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Skandal in den USA: Adoptivkinder werden in Internetforen verschachert


Adoptionsskandal
USA: Adoptivkinder werden in dubiosen Internetforen verschachert

reuters, Christian Rüttger, Ryan McNeill, Robin Respaut

Aktualisiert am 11.09.2013Lesedauer: 9 Min.
Adoptionsskandal in den USA aufgedeckt: Missbraucht statt behütet bei den neuen "Adoptiv-Eltern".Vergrößern des BildesAuch Anna Barnes wurde als 13-Jährige von ihren Eltern zur Adoption freigegeben. In den USA ist der Skandal aufgedeckt worden, dass unliebsame Adoptivkinder in illegalen Internetforen weitervermittelt werden. (Quelle: Richard Rodriguez/Reuters-bilder)

Unliebsame Adoptivkinder werden über dubiose Internetforen illegal verschachert und geraten in die Hände von Menschen, die sie missbrauchen, misshandeln und verwahrlosen lassen. Oft werden die Kinder mehrmals weitergereicht. Diesen Adoptionsskandal in den USA hat die Nachrichtenagentur Reuters aufgedeckt.

Zwei Jahre lang versuchten Todd und Melissa Puchalla, ihre Adoptivtochter Quita aus Liberia großzuziehen. Dann entschlossen sie sich, das Kind im Alter von 16 Jahren abzugeben. Neue Eltern zu finden, war kein Problem. Das Pärchen aus Wisconsin stellte einfach eine Anzeige ins Internet - und nicht einmal zwei Tage später meldeten sich die ersten Interessenten.

Adoptivkinder werden wie unerwünschte Haustiere weitergereicht

Der Teenager fand sich plötzlich mitten auf Amerikas Internet-Marktplatz für ungewollte Adoptivkinder wieder, wo Pflegeeltern etwa über Yahoo oder Facebook ein neues Zuhause für Jungs und Mädchen suchen, die sie bereuen aufgenommen zu haben. Es ist ein loses Schattennetzwerk von Foren und Onlinegruppen, in denen Eltern ihre Zöglinge manchmal wie Haustiere anpreisen und dann an Fremde weiterreichen - häufig an den Behörden vorbei und hin und wieder auch illegal, wie eine Recherche der Nachrichtenagentur Reuters ergab. Es ist ein weitgehend gesetzloser Raum, in dem die Bedürfnisse der Eltern oft über die der Kinder gestellt werden.

Viele Kinder, die auf diese Art abgeschoben werden, durchleiden schwere Misshandlungen. Ein Mädchen aus China sagt, sie sei nach dem Wechsel ihres Zuhauses gezwungen worden, ihr eigenes Grab zu schaufeln. Ein russisches Mädchen erzählt, ein Junge habe auf sie uriniert, nachdem die beiden Sex gehabt hätten. Sie war damals 13 und innerhalb von sechs Monaten drei Mal weitergereicht worden.

Kindesübergabe nach kurzem Treffen und einer Unterschrift

Häufig sind die Opfer Adoptivkinder aus anderen Ländern. So wie Quita. Auf die Anzeige ihrer Adoptiveltern reagierten Nicole und Calvin Eason schnell, beide um die 30. "Leute um mich rum finden, dass ich toll bin mit Kindern", schrieb Nicole Eason in einer E-Mail an Melissa Puchalla.

Ein paar Wochen später, am 4. Oktober 2008, kam es zur Übergabe in einer Wohnwagensiedlung im Nachbarstaat Illinois, wo die Easons damals wohnten. Anwälte oder Sozialarbeiter waren nicht zugegen. Die Puchallas unterschrieben lediglich eine beglaubigte Bescheinigung, in der zwei praktisch vollkommen fremde Menschen zu Quitas neuen Erziehungsberechtigten erklärt wurden. Der Besuch dauerte nur ein paar Stunden. Es war das erste und einzige Mal, dass sich die Paare trafen.

"Wundervolle" Adoptiveltern hatten Sorgerecht für eigene Kinder verloren

Melissa Puchalla sagt, die Easons hätten auf sie einen "wundervollen" Eindruck gemacht. Hätte sie etwas genauer hingeguckt, wäre sie vielleicht auf das gestoßen, was Reuters herausfand: Jahre zuvor hatte die Fürsorge Nicole Eason die eigenen biologischen Kinder, ein Sohn und eine Tochter, weggenommen. In Behördenunterlagen finden sich Hinweise auf "ernsthafte psychologische Probleme" und "eine Neigung zu Gewalt". 2006 hatte Nicole Eason mit einem anderen Mann, Randy Winslow, einen Zehnjährigen aufgenommen, ebenfalls online eingefädelt. Winslow wurde später verhaftet. Er sitzt eine 20-jährige Gefängnisstrafe ab wegen des Verbreitens und Empfangens von Kinderpornografie.

Gleich in der ersten Nacht forderten ihre neuen Erziehungsberechtigten sie auf, in ihr Bett zu kommen, sagt Quita heute. Die Easons geben an, ihr Bett niemals mit einem der von ihnen aufgenommenen Kinder geteilt zu haben. Doch Quita erinnert sich lebhaft: Nicole habe nackt geschlafen, sagt sie. Wenige Tage später versuchte Melissa Puchalla, die Easons zu erreichen - doch von ihnen und von Quita fehlte jede Spur. Zwei Wochen vergingen, bevor die Behörden ihren Aufenthaltsort herausfanden. Sie schickten Quita zurück nach Wisconsin - in einem Bus, alleine. Mehr unternahmen die Behörden nicht.

Inzwischen ist Quita 21. Sie dachte, sie komme an einen schöneren, sichereren Ort, als sie in den USA eintraf, sagt sie. "Es wurde ein Albtraum."

"Private re-homing": Jede Woche wird ein Adoptivkind inseriert

Reuters ging 5029 Einträge durch, die über einen Zeitraum von fünf Jahren in ein Internet-Forum auf Yahoo gestellt wurden. Im Schnitt wurde jede Woche ein Kind inseriert. Die meisten waren zwischen sechs und 14 Jahre alt, und mindestens 70 Prozent kamen im Ausland zur Welt - in Russland, China, Äthiopien oder der Ukraine. Das jüngste Kind war zehn Monate alt. Nachdem Reuters Yahoo auf "Adoption-from-Disruption" aufmerksam machte, nahm der Internet-Dienstleister diese sowie fünf weitere Gruppen vom Netz.

Die Praxis, die in den Gruppen betrieben wird, nennt sich "private re-homing" - ein Begriff, der normalerweise von Haustierbesitzern verwendet wird, die ein neues Herrchen oder Frauchen für ihre Tiere suchen. Ähnlich lesen sich manche Inserate für die Kinder: "Geboren im Oktober 2000 - dieser hübsche Junge, 'Rick', kam vor einem Jahr aus Indien. Er ist gehorsam und bestrebt, gefällig zu sein", heißt es in einer Anzeige.

Durch illegale Vermittlung entziehen sich Adoptiveltern der Kontrolle

Um auf legale Weise an ein Pflegekind in den USA zu gelangen, müssen Bewerber einige Hürden nehmen. Die Behörden prüfen, ob sie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen sind, es gibt Hausbesuche, und in den meisten Bundesstaaten muss an intensiven Vorbereitungskursen teilgenommen werden. Hinterher besuchen Sozialarbeiter regelmäßig die Familien um sicherzustellen, dass es dem Kind gutgeht.

In den inoffiziellen Online-Börsen findet all das nicht statt. Es gibt keine speziellen Gesetze, die greifen, ebenso keine gezielte Aufsicht durch die Behörden. Seit den späten 1990ern haben Amerikaner etwa 243.000 ausländische Kinder adoptiert. Es gibt jedoch keine Behörde, die systematisch prüft, was aus diesen Kindern wird, wenn sie erst mal in den USA sind.

Fast jedes fünfte Kind wird Opfer von Missbrauch

Ein Abkommen, das vorschreibt, dass sowohl die Eltern, die ein Kind abgeben, als auch die Aufnehmenden die Behörden informieren müssen, wenn das Kind von einem Bundsstaat in einen anderen wechselt, existiert zwar. 2011 schlug ein für die Einhaltung des Abkommens zuständiger Beamter sogar landesweit Alarm, indem er davor warnte, dass Adoptiveltern "ihre Kinder erheblichen Risiken" aussetzten, wenn sie diese in Online-Börsen inserierten. Verstöße werden jedoch - wenn überhaupt - unterschiedlich geahndet. In manchen Staaten gelten sie als kleinere Delikte, die oft nicht weiter verfolgt werden. In anderen Staaten sind gar keine Strafen vorgesehen.

Die Foren haben sich als Möglichkeit für Adoptiveltern etabliert, still und leise ihre Kinder abzugeben. Indem sie die Behörden außen vor lassen, umgehen sie einige der wichtigsten, aber zugleich zeitaufwendigsten Vorkehrungen, die eigentlich zum Schutz der Kinder gedacht sind. Die Prüfung der künftigen Eltern bleibt alleine denen überlassen, die ihre Kinder loswerden wollen. Dadurch steigt freilich das Risiko, dass die Kinder in die Hände gefährlicher Leute geraten. In der Gruppe, die Reuters analysierte, hieß es bei etwa 18 Prozent der angepriesenen Kinder, dass sie sexuellen oder körperlichen Missbrauch erlebt hätten.

Genau nach solchen Hinweisen oder etwa Angaben dazu, ob ein Kind schon einmal Drogen genommen habe oder sexuell auffällig geworden sei, hielten potenzielle Übeltäter Ausschau, sagt der Missbrauchsexperte Michael Seto von der Royal Ottawa Health Care Group in Kanada. In einer Online-Gruppe findet sich ein Kommentar, der die Foren als "Bauernhöfe" bezeichnet, in denen man sich "Kinder auswählen" könne.

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"Ich hätte mein Kind auch einem Serienmörder gegeben"

Vielen Eltern scheint das jedoch egal zu sein. "Ich hätte sie auch einem Serienmörder gegeben, so verzweifelt war ich", schreibt etwa eine Mutter in einem Internet-Eintrag über ihre zwölfjährige Tochter. Eine Frau, die einen Elfjährigen ins Netz stellte, den sie nach eigenen Angaben aus Guatemala adoptiert hatte, gibt zu: "Ich schäme mich total, das zu sagen, aber wir hassen diesen Jungen wirklich!"

Glenna Mueller inserierte im Juli 2006 ihren damals zehnjährigen Adoptivsohn im Internet. Nur wenige Stunden später traf sie Nicole Eason, die später auch Quita aus Liberia aufnehmen sollte, und deren Freund Randy Winslow vor einem Hotel unweit ihres Hauses in Appleton, Wisconsin. Sie übergab den beiden den Jungen zusammen mit einem Zettel, auf dem stand, dass sie für ihn sorgen dürften. "Ich wollte dieses Kind los sein", sagt Mueller, eine Ex-Mitarbeiterin einer Kindertagsstätte.

Wenige Monate später nahm sie den Jungen nach eigenen Angaben wieder bei sich auf, nachdem ihr die Kinderfürsorge klar gemacht hatte, dass sie festgenommen werden könne, weil sie die Behörden nicht informiert habe. Der Junge erzählte ihr später, dass er die meiste Zeit bei Randy Winslow in Illinois verbracht habe.

Kindesmissbrauch unter dem Deckmantel der Fürsorge

Während dieser Phase tauschte der damals 41-Jährige Gerichtsunterlagen zufolge kinderpornographisches Material aus. Nachdem der Junge wieder ausgezogen war, unterhielt sich Winslow in einem Chatroom prahlerisch über das Belästigen von Jungen und wie man den Missbrauch verheimlichen könne. "Man muss sie einfach so erziehen, dass sie denken, es ist in Ordnung, und Niemandem etwas erzählen", ließ er sich in einem Chat mit einem verdeckten Ermittler aus. Winslow ist inzwischen im Gefängnis.

Auch vorgeblich wohlmeinende Vermittler überlassen Kinder ihrem Schicksal

In den Foren finden sich zahlreiche Klagen darüber, dass aufgenommene Kinder gewalttätig wurden und andere Haushaltsmitglieder terrorisiert haben sollen. "Viele haben sich übernommen", sagt Tim Stowell, der im vergangenen Jahr die Facebook-Gruppe "Way Stations of Love" gegründet hat. Stowell sagt, er verfolgt damit zwei Absichten: Zum einen will der 60-jährige Vater von vier Adoptivkindern Eltern helfen zu verhindern, sich von ihren Kindern zu trennen. Klappt das nicht, soll die Facebook-Gruppe dazu beitragen, neue Familien für die Kinder zu finden. Die Gruppe hat 275 Mitglieder, und nur für diese ist sie sichtbar und zugänglich. Ohne Stowells Genehmigung kann man nicht beitreten.

Wie viele Mittelsmänner sagt aber auch Stowell, dass er das Überprüfen von potenziellen Abnehmern den Familien überlässt, die ein Kind anbieten. In einigen Fällen sei es so, dass die Eltern und Interessenten über seine Seite in Kontakt kämen und anschließend die Details in privaten E-Mails regelten. Was mit den Kindern passiere, wisse er nicht, sagt Stowell.

Kind abzugeben wegen zu großen Füßen und seltsamen Ohren

Megan Exon entschloss sich 2007, das Netzwerk "adoption_disruption" zu moderieren. Sie wollte Kindern helfen, ein besseres Zuhause zu finden, sagt sie. Wie Dutzende andere Mittler war sie keine Sozialarbeiterin oder Adoptionsexpertin, sondern einfach nur eine Amateurin - eine 41-jährige Mutter, die knapp zwei Jahre zuvor selbst an ein Kind über ein Online-Forum gelangt war. Der Vierjährige aus Taiwan sei abgegeben worden, weil seine damaligen Eltern seine Füße als zu groß und seine Ohren als seltsam aussehend empfunden hätten.

"Wir haben Leute einfach nur einander vorgestellt", sagt Exon. Das böse Erwachen kam, nachdem sie den Kontakt zu einem bestimmten Paar aus Illinois herstellte: Nicole und Calvin Eason. Die Easons kamen so an zwei Kinder, einen russischen Jungen und ein amerikanisches Mädchen. Als Exon von einer Frau, die die Anzeigenforen verfolgte, darauf aufmerksam gemacht wurde, dass die Easons womöglich andere Eltern belogen, um an deren Kinder zu kommen, wurde sie unruhig. Sie stieg in ihr Auto und fuhr die zehn Stunden von ihrem Haus in North Carolina nach Danville, wo die Easons lebten. Calvin Eason willigte schließlich ein und ließ Exon die beiden Kinder mitnehmen.

Das Mädchen ist heute 14, Exon will es adoptieren. Der Junge, Dmitri Stewart, ist 20 und lebt alleine. Er sagt, die Easons hätten ihn niemals zur Schule geschickt, weshalb er zu Hause blieb und Zigaretten rauchte. Einmal habe er Nicole Eason gefragt, warum die Zimmer keine Türen hätten. "Ich sehe Dir gerne beim Schlafen zu", habe Nicole geantwortet. Das Mädchen habe im Bett der Easons geschlafen.

Nach der Erfahrung mit den Easons beschloss Exon, das Online-Netzwerk nicht mehr zu moderieren. "Mir kam es so vor, als ob wir etwas Falsches taten", sagt sie.

Einschlägig bekannte Frau kommt immer wieder an fremde Kinder

Nicole Eason gelang es bislang, mindestens sechs Kinder über das Internet aufzunehmen - trotz ihrer Vergangenheit. Im Jahr 2000 etwa nahmen die Behörden ihr die neunmonatige biologische Tochter weg, nachdem das Mädchen mit einem Oberschenkelbruch ins Krankenhaus kam, "den die Eltern nicht erklären konnten", wie es einem Bericht der staatlichen Stellen in Massachusetts heißt. 2002 nahmen die Ämter in South Carolina Easons gerade einmal eine Woche alten Sohn in ihre Obhut. Im Bericht des Sheriffs wurde unter anderem ein "beklagenswerter Zustand" der Wohnung der Easons bemängelt.

In Interviews mit Reuters haben die Easons erklärt, dass die Behörden Nicole die biologischen Kinder nie weggenommen hätten. Vielmehr lebten sie immer noch bei den Easons. Die Behörden in South Carolina und Massachusetts erklärten dagegen auf Nachfrage, dass Eason die Kinder nie mehr zurückbekommen habe. Irgendwer lügt, sagt Nicole Eason dazu.

Machtfantasien auf Kosten der Kinder ausgelebt

Sie sagt auch, dass Dmitris Zimmer entgegen der Aussage des Kindes eine Falttür gehabt habe und dass das Mädchen, das die ehemalige Forenmoderatorin Exon adoptieren will, niemals in ihrem Bett geschlafen habe. Ihren Erziehungsstil beschreibt sie so: Man müsse einfach ein bisschen gemein sein. Sie würde durchaus mal damit drohen, ein Messer nach jemandem zu werfen oder ihn mit einem Schlauch zu scheuchen. Eason räumt ein, dass die meisten Kinder, die sie aufgenommen habe, nur kurz bei ihr gelebt hätten. Aber es bedeute ihr viel, Mutter zu sein. "Ich fühle mich dadurch wichtig. Ich schätze, das ist vielleicht mein psychologisches Problem, weißt Du. Ich meine, was wäre ich ohne sie?"

Vergangenen Monat lebten die Easons in einem Hotelzimmer in Tucson, Arizona. Aus ihrem Haus mussten sie ausziehen, weil sie nach Angaben des Vermieters zwei Monate lang keine Miete gezahlt hatten. Vor dem Hotel antwortete sie auf die Frage, ob sie vielleicht weitere Kindern aufnehmen werde: "Ja." Und dann fügt sie hinzu: "Da sind Kinder in meinem Zimmer."

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
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