkreis. Produkte aus ökologischem Anbau sind auch sonst super. Das Obst und Gemüse ist manchmal kleiner, dafür aber total geschmacksintensiv. Und wer seinen Einkauf bewusster plant, schmeißt weniger weg. Das spart Geld und natürliche Ressourcen, da weniger Nahrung für den Müll produziert wird.
Nicht nur Verbraucher, auch Bauern sollen mehr für den Naturschutz tun. Dafür gibt es bereits Anreize. Funktionieren die?
Leider nein. Die Hauptschuld dafür tragen nicht die Bauern, sondern die europäische Agrarfinanzierung. Die Mitgliedsstaaten haben zuletzt immer wieder die notwendigen Reformen verweigert. Ganz lange wurde die Höhe der Fördergelder fast ausschließlich durch die Hofgröße bestimmt. Je mehr Hektar, desto mehr Geld. Seit Kurzem zählt auch, was die Landwirte für die Umwelt tun. Für entsprechende Bonuszahlungen fällt aber viel Bürokratie und Aufwand an – der Anreiz fehlt.
Also gut gemeint, schlecht gemacht?
Das Agrarsystem ist völlig gescheitert. Große Betriebe steigen deshalb zunehmend aus den EU-Zahlungen aus, während kleine Höfe nicht ohne können und die Mehrbelastung schlucken müssen. Die Landwirtschaft wird zur Zweiklassengesellschaft.
Herr Heinrich, herzlichen Dank für das Gespräch.
- Interview mit Christoph Heinrich, geschäftsführender Vorstand des WWF Deutschland