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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ausblick auf Corona-Herbst Epidemiologe: "Schlechter als in unserem pessimistischsten Modell"
In den kommenden Wochen wird die vierte Welle in Deutschland erwartet. Danach könnte es mit den Anti-Corona-Maßnahmen vorbei sein. Ein Experte macht Hoffnung.
Die Impfquote steigt nur noch langsam, gleichzeitig warnen Wissenschaftler vor steigenden Inzidenzen und einer Zunahme der Intensivbettenbelegung mit Corona-Patienten. Wie geht es in und nach dem Herbst in Deutschland weiter? t-online hat den Epidemiologen Markus Scholz von der Universität Leipzig befragt.
t-online: Herr Scholz, warum sehen wir aktuell eine Stagnation der Inzidenzen? Kann uns das Hoffnung machen?
Markus Scholz: Wir beobachten aktuell tatsächlich ein Plateau, aber wir wissen: Das war im vorherigen Jahr um diese Zeit ganz genauso. Der bisherige Anstieg ist auf die Zahl der Reiserückkehrer zurückzuführen. Sie haben den zuletzt deutlichen Anstieg ausgemacht. Ab Oktober erreichen wir den Haupteffekt der Saisonalität dieses Virus, dann erwarten wir, dass auch hier die Zahlen stark ansteigen werden.
Erwarten Sie auch eine Zunahme der Belegung der Betten auf den Intensivstationen?
Man sieht das in den USA sehr deutlich, dort schnellt die Kurve in die Höhe. Es handelt sich hier um jüngere ungeimpfte Menschen. Die Fälle schwerer Erkrankungen und Todesfälle bei den Risikogruppen sind deutlich gesunken. Doch solange die Fallzahlen durch Ungeimpfte hoch bleiben, wird es auch immer wieder intensivpflichtige Fälle geben.
Die Älteren und Vorerkrankten sind immer noch sehr gefährdet, weil man sieht, dass die Immunität bei ihnen nach einigen Monaten deutlich abnimmt…
Ja, das sehen wir aus Daten aus Israel und Katar. Die, die zuerst geimpft wurden, aufgrund ihrer Priorisierung als ältere Menschen oder Immungeschwächte, haben nach einigen Monaten einen nachgewiesenermaßen schwächeren Immunschutz. Hier spricht also alles für die dritte Impfung, die in Israel ja auch bereits schon in großem Umfang stattfindet.
Prof. Dr. Markus Scholz leitet am Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie (IMISE) der Universität Leipzig eine Arbeitsgruppe zur Genetischen Statistik und Systembiologie. Seine Arbeitsgruppe untersucht aktuell auch die Corona-Pandemie.
In Deutschland sind die Impfquoten aber bescheiden im Vergleich zu anderen Ländern.
Ja, ich wäre auch dafür, da mehr Anreize zu schaffen. Und vielleicht auch finanzieller Art, der Druck auf Ungeimpfte muss schon erhöht werden. Ich finde auch, dass Menschen, die ungeimpft zum Beispiel in Pflegeheimen oder Krankenhäusern arbeiten, dann vielleicht für den Beruf nicht geeignet sind. Denn sie sollten ja die ihnen anvertrauten Personen, die häufig zur Hochrisikogruppe zählen, bestmöglich schützen.
Sie haben modelliert, wie sich die vierte Welle in Deutschland entwickeln könnte. Was ist Ihre Prognose?
Leider schlechter als wir es in unserem pessimistischsten Modell angenommen haben, vor allem da die Impfquote deutlich niedriger ist als von uns erwartet.
Also sind Inzidenzen von 400 bis 800 – wie Jens Spahn sie prognostiziert hat – durchaus denkbar?
Ja, aber die Zahlen bedeuten natürlich nicht mehr, dass damit automatisch eine Überlastung des Gesundheitssystems verbunden ist. Wir haben die Risikogruppen ja geschützt. Aber natürlich sind sie ein Frühwarnsystem für eine Belastung des Gesundheitssystems.
Wann glauben Sie, sind wir in Deutschland wieder in einem normalen Zustand, ohne drohende Lockdowns, ohne Kontaktbeschränkungen, Abstandspflicht etc.
Ich denke, im April ist das Corona-Thema in Deutschland weitgehend vorbei, wenn keine deutlich aggressiveren Varianten auftreten.
Aber die viel beschworene Herdenimmunität haben wir dann nicht, wenn man die Impfquoten anschaut.
Nein. Aber wir haben dann keine starke Belastung des Gesundheitssystems mehr.
Das heißt, dann fällt die Maskenpflicht und alles weitere?
Ja, so ist meine Prognose. Wir werden noch eine heftige Welle bekommen, die uns aber nicht an den Rand der Belastbarkeit führt und dann werden wir durch die dritte Impfung für die Risikogruppen und jährliche Auffrischungsimpfungen das Virus so weit in den Griff bekommen, dass es keine größeren Belastungen mehr verursacht.
Das heißt, Corona ist dann vorbei?
Nein, Corona wird es natürlich weltweit weiter geben. Das Virus ist nicht ausrottbar. Auch in Deutschland wird es weiter Erkrankungen, auch schwere Krankheitsverläufe und Todesfälle geben. Aber das Ausmaß wird so sein, dass man es zum allgemeinen Lebensrisiko zählen kann. Das wäre dann ähnlich wie die Grippetoten zum Beispiel.
Das heißt aber auch, der Rest wäre dann bei den Ungeimpften Durchseuchung?
Ja, in den Bevölkerungsgruppen, die nicht geimpft sind oder die nicht geimpft werden können, würde dann die Durchseuchung stattfinden. Es ist aber einer Gesellschaft nicht dauerhaft zuzumuten, strikte Anti-Corona-Maßnahmen aufrechtzuerhalten, wenn eine Minderheit sich nicht für eine Impfung entscheidet. Die Akzeptanz für solche Maßnahmen schwindet dann.
Haben Sie nicht die Befürchtung, neue Varianten aus den weitgehend noch ungeimpften Teilen der Welt, könnten uns heimsuchen und unseren Impferfolg zunichtemachen?
Das kann passieren, Deutschland kann sich nicht vom Rest der Welt abkoppeln, aber ich rechne nicht damit, dass neue Mutanten alles zunichtemachen, was bislang erreicht wurde. Natürlich ist es nicht auszuschließen. Dennoch bleibe ich dabei: Meine Prognose ist, dass wir nach der vierten Welle jetzt im Herbst/Winter ein Ende der Anti-Corona-Maßnahmen sehen werden. Und das halte ich auch für vernünftig.
Herr Scholz, wir danken Ihnen für das Gespräch!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit Markus Scholz
- Eigene Recherche