Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Experte über Omikron-Welle Dann werden die Zahlen rasch sinken
Weiterhin steigen die Corona-Zahlen von Tag zu Tag. Doch wann ist der Höhepunkt erreicht? Und warum sind die Inzidenzen in den Bundesländern so unterschiedlich? Ein Experte gibt Antworten.
Die Omikron-Variante beschert dem Land bislang nicht für möglich gehaltene Inzidenzen. Dennoch ist das Infektionsgeschehen sehr unterschiedlich – einige Bundesländer melden bereits sinkende Inzidenzen. Wo befinden wir uns in der fünften Welle? Und könnte das einen baldigen Freedom Day wie in Dänemark bedeuten? t-online fragte den Mathematiker Kristan Schneider, der die weitere Entwicklung der Pandemie modelliert.
Herr Schneider, in den ersten Bundesländern sinken die Inzidenzen bereits, in anderen steigen sie weiter an. Woran liegt das?
Kristan Schneider: Das hat vor allem auch damit zu tun, wann die ansteckendere Omikron-Variante in den einzelnen Regionen aufgetaucht ist. Wir werden aber noch in diesem Monat bundesweit den Gipfel der Inzidenzen sehen. In einzelnen Bundesländern wird das etwas später ankommen. In Sachsen etwa erwarten wir den Rückgang der Inzidenzen Anfang bis Mitte März.
Was passiert danach?
Danach werden die Zahlen rasch sinken, wenn man die Kontaktbeschränkungen zunächst auf dem momentanen Niveau aufrechterhält.
Warum brauchen wir dann trotzdem noch Beschränkungen?
Die Kontaktbeschränkungen wurden ja beschlossen, um eine langsamere Durchseuchung sicherzustellen, das exponentielle Wachstum zu bremsen. So soll verhindert werden, dass in dieser Welle Menschen durch Masseninfektionen ausfallen oder die Infrastruktur erlahmt. Man wollte Zeit gewinnen, um auch das Gesundheitssystem nicht zu überlasten. Aber so wie die Zahlen steigen, werden sie dann auch wieder sinken.
Kristan Schneider ist Mathematik-Professor an der Hochschule Mittweida. Sein Forschungsschwerpunkt ist die Modellierung epidemiologischer Prozesse.
Wann kann man dann lockern?
Wenn die Zahlen kontinuierlich im Vergleich zum Vortag sinken. Haben sich die Zahlen dann im Vergleich zum Gipfel stark reduziert, ist die größte Gefahr zunächst gebannt. Momentan ist der Trend nicht rückläufig und die Zahlen können trügerisch sein.
Inwiefern trügerisch?
Das Infektionsgeschehen ist sehr hoch und übers Wochenende werden immer wenige Fälle erkannt. Sieht man sich das 7-Tage Mittel der Neuinfektionen von Freitag bis Dienstag an, scheinen die Zahlen rückläufig zu sein, obwohl das gar nicht so ist. Momentan sind die Zahlen noch nicht klar rückläufig, aber in zwei bis drei Wochen wird es so weit sein.
Kann es passieren, dass man danach wieder zurückrudern muss?
Ja, das kann passieren. Dann, wenn man sieht, dass die Fallzahlen doch wieder emporschnellen. Lockert man zu stark, kann das zu einer Trendwende führen. Man muss Schritt für Schritt lockern und sehen, ob der Abwärtstrend anhält. Bei Omikron ist einfach zu viel unbekannt.
Was macht die Einschätzung der Lage unter Omikron so heikel?
Das Heimtückische ist, dass Omikron so ansteckend ist, dass schon zu viele infiziert wurden, bevor man eine definitive Einschätzung über die Gefahren und mögliche Langzeitwirkungen treffen konnte.
Eine Besonderheit bei Omikron ist die Möglichkeit der Reinfektion: Es kann sein, dass bei Omikron eine Vorinfektion schlechter vor einer neuerlichen Infektion schützt, als das bei den vorangegangenen Varianten der Fall war. Wir wissen zu wenig über Langzeitfolgen. Außerdem scheint Omikron für Immunnaive – also für Menschen, die nicht geimpft oder bereits infiziert waren – gefährlich zu sein.
Gerade der Anstieg der Hospitalisierungen von Kindern in manchen Ländern ist bedenklich. Man muss aber auch klar sagen: Bei den Kindern ist auch in Deutschland die Durchseuchung durch die Präsenzpflicht an Schulen weit fortgeschritten.
Stimmen denn die Zahlen, die das Robert Koch-Institut uns jeden Tag präsentiert?
Den Zahlen kann man grundsätzlich sicherlich trauen, aber es gibt immer eine erhebliche Dunkelziffer. In den Modellen rechnen wir immer mit einer Dunkelziffer von etwa 40 Prozent der tatsächlichen Infektionen.
Das sind Fälle, die wir gar nicht kennen. Auch bei den bekannten Infektionsfällen, die also per PCR-Test bestätigt wurden, wird ja nun vielerorts die Kontaktnachverfolgung aufgegeben. In Restaurants etwa fällt die Dokumentationspflicht weg. Ein richtiger Schritt?
Das ist ja eher notgedrungen, weil die schiere Masse der Infektionen nicht mehr zu bewältigen ist. Aber eigentlich bremst die Kontaktnachverfolgung, die ja die Isolation von Infizierten nach sich zieht, das Infektionsgeschehen schon massiv.
Auch die 2G-Regel im Einzelhandel wird jetzt aufgegeben. Das ist aber nachvollziehbar, oder? Infektionen im Einzelhandel sind ja kaum nachgewiesen.
Hinter der Regel steckte ja etwas anders. Man versucht, die Ungeimpften vom Rest der Bevölkerung abzuschotten. Sodass sie die letzten wären, die sich infizieren können. Verbunden natürlich mit der Hoffnung, dass sie vielleicht doch geimpft sind, wenn sie dann in Kontakt mit dem Virus kommen.
Das mag auch effizient sein, wenn die Infektionszahlen insgesamt niedrig sind, da Geimpfte und Genesene das Virus weniger leicht übertragen können. Sind die Fallzahlen aber zu hoch, kommt es bei 2G notwendigerweise zu einer Vielzahl von infektiösen Kontakten unter den Genesenen und Geimpften untereinander. Diese übertragen das Virus dann zu Hause oder am Arbeitsplatz an Ungeimpfte.
Rechnen Sie eigentlich mit einem Freedom Day, wie er kürzlich zum Beispiel in Dänemark stattgefunden hat?
Nein, ich denke, die Maßnahmen werden schrittweise aufgehoben. Da wird nicht irgendwann ein Schalter umgelegt und alles ist wie vorher. In Dänemark sind die Zahlen aus dem Ruder gelaufen, in Deutschland noch nicht, diesen Vorteil sollte man nicht verspielen.
Herdenimmunität haben wir dann aber auch nach der Durchseuchung mit Omikron nicht.
Nein, aktuell sind wir auf dem Stand von etwa 12 Millionen Infektionsfällen seit Beginn der Pandemie in Deutschland. Mit der Dunkelziffer wären es vielleicht etwa 20 Millionen. Selbst wenn wir jetzt noch zwei Wochen die derzeitigen hohen Inzidenzen sehen, wird das für Herdenimmunität nicht ausreichen. An die glaubt aber sowieso keiner mehr.
Das hat auch mit den Impfstoffen zu tun?
Ja, mit ihnen können sich eben auch Geimpfte infizieren. Und auch die Möglichkeit der Reinfektion spielt da mit rein. Und dann ist noch nicht bekannt, ob die durch eine Infektion mit Omikron erworbene Immunität auch bei möglichen neuen oder zurückkehrenden Varianten wirkt.
Wie viel bringt dann eine Impfpflicht?
Die Impfpflicht ist sicherlich ein wichtiger Schritt in Richtung Normalität, aber die momentanen Impfstoffe schützen zu wenig vor Ansteckung und Übertragung, um damit Herdenimmunität zu erreichen.
Nehmen wir mal an – was ja einige Experten vorhersagen – Omikron ist die Variante, mit der Corona endemisch wird. Was bedeutet das?
Dann haben wir ein stabiles, kontinuierliches Infektionsgeschehen mit saisonalen Schwankungen. Auf welchem Niveau sich das stabile Infektionsgeschehen einpendelt, ist aber unklar. Sicherlich auf einem höheren als bei der Grippe.
Angenommen, nur ein Prozent der Bevölkerung ist im Herbst und Winter infiziert, dann würde das bedeuten, wir sähen immer noch 60.000 Neuinfektionen am Tag. Damit wird deutlich: Endemisch heißt eben nicht, dass wir uns mit Corona dann nicht mehr beschäftigen müssen.
Herr Schneider, wir danken Ihnen für das Gespräch!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit Kristan Schneider
- Eigene Recherche