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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Leben in der Endemie Am Geruch erkennen Sie die Corona-Gefahr
Nach der Aufhebung der meisten Corona-Maßnahmen leben wir jetzt mit dem Virus. Was sollten wir dennoch beibehalten, was können wir jetzt lassen? Zwei Experten geben Antworten.
Auch wenn vielerorts das Gefühl vermittelt wird, Corona sei vorbei: Die Inzidenzen sagen immer noch etwas anderes – und das, obwohl seit dieser Woche zum Beispiel nicht mehr an Schulen getestet wird. Die Regierung setzt auf die Eigenverantwortung der Bürger, was nicht unumstritten ist.
Wie viel Sorglosigkeit ist legitim und welche durch Corona erlernten Standards helfen uns – nicht nur im Kampf gegen Covid-19 – weiter? t-online fragte den Aerosolforscher Gerhard Scheuch und den Modellierer Kristan Schneider.
Wo brauchen wir weiter Masken?
Sie gelten als das Symbol der Pandemie. Seit Anfang April müssen sie jedoch vielerorts wie etwa im Einzelhandel nicht mehr getragen werden. In einer aktuellen Umfrage des Bundesinstituts für Risikobewertung gaben dennoch 87 Prozent der Deutschen an, in den vergangenen 14 Tagen einen Mund-Nasen-Schutz getragen zu haben. Der Wert sinkt: Vor Ostern waren es noch 94 Prozent. Wo brauchen wir sie wirklich noch?
"In geschlossenen und schlecht belüfteten Räumen sind sie angeraten", erklärt Kristan Schneider. "Die Viren halten sich hier mehrere Stunden in der Luft und gerade unter der ansteckenden Omikron-Variante kann ohne Maske eine Infektion sehr schnell erfolgen."
Auch der Aerosolforscher rät zum Masketragen in schlecht belüfteten, engen Räumen. "Überall dort, wo es muffig riecht, wenn Sie den Raum betreten, wo die Luft steht, ist eine Maske sinnvoll", so Scheuch. Er empfiehlt, auf das Bauchgefühl zu hören.
Masken sind dann am effektivsten, wenn jeder sie trägt
"Dort, wo Sie sich unwohl oder unsicher fühlen, setzen Sie die Maske auf. Aber Masken haben einen entscheidenden Fehler, der bei der Bewertung der Effektivität häufig übersehen wird: Sie werden nicht dort getragen, wo das Gros der Infektionen stattfindet – im Haushalt. Im ÖPNV und Fernverkehr mögen sie auch sinnvoll sein, aber niemand trägt in der eigenen Familie den ganzen Tag eine Maske."
Schneider weist jedoch darauf hin, dass der Schutz des Einzelnen etwa im ÖPNV dann massiv abnimmt, wenn nicht mehr alle Maske tragen. "Studien zeigen, dass eine Maske bei niedriger Virenlast auch dann noch gut schützen kann, wenn man der Einzige ist, der sie trägt. Ist die Virenlast in der Luft hoch, nimmt der Schutz jedoch trotz Maske ab und eine Infektion wird wahrscheinlicher. Darum ist es wichtig, dass alle Masken tragen."
Dr. Gerhard Scheuch ist Physiker und Aerosolwissenschaftler. Er berät zahlreiche Institutionen, unter anderem auch das Robert Koch-Institut.
Müssen wir weiter Abstand halten?
Einig sind sich beide Wissenschaftler, dass in Innenräumen ein Abstand zu fremden Personen sinnvoll ist. Scheuch: "Aber das darf nicht in groteske Formen ausarten: Am Flughafen am Check-in brav mit zwei Metern Abstand stehen und dann im Flugzeug ohne Abstand zu sitzen, ist natürlich nicht vermittelbar. Zumal es sich bei Flughäfen sowieso um sehr hohe Räume und Hallen handelt."
Wie sieht es draußen aus? Schneider: "Beim Schlangestehen draußen Abstand zu halten, tut niemandem weh und ist leicht umzusetzen. Ich würde dazu raten. Die ganze Drängelkultur hierzulande muss sowieso aufhören. Es geht auch nicht schneller voran, wenn ich den Atem meines Hintermannes in meinem Nacken spüre."
Scheuch verweist auf die relativ niedrige Infektionsquote draußen: "Sie liegt bei unter einem Prozent. Ich würde sagen: Flohmärkte, Freilufttheater und Co. – kein Problem."
Dr. Kristan Schneider ist Mathematikprofessor an der Hochschule Mittweida, Sachsen. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Modellierung epidemiologischer Prozesse.
Dürfen wir wieder Hände schütteln?
Scheuch: "Händeschütteln halte ich für unproblematisch. Auf jeden Fall ist es besser als diese Begrüßungen per Ellenbogen, die sich einige angewöhnt haben. Da kommen sich die Gesichter – und damit die Atemwege, über die das Virus übertragen wird – viel näher. Schmierinfektionen sind bei Corona sehr, sehr selten. Dann besser die Hand geben."
Häufigeres Händewaschen befürworten beide Wissenschaftler, Handdesinfektion sei jedoch überflüssig. Schneider: "Das Händewaschen schützt nicht nur vor Corona, wahrscheinlich in viel höherem Maße vor Bakterien wie Streptokokken, Pneumokokken oder Magen-Darm-Viren, die sich auf Oberflächen halten. Das ist immer eine gute Maßnahme."
Besser nicht zu häufig ins Gesicht fassen
Und Schneider verweist noch auf etwas anderes: "Gut wäre, wenn wir uns alle antrainieren könnten, uns nicht so häufig ins Gesicht zu fassen. Studien zeigen, dass wir uns durchschnittlich 23-mal in 30 Minuten im Gesicht berühren, 44 Prozent davon sind Berührungen der Schleimhäute. So wird nicht nur Corona, sondern werden auch andere Infektionen übertragen." Und: Nie in die Hand niesen, sondern am besten in die Ellenbeuge. Das galt allerdings auch schon vor Corona.
Wer sollte noch getestet werden?
Hier hat Scheuch eine eindeutige Position: "Die ganze Testerei muss aufhören. Wir haben in den vergangenen Jahren ja auch nicht jede erkältete Person getestet. Es ist eine enorme Material- und Ressourcenverschwendung, wir produzieren Unmengen an Müll und der Erkenntnisgewinn ist dazu im Vergleich eher marginal. Gerade Kinder produzieren viel, viel weniger Aerosole als Erwachsene und sind damit meist auch einfach viel weniger ansteckend. Kann man aufgeben und sich auf die Quote der Erkrankungen und Hospitalisierungen konzentrieren. Und wenn man krank ist, sollte man zu Hause bleiben, das gilt für Kinder und Erwachsene."
Tests für Risikogruppen
Einig sind sich beide, dass der Schutz der vulnerablen Gruppen etwa in Altenheimen oder Krankenhäusern durch Tests jedoch unbedingt erhalten bleiben muss. "Und ich würde mich auch testen, wenn ich ältere Menschen, die nicht in Pflegeeinrichtungen leben, besuchen gehe", so Schneider.
Was bringen Plexiglas-Trennscheiben in Büros oder an Supermarktkassen?
"Durch sie soll die Tröpfcheninfektion verhindert werden, das schützt nicht nur vor Corona, sondern auch vor anderen Atemwegsviren. Die Aerosole hält man damit aber nicht auf", so Schneider.
Und das bestätigt auch der Aerosolforscher. Er fordert sogar, die Trennscheiben in Büros besser nicht zu verwenden. "Raus damit, sie behindern eine effektive Durchlüftung. Lüften ist viel besser als diese Wände und eine aktive Luftzirkulation ist viel wirksamer, sie wird durch das Plexiglas eher behindert."
Hilft uns der Sommer und was kommt im Herbst?
"Wir wissen, dass es sich um ein saisonales Virus handelt, wie andere Viren auch. Die Infektionszahlen sind in den Sommermonaten niedriger", so Scheuch. "Wir wissen aber nicht ganz genau, warum das so ist. Ein Erklärungspunkt ist sicher, dass wir uns im Winter in Räumen aufhalten, die durch die Heizungsluft sehr trocken sind. Damit trocknen auch die Schleimhäute aus, und das begünstigt Infektionen." Halten wir uns häufiger draußen auf, hilft auch das Sommerwetter. "UV-Strahlung beschädigt Viren und macht sie inaktiv, das hemmt die Virusübertragung", so Schneider.
Ausblick auf den Herbst: Endemie oder neue Mutante?
Und: Kommt im Herbst nun doch die Killervariante, vor der Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) jüngst eindringlich warnte?
Scheuch: "Ich halte das für ein Märchen. Ich glaube nicht daran. Abgesehen davon haben wir bereits eine hohe Grundimmunität in der Bevölkerung durch Impfung und die hohe Quote der Genesenen. Wir haben jetzt eine Situation erreicht, in der Corona endemisch geworden ist, das Virus ist hier heimisch und richtet nicht mehr so großen Schaden an. Die Viren, die sich am effektivsten vermehren, setzen sich durch und das gelingt am besten, wenn sie den Wirt, also uns, möglichst aktiv und lebendig lassen."
Schneider ist hier nicht ganz so optimistisch: "Dass sich immer neue Varianten bilden, sehen wir jetzt bei BA.4 und BA.5 ist Südafrika. Ich schließe nicht aus, dass es auch noch mal eine Variante geben kann, die vielleicht vergleichbar ansteckend wie Omikron ist, aber in den Krankheitsverläufen schwerer. Es ist eine Abwägung, mit wie vielen täglichen Toten wir bereit sind zu leben – auch in einer Endemie."
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interviews mit Kristan Schneider und Gerhard Scheuch
- Nachrichtenagentur AFP
- Eigene Recherche