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Corona-Pandemie | Kinderhospiz: So stellt die Krise die Arbeit auf den Kopf


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Seltener Gendefekt
Hospiz in der Pandemie: "Nichts ist mehr so, wie es war"


Aktualisiert am 14.02.2022Lesedauer: 6 Min.
Kinderhospiz (Symbolfoto): Wenn Kinder krank sind, benötigt häufig die gesamte Familie Unterstützung.Vergrößern des Bildes
Kinderhospiz (Symbolfoto): Wenn Kinder krank sind, benötigt häufig die gesamte Familie Unterstützung. (Quelle: ridvan_celik/getty-images-bilder)

Das Jahr 2018 hat für Familie Ullrich alles verändert: Papa Rainer stirbt plötzlich, Schwester Lea ist schwer krank. Unterstützung kommt mitten in der Corona-Krise – doch die Pandemie erschwert vieles.

Tourismus, Wirtschaft, Gesundheitssystem: Die Opfer der Corona-Krise sind fast in allen Bereichen des Lebens zu finden. Und so trifft die Pandemie auch diejenigen, die es ohnehin schwer haben: Familien mit schwer kranken Kindern. Unter ihnen ist Marion Ullrich mit ihren Kindern Lea und Philipp.

Seltener Gendefekt stellt das Leben auf den Kopf

Als Lea im September 2011 geboren wird, ist Mutter Marion zunächst nicht klar, was mit ihrer Tochter nicht stimmt. Als das Kind Tag und Nacht schreit, zittert und sich nicht beruhigen lässt, lässt sie Lea immer wieder untersuchen. "Wir sind von Arzt zu Arzt gefahren – eine Genanalyse wurde immer abgelehnt", erzählt Marion Ullrich.

Erst seit ihre Tochter sechs Jahre alt ist, ist klar, dass es sich bei ihrer schweren Behinderung um den Gendefekt IHPRF1 handelt. Ein äußerst seltenes Syndrom, das nur dann auftritt, wenn zwei Menschen mit dem gleichen seltenen Genfehler ein Kind zeugen. Weltweit gebe es lediglich 17 Fälle, erzählt die Mutter. In Deutschland kenne sie nur einen weiteren Fall. "Ich bin froh, dass ich die Maus hab", betont Marion Ullrich. Aber sie sagt auch: "Das ganze Leben ändert sich dadurch – nichts ist mehr so, wie es war." Wie alt Lea einmal wird, ist ungewiss.

IHPRF1-Syndrom

Das IHPRF1-Syndrom ist ein sehr seltener Gendefekt, der zu schweren Behinderungen führt. Das Syndrom kann in einigen Fällen bereits bei der Geburt offensichtlich sein: Das Gesicht ist dann eher dreieckig, die Stirn hervorstehend, die Nase klein, die Ohren erscheinen groß und tief angesetzt.

Die frühe Entwicklung des Kindes kann in den ersten sechs Monaten nahezu normal sein, danach werden Probleme wie ein langsames Wachstum offensichtlich. Die Patienten sind geistig beeinträchtigt und erreichen ersten Studien zufolge selten normale Meilensteine.

In Leas Fall zählen Muskelschwäche, Krampfanfälle und Schlafanfälle zu den Symptomen. Sie benötigt eine künstliche Ernährung, kann nicht laufen, nicht sprechen, ihre Sauerstoffsättigung fällt im Schlaf, sie hat Herzrhythmusstörungen und ist aggressiv gegen sich selbst und andere.

Plötzlicher Herztod des Vaters stürzt die Familie ins Chaos

Nur kurz nachdem endlich feststeht, woran ihre Tochter erkrankt ist, stirbt der Vater. Plötzlicher Herztod am 10. November 2018. Zu all dem Leid kommt ein großer Streit mit den Schwiegereltern.

Marion Ullrich zieht mit ihren beiden Kindern weg vom Land in die nächste größere Stadt. "Es fühlte sich schrecklich an: Mein Mann stirbt, meine Tochter ist behindert, dazu noch der Streit. Ich war unglaublich hilflos, das war die schlimmste Situation in meinem ganzen Leben", erzählt die junge Mutter unter Tränen.

Sohn Philipp erinnert sich ebenfalls nur ungern an die Jahre 2018 und 2019: "Ich kann mich schlecht daran erinnern, aber ich war traurig, dass Papa nicht mehr da war – und auch der Schulwechsel war schwer für mich."

Malteser Hilfsdienst als rettender Anker

Um den Tod ihres Mannes zu verarbeiten und auch um für die Kinder eine Trauerbegleitung zu erhalten, kommt Marion Ullrich schließlich zum Malteser Hilfsdienst, vermittelt über die Schule von Sohn Philipp, die sie fragt, ob sie Unterstützung benötige.

Beim Malteser Hilfsdienst wird gleichzeitig Ute Sander kontaktiert: Sie koordiniert die ehrenamtliche Arbeit des ambulanten Kinderhospizdienstes der Malteser in Fulda und dient dort als Ansprechpartnerin für Eltern, Kinder und Ehrenamtliche. "Mir ist wichtig, dass die Hilfe auf Augenhöhe funktioniert", erzählt Ute Sander. Es sei großes Glück, dass sich mit Familie Ullrich alles perfekt gefügt habe.

Zahlen zur Kinder- und Jugendhospizarbeit der Malteser (im Jahr 2020):

38 ambulante Kinder- und Jugendhospizdienste bundesweit
1 ambulante Palliativversorgung für Kinder und Jugendliche
484 begleitete kranke Kinder und Jugendliche
494 Kinder und Jugendliche in Einzel-Trauerbegleitungen
487 Kinder und Jugendliche in Trauergruppen

Nach ersten Gesprächen gibt es 2019 einen Ausflug für Philipp: eine Lama-Wanderung. Gemeinsam mit anderen Kindern, die entweder kranke Geschwister haben, Elternteile verloren haben oder aber auch selbst schwer erkrankt waren und nun genesen sind, erfährt der Elfjährige Ablenkung in der Geschwistergruppe des Hospizdienstes der Malteser. Es geht auf den Barfußpfad, zum Golf, ins Kindertheater und nach "Lamahausen".

Ehrenamtliche Hilfe kommt kurz vor der Pandemie

Mit Anke Grosch kommt schließlich auch Unterstützung direkt zu Familie Ullrich nach Hause. Kurz vor Weihnachten 2019 besucht die Ehrenamtliche die Familie das erste Mal: "Es war kurz vor Weihnachten und in der Wohnung habe ich Umzugskisten wahrgenommen, die sich gestapelt haben und einen schön gedeckten Tisch."

Letztlich seien ihr zwei Dinge besonders aufgefallen: Zum einen die Familie, die sich auf den Weg und es sich gemütlich macht. Auf der anderen Seite Philipp, "der zwar gesund ist, aber ganz schön viel in seinem Rucksack hat". Nicht nur, dass sein Vater tot und die Schwester schwer krank war, er musste auch umziehen von der ländlichen Idylle in die Stadtwohnung – und der Konflikt der Erwachsenen führte dazu, dass der Kontakt zu den Großeltern abbrach.

Hinter diesen Einsätzen von Ehrenamtlichen direkt in den Familien steckt viel Organisation: Die Ehrenamtlichen werden sorgfältig ausgewählt, geschult, in ihrer Arbeit durchgehend begleitet und unterstützt, berichtet Ute Sander. Für Anke Grosch ist Familie Ullrich die erste Familie, die sie begleitet.

Besonders beeindruckt sei sie von Marion Ullrich gewesen. Die 45-Jährige sei mit ihren zwei Kindern zwar alleine gewesen – ganz ohne Hilfe oder einen Pflegedienst. "Aber sie ist ganz ruhig geblieben, hat step by step geguckt, was zu tun ist."

Lockdown macht deutlich, wer Anke Groschs Hilfe besonders benötigt

Anfangs war für Anke Grosch gar nicht so eindeutig, wie sie der Familie helfen kann. Das Schwierigste war zunächst, einen Pflegedienst für Lea zu finden. Aber auch die Trauer, die Sorgen, der Konflikt mit den Großeltern standen auf einer langen Liste mit Problemen, für die eine Lösung zu finden war.

"Aber dann kam der Lockdown und dann hat sich ganz schnell herausgestellt, für wen ich verantwortlich war: Philipp", erinnert sich Anke Grosch an den Beginn der Pandemie 2020. Sofern es noch erlaubt war, haben sich die zwei regelmäßig getroffen, vor allem draußen, zwischendurch auch nur online.

In Zeiten von Corona ist die Unterstützung für diese Familien besonders herausfordernd, berichten die Malteser. Aus Angst vor Infektionen ziehen sich viele Betroffene noch mehr als andere aus dem sozialen Leben zurück. Es gilt, das Risiko einer zusätzlichen Ansteckung des erkrankten Kindes zu verringern. Das berichtet auch Marion Ullrich: "Die Angst war immer dabei – aber ich wusste ja, dass Anke die Regeln einhält und man kann sich ja auch beim Einkaufen anstecken."

Neben der Pflege des kranken Kindes müsse zudem für die Geschwisterkinder der Zugang "nach draußen" erhalten bleiben, appellieren Experten der Malteser. "Die Geschwister benötigen eine individuelle Ansprache, die ihnen Ängste nimmt und zugleich Mut macht, ihr eigenes Leben zu leben." Und das alles bekommt Philipp in Person von Anke Grosch.

Erste Probleme werden nach und nach gelöst

Nachdem Anke Grosch anfangs "zu viele Fragen gestellt" habe, erreicht sie schließlich, dass Philipp sich ihr öffnet. Mittlerweile wird die Familie regelmäßig von einem Pflegedienst für Tochter Lea unterstützt, Philipp hat wieder Kontakt zu seinen Großeltern, die Erwachsenen haben den Streit beigelegt. Auch für die Finanzierung einer Jahreskarte für Philipps Schulweg oder Entspannungsmöglichkeiten für Marion Ullrich hat Ute Sander gemeinsam mit Anke Grosch Lösungen gefunden. "Für all das bin ich unendlich dankbar", betont die 45-jährige Mutter.

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Dort, wo sie zu Beginn "Engel mit gebrochenen Flügeln" vorgefunden habe, sehe sie jetzt Engel, die ihre Flügel wieder ausbreiten können, beschreibt Anke Grosch Familie Ullrich. Deshalb ist ihr Einsatz dort auch bald beendet.

"Sie können wieder eigene Wege gehen – es ging bei dieser Begleitung weniger ums Sterben direkt, aber um ganz existenzielle Themen." Sie habe die Freude und Leichtigkeit in die Familie zurückgebracht, bestätigt auch Marion Ullrich, die "unglaublich dankbar" für alles ist, was der Hospizdienst für sie und ihre Kinder getan hat.

Deshalb sind sich beide einig: "Wir können auch nicht von jetzt auf gleich sagen, dass es das war." Es soll noch ein kleines Abschiedsfest geben. "Für zwei Jahre durfte ich Teil der Familie Ullrich sein. Nun heißt es vorsichtig und behutsam Abschied gestalten", kündigt Anke Grosch an.

Familien sind nicht ausreichend integriert

Doch die Corona-Krise hat in vielen Familien für große Probleme gesorgt, ähnlich wie es bei Familie Ullrich der Fall war. "Die Eltern sind ständig am Limit, um die Familie am Laufen zu halten. Sie benötigen zu bestimmten Zeiten mehr als andere Zugang zu den Hilfsangeboten unseres Gesundheits- und Sozialwesens. Es geht dabei um Hilfe bei der medizinischen und pflegerischen Versorgung, bei sozialrechtlichen Fragen und Behördengängen und in der Betreuung von gesunden Geschwisterkindern", sagt Elmar Pankau, Vorstand des Malteser Hilfsdienstes.

Dank vieler ehrenamtlich Aktiver und einer hohen Spendenbereitschaft sei "die von Herzen kommende Unterstützung für die Betroffenen spürbar. Ausreichend integriert in die Gesellschaft sind die Familien damit aber noch nicht. Es braucht dringend die coronabedingt verschobenen Gespräche mit den Krankenkassen, die die Belange der Kinder und Jugendlichen in den Fokus nehmen. Eine eigene Rahmenvereinbarung mit den Krankenkassen für die Kinder- und Jugendhospizarbeit muss jetzt zügig kommen," fordert der Malteser Vorstand.

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
Verwendete Quellen
  • Eigene Recherche
  • Interviews mit Marion Ullrich, Philipp Ullrich, Anke Grosch und Ute Sander
  • Pressemitteilung des Malteser Hilfsdienstes
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