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Zwilling im Mutterleib verloren: Auf der Suche nach dem zweiten Ich


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Zwilling im Mutterleib gestorben oder getötet
Auf der Suche nach dem zweiten Ich

Simone Blaß

01.07.2014Lesedauer: 5 Min.
Vorgeburtliches Trauma: Der Tod eines Zwillings im Mutterleib geht am überlebenden Kind oft nicht spurlos vorbei.Vergrößern des Bildes
Vorgeburtliches Trauma: Der Tod eines Zwillings im Mutterleib geht am überlebenden Kind oft nicht spurlos vorbei. (Quelle: Thinkstock by Getty-Images-bilder)

Erzählungen von Menschen, in deren Körper Teile eines nicht ausgereiften Zwillingsembryos gefunden wurden, klingen wie Schauermärchen, aber das Phänomen wurde weltweit dokumentiert. Weniger spektakulär, aber häufiger, ist der frühe Tod eines Zwillings im Mutterleib. Manchmal wurde nie bemerkt, dass ein zweites Kind da war, manchmal wurde bewusst getötet. Die Auswirkungen auf den überlebenden Zwilling beginnt man gerade erst zu erahnen.

Wenn Mehrlinge getötet werden, geschieht das vor allem aus zwei Gründen: Da ist zum einen eine Grauzone, wenn die Reproduktionsmedizin unerwünschte Mehrlinge hervorgebracht hat, zum anderen die medizinische Indikation. Denn nach deutschem Recht ist es zulässig, eine Schwangerschaft zu beenden, wenn Gefahr für die Mutter besteht. Und zwar nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Der Paragraph 218 StGB lässt relativ viel Spielraum.

"Ich will keine Zwillinge"

"Ich bin völlig verzweifelt!“ schreibt eine werdende Mutter in einem Internetforum. "Ich will einfach keine Zwillinge! (..) Ich wünsche mir so sehr, dass ein Zwilling noch abgeht und überlege, eine Abtreibung zu machen." Sie ist nicht die einzige. Von 150 Fällen pro Jahr mit großer Dunkelziffer ist die Rede. Doch genaue Zahlen wird es nie geben. Genauso wie man von pauschaler Verurteilung absehen muss.

Letztendlich handelt es sich um die gleiche Problematik wie bei jedem anderen Schwangerschaftsabbruch - mit einer entscheidenden Ausnahme: Die Abtreibung eines Mehrlings beeinflusst den oder die Übriggebliebenen. Manche leiden lebenslang unter der traumatischen Erfahrung im Mutterleib, sofern sie sie nicht therapeutisch aufarbeiten können.

Fetozid lässt erfahrene Mediziner erschauern

Noch vor wenigen Jahren ist man davon ausgegangen, dass ein Kind im Mutterleib weder Schmerzen noch Gefühle empfinden kann. Heute weiß man es besser. Ein Aspekt, der auch die Mehrlingstötung in ein anderes Licht rückt. Ist eines der Ungeborenen nicht lebensfähig, fällt die Entscheidung für den so genannten Fetozid leichter. Ist dies nicht der Fall, so wird das Kind gewählt, das von der Bauchdecke der Mutter aus am leichtesten zu erreichen ist. Man spritzt ihm Schmerzmittel in die Nabelschnur und führt dann mit einer Kaliumchloridspritze den Herzstillstand herbei. Das Risiko, dass der gesunde statt des fehlgebildeten Embryos getötet wird oder dass alle Embryonen abgehen, wird in Kauf genommen.

In einem Artikel in der "Zeit" beschreibt ein ehemaliger Leiter einer Geburtshilfe- und Pränataldiagnostik-Station, dass ihm selbst nach vielen Jahren noch immer die Knie zitterten, wenn er einen solchen Eingriff vornehmen musste. "Der Fetozid berührt alle Beteiligten so sehr, weil durch den Ultraschall für alle sichtbar wird, was sich bei normalen Abtreibungen im Dunkeln abspielt."

Ungeborene können schon früh fühlen

Das tote Ungeborene lässt man im Körper der Mutter. Es wird entweder später bei der Geburt der Geschwister ausgeschieden oder, wie viele auf natürlichem Weg gestorbene Zwillinge oder Drillinge, vom Körper der Mutter absorbiert. Stirbt ein Zwilling im Mutterleib schon sehr früh, verschmilzt er meist fast spurlos mit der Plazenta.

Heute weiß man, dass ein Kind bereits in der zehnten Schwangerschaftswoche Berührungen empfindet. Dass es schon früh beginnt, zu tasten und seine Lippen zu nutzen. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass dieser Prozess schon viel früher beginnt. Sehr viel früher.

Das "Gedächtnis" der Zellen

Für die meisten Menschen ist es schwer vorstellbar, welche Rolle Zellen bei der Erinnerung und der Abspeicherung von Erlebtem spielen. Doch dieses Thema rückt immer mehr in den Fokus der Wissenschaft. Bei der Zeugung und der Embryonalentwicklung kommt ihm eine besondere Bedeutung zu. Einige Experten vertreten die Meinung, die Zelle fühle von Anfang an.

Ilka-Maria Thurmann, Diplompädagogin und Systemische Kinder- und Jugendlichentherapeutin in Bad Homburg, hat sich auf vorgeburtliche und geburtliche Traumata spezialisiert. Sie rät Schwangeren, sich vorzustellen, dass das Wesen, das sie in sich tragen, bereits fühlen kann. "Es kann agieren und interagieren. Vorgeburtliche Prägungen, besonders wenn wie beim Zwillingstod große Gefahr droht, beeinflussen das Leben und die Körperfunktionen."

Tod des Zwillingskindes kann unbewusst die Seele belasten

Die Erfahrungen, die ein ungeborenes Kind macht, sind in seinem Gesamtsystem, somit auch auf körperlicher Ebene gespeichert. Die internationale Fachgesellschaft für prä- und perinatale Psychologie und Medizin (ISPPM) beschäftigt sich mit der frühesten Phase der menschlichen Entwicklung, beginnend bei der Empfängnis bis nach der Geburt. Ihr Ziel ist es unter anderem, aufzuzeigen, welche Konsequenzen der Tod eines Zwillings auf das überlebende Kind haben kann. Vorstandsmitglied Johanna Schacht weist darauf hin, dass große therapeutische Erfahrung nötig ist, um das zu erkennen.

Dem verlorenen Zwilling einen Platz im Leben geben

Ein eindeutiges Symptom gibt es nicht, aber es gibt Hinweise: "Schwierige Beziehungsmuster, unrealistische Ansprüche an Symbiose, Klammern, sehr tiefgehende Ängste und vor allem Verlustängste können Anzeichen sein, ebenso wie Beziehungsunfähigkeit. Viele der allein zurückgelassenen Zwillinge fühlen sich fremd selbst unter Freunden und haben das Gefühl, immer einen Teil von sich suchen zu müssen. Sie schlafen nicht gerne alleine und empfinden eine tiefe Melancholie," sagt Thurmann.

Manche suchen den verlorenen Zwilling in einem Elternteil, andere in ihren Kindern, viele später in ihrem Partner. Sie kämpfen dann nicht nur selbst lebenslang mit den Folgen des Erlebten; wenn der Tod verschwiegen wird, sind sie oft auch Symptomträger eines massiven Familienproblems. "Dabei wäre es so wichtig, den toten Zwilling aus der Nichtexistenz zu holen und ihm im Familiensystem einen Platz zu geben", betont Schacht im Gespräch mit der Elternredaktion von t-online.de. "Aussprechen ist immer heilsam."

Das Trauma mit professioneller Hilfe aufarbeiten

Das bestätigt Thurmann: "Ich finde es sehr gut, bei Kindern mit der Wahrheit schon früh häppchenweise zu beginnen." Zur Unterstützung hat die Therapeutin gemeinsam mit der Illustratorin Uta Fischer das Bilderbuch "Am Anfang waren wir zu zweit" entwickelt, das ursprünglich für betroffene Kinder gedacht war, jetzt aber auch vielen Erwachsenen hilft.

"Allerdings muss man sehr sensibel mit dem Thema umgehen. Vor allem wenn der Tod nicht natürlich war." Für ein Kind ist es das Wichtigste, dass es seinen Eltern vertrauen kann. Aber das wird schwierig bei der Vorstellung, dass die Eltern den Tod eines Geschwisterkindes bewirkt haben oder dass es einen selbst hätte treffen können, wenn man in diesem Moment der Nadel näher gewesen wäre. Dabei sind Gefühle wie Scham, Reue und Schuld im Spiel. Professionelle Hilfe ist ratsam, "denn sonst besteht die Gefahr einer Retraumatisierung", warnt Schacht.

Doch nicht jeder überlebende Zwilling leidet. Thurmann hat auch Menschen erlebt, die auf die Nachricht, dass es einen verstorbenen Zwilling in ihrem Leben nachweislich gibt oder gegeben haben könnte, gelassen reagieren. "Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass es einen Unterschied machen kann, wann der zweite Zwilling stirbt. Ein später Kindstod, bei dem das lebende Kind noch Wochen mit dem toten Kind im Bauch lebt, hat oft schlimmere Auswirkungen als ein sehr früher Tod."

Fetozid ist eine heikle Frage der Ethik

Ein großes Problem ist die Reproduktionsmedizin. Obwohl es für manche Ärzte als Kunstfehler gilt, wenn es zu einer Schwangerschaft mit mehr als zwei Kindern kommt, passiert es trotzdem ziemlich häufig. Man versucht, alle Chancen zu nutzen und nimmt die Gefahr einer Mehrlingsschwangerschaft und damit den Fetozid in Kauf.

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Ein Problem, das vor allem durch schlechte Beratung und Behandlung entsteht, so kritisiert die Zentrale Ethik-Kommission der Bundesärztekammer. Es ist eine rechtliche Grauzone, in der alle Betroffenen nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden müssen. In einer Stellungnahme heißt es klar: "Das unselektive Abtöten der am leichtesten zugänglichen Feten ist (…) mit schweren ethischen und rechtlichen Problemen belastet und steht im Widerspruch zu ärztlichen Grundsätzen." Nicht zuletzt deshalb sprechen Experten vom dunkelsten Kapitel in der Reproduktionsmedizin.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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