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Depressionen in der Familie: "Mein lieber Vater, ich flehe dich an!"


Wenn Angehörige depressiv sind
"Mein lieber Vater, ich flehe dich an!"


Aktualisiert am 10.03.2022Lesedauer: 4 Min.
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Es kann jeden treffen: Etwa fünf Millionen Menschen in Deutschland leiden an psychischen Erkrankungen.Vergrößern des Bildes
Es kann jeden treffen: Etwa fünf Millionen Menschen in Deutschland leiden an psychischen Erkrankungen. (Quelle: Ute Grabowsky/imago-images-bilder)

Depression ist eine schwere Erkrankung. Wenn ein Familienmitglied depressiv ist, leiden oft auch die Angehörigen. Unsere Autorin erzählt von der schweren Depression ihres Vaters und dem verlorenen Kampf gegen die Dunkelheit.

"Oma hat ständig schlechte Laune", sagte ich zu meinem Vater. Ich war ungefähr sechs oder sieben Jahre alt und sollte die Sommerferien bei meiner Großmutter verbringen. Ich saß auf einer Bank und wackelte mit den Beinen. Vor mir standen mein Vater und dessen Bruder und ich erinnere mich noch, dass beide rauchten und mein Vater mir den Aufenthalt schmackhaft machen wollte, während mein Onkel sagte: "Wir sind so eine furchtbare Depri-Familie!" Was mein Onkel damit meinte, verstand ich damals natürlich noch nicht.

Für mich als Kind war mein Vater der große Held. Wir picknickten gemeinsam im Wald, er unterrichtete mich in Pilzkunde, sprang für mich vom 10-Meter-Turm und brachte mir das Fahrradfahren bei.

Zu dieser Zeit war er ein ausgesprochen lustiger Mensch, der gern lachte und viele, meist sehr ironische Witze erzählte. Ob die große Dunkelheit damals schon in ihm schlummerte – ich weiß es bis heute nicht. Viele meiner Familienmitglieder, mich eingeschlossen, leiden an Depressionen. Kaum einer spricht darüber.

Wenn der eigene Vater ein Fremder wird

Die Depression kam schleichend. Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage: Sie hat mir meinen Vater genommen. Nach Jahren der Traurigkeit – Vater verließ das Haus schon lange nur noch für das Nötigste – hatte er aufgehört, mit der Familie zu reden. Er war buchstäblich auf dem Sofa zwischen den Bücherstapeln festgewachsen, die links und rechts von ihm immer höher wurden. Doch es gab sie immer wieder, diese kostbaren Tage, an denen wir Vater wiedererkannten und er fast wie früher war. Man hatte dann manchmal die Hoffnung, nur schlecht geträumt zu haben.

In diesem kurzen Glück lag für uns eine ganze Welt. Vater machte wieder Witze, er sähe mit seinem Bart schon aus wie Karl Marx. Alle lachten sich mit ihm kaputt. Wie ein Schwamm saugten wir jedes Lachen und jeden seiner Scherze auf, in der Hoffnung, der Glücksspeicher möge sich nicht so schnell erschöpfen wie beim letzten Mal. Wenn ein Familienmitglied depressiv ist, leiden sehr oft auch die Angehörigen.

Dauerhafter Ausnahmezustand

Und so sorgte das väterliche Schicksal von klein auf in mir für einen emotionalen Ausnahmezustand. Es gab nichts, was die Familie nicht versucht hätte. Manchmal, ich kann es nicht anders sagen, fühlte ich mich wie ein Tanzbär, der alle nur erdenklichen Tricks vollführte, um ein bisschen Fröhlichkeit aus ihm herauszukitzeln.

Diese Versuche wechselten sich ab mit Phasen der tiefen Verzweiflung, des Flehens und auch des Schreiens, dass sich mein Vater doch bitte wieder professionell helfen lassen solle. Einweisungen in die geschlossene psychiatrische Abteilung jedoch brachten nur kurzfristig Linderung, nie aber eine Heilung.

Verdacht auf schwere depressive Episode

Im letzten psychopathologischen Befund meines Vaters heißt es: Patient wach, Stimmung indifferent, sozialer Rückzug, keine Fremdaggressivität, Verdacht auf schwere depressive Episode. Fehlende Wirkung der angeordneten Medikation, derzeitiges Antidepressivum bei Verträglichkeit aufdosieren. Patient wird auf eigenen Wunsch in die Häuslichkeit entlassen.

Aus Tagen der Dunkelheit sind bei meinem Vater Monate und Jahre geworden. Dazwischen immer wieder die schönsten Momente auf kleinen Inseln des Lichts und jedes Mal die große Hoffnung, dieses Mal würde er es vielleicht schaffen.

An einem seiner Geburtstage, mein Vater hatte seit ein paar Wochen eine längere gute Phase, fragte ich ihn, was er sich denn noch so wünsche. Er antwortete: "Bloß nicht siebzig werden!"

Ich war in diesem Moment vollkommen überfordert und plapperte blödes Zeug, von wegen: "Mein lieber Vater, ich flehe dich an! Mutter ist wegen dir voller Kummer!" Und ich weiß noch, wie leid es ihm tat, dass die Familie wegen ihm litt. Aber an seiner Lebensmüdigkeit änderte das nichts.

Ohne Scham über Depressionen sprechen

Etwa fünf Millionen Menschen in Deutschland leiden an psychischen Erkrankungen. Die Mehrheit der Menschen in Deutschland muss sich mit dem Thema Depression im Lauf ihres Lebens auseinandersetzen: 23 Prozent erkranken selbst, 37 Prozent werden über Angehörige damit konfrontiert.

Über Depressionen – die eigenen oder die von Angehörigen – zu reden: Ich kann nur betonen, wie wichtig das ist! Zu wissen, dass man nicht allein ist, hilft und schafft ein wenig Gemeinschaftsgefühl.

Depressionen sind keine Peinlichkeit. Nach wie vor wird die Krankheit verharmlost oder abgetan als "morgens mit dem falschen Bein aufgestanden". Die meiste Unterstützung, auch zu lernen, ohne Scham über Depressionen zu sprechen, fand meine Familie in der deutschen Depressionshilfe.

Wir sagten nur "tschüss"

Als ich meinen Vater das letzte Mal sah, saß er wie immer auf dem Sofa zwischen seinen Bücherstapeln und war vertieft in eines seiner Bücher. Vielleicht hätte ich ihn zum Abschied noch einmal drücken sollen. Aber wir winkten uns nur zu und sagten "Tschüss!".

Am frühen Morgen eines warmen Augusttages fand mein Vater endlich seinen Frieden. Ich schloss seine Augen und gab ihm Küsse auf Stirn und Wange. Er wurde 65 Jahre alt. Es war ein langer, am Ende gnädiger Tod.

Hinweis: Hier finden Sie sofort und anonym Hilfe, falls Sie viel über den eigenen Tod nachdenken oder sich um einen Mitmenschen sorgen.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
Verwendete Quellen
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