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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Flucht aus der Ukraine "Das Erlebte ist allgegenwärtig, die Tränen fließen leicht"
Zehntausende Menschen fliehen aus dem Krieg in der Ukraine. In welcher Verfassung kommen sie hier an? Und wie kann ihnen geholfen werden? Ein Psychologe, der sie betreut, gibt Einblicke.
Sie fliehen vor Bomben und Schüssen aus der Ukraine in die Nachbarländer und bis nach Deutschland. Für die Kriegsflüchtlinge, die dringend psychologische Betreuung brauchen, gibt es in Berlin die sogenannte Psychosoziale Erstdiagnostik- und Verweisberatungsstelle. Ihr Leiter ist der Psychologe Peter Bräunig. t-online fragte ihn nach seinen Erfahrungen mit den traumatisierten Menschen.
t-online: Herr Bräunig, welchen Leuten begegnen Sie in Ihrer Anlaufstelle?
Peter Bräunig: Menschen, die vor Gefahr, Bedrohung, Gewalt geflohen sind. Sie haben Trennungen und Verlusterfahrungen hinter sich. Mehrheitlich sind es Frauen und Kinder, die ihre Ehemänner, Brüder, aber auch Söhne zurücklassen mussten. Viele mussten auch ihre Eltern verlassen, die nicht weggehen können oder wollen.
Die Menschen sind oft Hals über Kopf aufgebrochen und wussten vielfach auf der Fahrt aus den Kriegsgebieten nicht, wohin sie kommen, wie weit sie fahren. Viele haben sich erst in der Westukraine entschieden, weiterzufahren nach Polen und dann auch nach Deutschland. Sie fahren im Grunde in eine ungewisse Zukunft.
In welcher Verfassung sind die Menschen?
Sie leiden an einer enormen psychischen Anspannung. Unruhe und innere Starre zugleich machen die Spezifik dieser Belastung und der daraus resultierenden Erschöpfung, Übermüdung und Entkräftung aus. Wenn wir von Dünnhäutigkeit sprechen, meinen wir damit leichter auslösbare, labilere Emotionen, vor allem Angst. Es kostet sichtliche Anstrengung, all diese seelischen Reaktionen wie gewohnt unter Kontrolle zu halten. Das Erlebte ist allgegenwärtig, die Tränen fließen leicht. Verloren gegangene Selbstverständlichkeiten und die unsichere Zukunft setzen den Geflüchteten darüber hinaus zu.
Sie sind auch ungläubig?
Mein Eindruck ist, viele Menschen haben sich einen Überfall durch Russland, durch das Brudervolk, nicht vorstellen können. Das führt zu dem Gefühl der Ohnmacht.
Dr. Peter Bräunig leitet die Psychosoziale Erstdiagnostik- und Verweisberatungsstelle, die das Berliner Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten in Kooperation mit dem Vivantes-Konzern eingerichtet. Er führt zudem das Zentrum für transkulturelle Psychiatrie, das auf Flüchtlinge spezialisiert ist.
Was ist wichtig im Kontakt zu diesen Menschen?
Zuhören ist das Wichtigste. Wir vermitteln ihnen Sicherheit und geben ihnen das Gefühl, jetzt beschützt zu sein. Die Betreuung durch Muttersprachler ist hier sehr hilfreich. So sehen die Geflüchteten auch: Sie sind auch in dem fremden Land nicht allein.
Die Mehrzahl der Menschen geht davon aus, nach Hause zurückkehren zu können, sie hoffen, dass der Krieg bald endet und sie wollen eigentlich nichts anderes als zurück in die Heimat.
Die Erfahrungen von Sirenenalarm und Fliegerangriffen sind sicher traumatisch ...
Ja, die Menschen schlafen schlecht. Die Symptome der Angst kommen meistens nachts. Am Tag versuchen sie oft, sich zusammenzunehmen. Aber nachts kommen die Bilder der Angst zurück.
Nun haben viele Deutsche in einem großen Zeichen der Hilfsbereitschaft Geflüchtete bei sich aufgenommen. Wie geht man richtig mit diesen traumatisierten Menschen um?
Wir sollten den geflüchteten Menschen Sicherheit und Schutz vermitteln, beruhigend wirken und ihnen helfen, Ängste zu bannen. Ausruhen, Beruhigung und Ermöglichung der Kommunikation mit den Angehörigen zu Hause wären sehr hilfreich. Seelische Labilisierung, ein Überreagieren oder scheinbar anlasslose Unruhe und Ängste sind typische Begleiterscheinungen bei Menschen mit akuten Belastungsreaktionen nach Traumatisierung.
Wichtig ist, sich auf diese spontanen Impulse einzustellen. Nachts kommen die bösen Geister der Angst häufiger, Reaktionen und Äußerungen darauf können wirklichkeitsfremd wirken, ohne gleich Ausdruck eines "Nervenzusammenbruchs" zu sein. Traumatisierte Menschen profitieren von sensibler Zuwendung. Fragen Sie: Soll ich hier bei dir sitzen bleiben? Soll ich das Licht aus- oder anlassen? Die Tür schließen oder nicht? Im Grunde, als würde man mit Kindern sprechen.
Wie lange hält eine solche Traumatisierung durch Krieg und Flucht an?
Das hängt von verschiedenen Faktoren ab. Wie bedrohlich war die Situation, wie lange war man ihr ausgesetzt? Und dann sind Menschen verschieden empfindlich. Die einen sind von Natur aus ängstlicher, andere mutiger.
Klar ist aber: Etwa 50 Prozent der aus Kriegsgebieten Geflüchteten haben das Risiko, eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln. Die kann unterschiedlich ausgeprägt sein. Wenn ein Mensch sehr heftigen Emotionen ausgesetzt ist, kann er sich ihnen unwillkürlich verschließen, sich seelisch taub fühlen, das Erlebte abspalten.
Die häufigsten mit Traumatisierung verbundenen Symptome sind Ängste, Depressivität und Schlafstörungen. Viele Menschen laborieren lange an diesen Erlebnissen. Möglichst frühe therapeutische Unterstützung trägt entschieden zur Linderung und Verkürzung der Leidenszeit bei.
Herr Bräunig, wir danken Ihnen für das Gespräch!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit Peter Bräunig
- Eigene Recherche