Schleichende Entpriorisierung Diese Gruppen werden schon bevorzugt geimpft
Die Debatte um die Priorisierung der Corona-Impfungen hat Fahrt aufgenommen. Doch die Reihenfolge ändert sich schon jetzt im Alltag. Wer profitiert von der allmählichen Entpriorisierung?
Vor der Bund-Länder-Runde zum Impfen übertrumpfen sich Politiker wieder mit Forderungen zur Aufhebung der Corona-Impfpriorisierung. "Impfen für alle" ist ein Slogan, der gut ankommt bei allen, die auf den erlösenden Piks im Arm warten. Nachdem Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) vorsichtig den Juni als Monat nannte, in dem die Impfpriorisierung fallen könne, legte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sofort nach – und forderte "Impfen für alle" schon im Mai.
Andere wie Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) warnen dagegen vor vorschnellen Versprechen – es gehe immer noch darum, schrittweise nach dem Grad der Gefährdung vorzugehen. Zudem hängt die Debatte stark von der Menge gelieferter Impfdosen ab. Aber je mehr Menschen aus den vulnerabelsten Gruppen geimpft sind, desto mehr entspannt sich die Diskussion. Im Alltag findet längst eine schleichende Entpriorisierung statt.
Astrazeneca: Priorisierung vielerorts bereits aufgehoben
Öffentlich diskutiert wurde vor allem der Umgang mit dem Impfstoff von Astrazeneca. Zunächst hoben Berlin und Nordrhein-Westfalen die Priorisierung für alle über 60 auf: Jede Person ab diesem Alter kann sich seither in einem Impfzentrum impfen lassen, unabhängig von Gefährdungsgruppen. Weil die Krankheitsverläufe bei den über 60-Jährigen im Schnitt schwerwiegender verlaufen, bedeutete dies eine Art abgespeckte Priorisierung.
Aber dann hoben mehrere Bundesländer wie Mecklenburg-Vorpommern die Priorisierung auch für unter 60-Jährige auf. Weitgehend unbekannt blieb, dass einige Bundesländer wie Bayern schon vorher eigens Impftage angesetzt hatten, an denen sie Astrazeneca für alle freigaben – der Ansturm war trotz der immer wieder berichteten Vorbehalte gegen dieses Vakzin jeweils riesig. Allerdings: Die Länder verfügen nicht mehr über große Mengen an Astrazeneca, der Nachschub ist ungewiss.
Immer neue Priorisierungsgruppen
Möglich ist mittlerweile auch eine Impfung für zwei Betreuungspersonen, die sich um einen älteren Menschen kümmern, der zu einer Priorisierungsgruppe zählt. Zunächst galt dies nur für Ältere mit Pflegestufe, was aber dann gestrichen wurde: Wer sich also als Betreuungsperson registrieren lässt, kann in einigen Bundesländern unabhängig von Alter und bevorzugten Berufsgruppen einen Impftermin ergattern.
Im Prinzip steckte auch hinter dieser Entscheidung für Betreuungspersonen ursprünglich eine Einstufung nach Gefährdung: Denn es sollten vor allem ältere Menschen vor Ansteckung geschützt werden. Allerdings hat von den über 80-Jährigen mittlerweile der größte Teil derer, die sich impfen lassen wollen, die Impfung auch erhalten. "Mehr als 50 Prozent der Über-60-Jährigen sind zudem in vielen Bundesländern bereits geimpft", heißt es im Gesundheitsministerium.
Hausärzte: Einzelfallentscheidungen helfen
Seit die Hausärzte in das Impfen einbezogen wurden, ist ohnehin ein schleichender Prozess der Entpriorisierung zu beobachten. Statt eines straffen Einladungssystems in Impfzentren nach Risikogruppen zählen in den Praxen letztlich Einzelfallentscheidungen – die nach der Impfverordnung übrigens ausdrücklich zugelassen sind.
Ärztevertreter betonen, dass man sich auch in den Arztpraxen danach richte, wer besonders dringend eine Impfung benötige. Aber abgesehen von der Lebenserfahrung, dass sich darunter auch immer wieder einmal Bekannte und Freunde befinden dürften, korrigieren Ärzte staatliche Vorgaben: So waren etwa Patienten mit früheren Lungenembolien nicht in der höchsten Risikogruppe aufgeführt. In Impfzentren hätten diese etwa in Berlin mit dem Einladungssystem keinen Termin erhalten.
Arztpraxen können also mit den Einzelfallentscheidungen ganz andere Prioritäten setzen – jeweils abweichend und individuell. In Bund-Länder-Gesundheitskreisen wird dies gerade angesichts der steigenden Mengen an verfügbaren Impfdosen aber nicht als Problem angesehen: "Jede Impfung ist letztlich ein Fortschritt", wird betont.
Hürden der Entpriorisierung
Allerdings gibt es auch Warnungen davor, dass eine völlige Entpriorisierung zuerst den gut Informierten und Gesunden nutzen könnte, die im Rennen um Impftermine die besten Chancen haben.
"Zusätzlich müssen wir aktiv dafür sorgen, dass etwa depressive Menschen eine Impfung bekommen", fordert deshalb der Psychiater Thomas Pollmächer in der "Zeit". Denn diese könnten sich möglicherweise gar nicht um eine Impfung kümmern. Ähnliches gelte, wenn Sprachbarrieren bestehen. Regierungssprecher Steffen Seibert verwies darauf, dass man deshalb über die Impfkampagne in verschiedenen Sprachen informiere.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Nachrichtenagentur Reuters