Psychiater zur Corona-Pandemie "Das Unbehagen könnte sich nach der Krise verschärfen"
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die Corona-Pandemie hat unseren Alltag auf den Kopf gestellt. Das wird auch Spuren in der Gesellschaft hinterlassen, glaubt der Psychiater Dr. Karsten Wolf. Welche, das erklärt er im Interview mit t-online.
Was passiert mit einer Gesellschaft, in der monatelang fast nichts mehr möglich ist, was vorher jahrzehntelang vollkommen normal war? Kinos, Schwimmbäder, Restaurants, Bars, Clubs und Geschäfte sind geschlossen, Konzerte, Partys und selbst Abende mit Freunden sind verboten: Die Corona-Pandemie verändert nicht nur das Leben jedes Einzelnen seit fast einem Jahr, sondern auch die Gesellschaft.
Der Psychiater Dr. Karsten Wolf glaubt, dass das sowohl positive als auch negative Veränderungen in der Gesellschaft hervorrufen könnte – dass aber das Leid einzelner depressiv Erkrankter nicht vernachlässigt werden darf. Im Interview mit t-online erklärt der Therapeut, welche Menschentypen sogar von der Krise profitieren könnten und warum möglicherweise neue Kunstformen entstehen.
t-online: Herr Wolf, mittlerweile leben wir seit mehr als einem Jahr im Ausnahmezustand. Was wird das langfristig mit der Gesellschaft insgesamt machen?
Dr. Karsten Wolf: Die Corona-Restriktionen bei uns haben das normale Leben heruntergefahren. Das heißt, wenn wir es wieder hochfahren, ist das eine Art Wiederbelebung. Und das wird für alle Menschen ganz unterschiedlich ausfallen. Dafür muss man sich anschauen, was man in der Corona-Krise am meisten vermisst. Ein großer gemeinsamer Nenner in der Gesellschaft ist das Fehlen von Präsenz. Also das physische Dabeisein, bei Partys, im Café, in der Schule. Es wird also einen riesigen Nachholbedarf geben bei allem, was mit Präsenz und Nähe zu tun hat.
Fehlt das jedem oder gibt es auch da Unterschiede?
Man kann die Menschen in zwei Gruppen unterteilen: Die einen sind die sogenannten "Novelty Seeker", also die, die raus müssen, immer etwas Neues brauchen. Das sind Abenteurer, viele sind Künstler – sie sind neugierig, können nicht lange sitzen bleiben. Sie sind hoch risikobereit und wenig ängstlich. Und auf der anderen Seite haben wir genau das Gegenteil, Menschen, die aber genauso wichtig für die Gesellschaft sind: die sogenannten "Harm Avoidance"-Persönlichkeiten, also Charaktere, die Schäden und Leid gezielt aus dem Weg gehen.
Was zeichnet diese Gruppe aus?
Die "Harm Avoidance“-Persönlichkeiten sind Menschen, die von Natur aus ängstlich und vorsichtig sind. Manche von diesen, die so sehr bei sich sind und auch nur wenige Kontakte brauchen, denen geht es jetzt sogar besser als vor der Corona-Krise. Die Novelty Seeker hingegen leiden extrem. Und das sind auch die, die nach der Öffnung das Ganze wiederbeleben. Das lässt psychologisch vermuten, dass dadurch neue kreative Räume entstehen werden.
Warum?
Diese Menschen werden nach der Krise risikobereiter und es wird vielleicht neue Musikrichtungen oder neue Kunstarten geben. Das wäre ein möglicher Wandel in der Gesellschaft.
Dr. Karsten Wolf ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Ärztlicher Direktor des Standorts Schloss Gracht sowie Vorstandsvorsitzender der Dr. Karsten Wolf AG, unter deren Dach private Akutkliniken für seelische Gesundheit betrieben werden. Seine Behandlungsfelder reichen von Depression, Burnout, Angst- und Zwangsstörungen über Trauma-Folgeerkrankungen bis hin zur dissoziativen und bipolaren Störung. Er ist zudem Gründer der "Präsenzbasierten Behandlung".
Das wäre ja ein positiver Wandel – droht auch ein negativer?
Wir hatten schon vor der Corona-Krise seit Jahren ein gewisses Unbehagen in der Gesellschaft. Es war ja nicht alles gut vorher. Manche waren zunehmend unzufrieden mit der politischen Situation und auf vielen Ebenen wurde es schwieriger: Wir hatten Klima-Demos, wir hatten Anti-Globalisierungs-Demos und vieles mehr. All das könnte sich nach der Pandemie noch einmal verschärfen. Deshalb muss man den Novelty Seekern Freiheiten lassen, damit sie sich neu entwickeln können. Das bietet also auch eine große Chance.
Wie wirkt sich die Krise auf Beziehungen – Partnerschaften, aber auch Freundschaften und familiäre Beziehungen – aus?
Was wir zurzeit sehen, ist etwas, das wir klassischerweise zu Weihnachten beobachten: Familie und Partner sind längere Zeit zusammen auf engem Raum. Und dann kommt dazu, dass häufig Konflikte aufbrechen, die vorher nicht gelebt werden konnten. Zum einen sehen wir Familien und Partnerschaften scheitern. Auf der anderen Seite gibt es aber auch Partnerschaften und Familien, die enger zusammenwachsen.
Wird das auch nach der Krise noch Folgen haben?
Ich glaube, dass diese Wiederbelebung von Präsenz zur Folge haben wird, dass Beziehungen, Bindungen und Partnerschaften noch wichtiger werden. Da wird sich etwas verändern. Das Problem dabei könnte sein, dass die psychisch Erkrankten auf der Strecke bleiben und dadurch die Suizidrate steigen könnte. Da kann man nur raten: Gehen Sie in Selbsthilfegruppen, holen Sie sich die professionelle Hilfe, die Sie brauchen und bleiben Sie nicht alleine.
Die Corona-Maßnahmen sind ja dann eigentlich das Gegenteil von dem, was bei Depressionen empfohlen wird: Welche Folgen hat das für Erkrankte?
Man muss wissen, dass Depressive Gefühlslosigkeit, Körperlosigkeit und Bindungslosigkeit empfinden. Das heißt, sie können keine Bindung mehr zu sich und anderen aufbauen. Dadurch fühlen sie sich ohnehin isoliert und vereinsamt. Das kann man unter dem Begriff des Präsenzmangels zusammenfassen. Das bedeutet auch, dass sie ein Übermaß an Rationalität haben: Also sie grübeln, grübeln, grübeln, denken ganz viel nach, fühlen aber nichts, sie sind nicht präsent im Raum. Und diese Präsenz, bei der man im Raum etwas spürt, die hat man eben auch nicht bei Videocalls. Die gibt es ausschließlich bei der Anwesenheit von zwei Körpern im Raum – das ist ein riesiger qualitativer Unterschied für das Gehirn.
Und dieser Unterschied ist für Depressive besonders schlimm?
Depressive leiden genau an dem Mangel dieser Präsenz – und die Corona-Maßnahmen verschlimmern das natürlich. Sie fördern noch die Distanz. Depressive und auch andere psychisch Erkrankte sind besonders sensibel, besonders angstvoll und brauchen deshalb eigentlich umso mehr eine körperliche Nähe und unmittelbare Präsenz. Für sie ist das wirklich eine Katastrophe. Viele Psychologen sehen deshalb bei ihren Patientinnen und Patienten eine Verschlechterung. Sie fühlen sich zu Hause eingekerkert und isoliert und Selbsthilfegruppen finden beispielsweise auch nicht mehr statt.
Ist schon absehbar, ob es im Nachgang der Pandemie mehr Suizide geben könnte?
Das wissen wir noch nicht. Wir kennen aber die Studien zu SARS und MERS damals – also den ersten Epidemien in Hong Kong und Kanada und jetzt gibt es auch aktuelle Daten aus Südkorea: Bei denen gibt es einen erheblichen Anstieg an Depressionen, Angst und Suizidalität. Aber wir sind in Deutschland, wir sind in Europa – man kann das nicht wirklich vergleichen. Ich persönlich befürchte, dass wir schon – verzögert – einen mindestens leichten Anstieg an Depressionen und auch Suiziden erleben werden.
Wie könnte man diesen Entwicklungen jetzt schon entgegensteuern?
Das Entscheidende ist: Viele Patienten fühlen sich jetzt schlechter und es gibt auch Menschen, die erst während der Pandemie Angst- und Depressionssymptome entwickelt haben. Wichtig ist immer der Appell: Gehen Sie zum Hausarzt oder direkt zum Psychiater in die Klinik – suchen Sie sich auf jeden Fall Hilfe! Leider ist das noch immer stigmatisiert, da geht man ungern hin. Aber wir Psychiater sind froh, wenn wir jemanden sehen, der nichts hat. Noch froher sind wir, wenn wir jemanden haben, der rechtzeitig kommt, sodass wir rechtzeitig helfen können. Das muss also niemandem peinlich sein. Wir kümmern uns und das ist wichtig, um rechtzeitig gegenzusteuern.
Was empfehlen Sie Menschen, die bei sich selbst depressive Verstimmungen durch den Lockdown feststellen?
Das Wichtigste ist, das ernst zu nehmen und es nicht zu verdrängen. Das Nächste ist, dass man sich unbedingt an andere Menschen wenden sollte. Das muss nicht der Partner sein, vielleicht auch ein guter Freund. Wichtig ist, dass es ein realer, präsenter Kontakt ist, mit dem man reden kann. Das hilft schon und macht vieles klarer. Das ist ganz wichtig auch für den Verlauf der Krankheit.
Was könnten Angehörige tun?
Da gilt eigentlich das Gleiche: ansprechen, in Kontakt treten, den Eindruck vermitteln, das ernst zu nehmen. Was auf keinen Fall hilft, ist, wenn man sagt, derjenige solle sich zusammenreißen und es sei doch alles nicht so schlimm. Und wenn man selbst vielleicht gar nicht so guten Kontakt zum Betroffenen hat, dann sollte man Verwandten oder engen Freunden Bescheid geben – oder auch dem Hausarzt, dass er mal ein Auge auf denjenigen haben soll.
Noch zwei kurze Fragen zum Arbeitsmarkt: Welche Auswirkungen kann die Pandemie auf das Bedürfnis nach Sicherheit auch auf dem Jobmarkt haben?
Auch hier sind zwei Effekte denkbar – und zwar je nach Persönlichkeit des Betroffenen. Diejenigen, die eher ängstlich sind, die haben ein stärkeres Bedürfnis nach Sicherheit – und die werden sich dann auch leichter ausnutzen lassen. Diejenigen, die aber jetzt erlebt haben, dass sie vom Homeoffice profitieren, dass sie eine bessere Work-Life-Balance haben, die werden sich das nicht noch einmal nehmen lassen. Die werden das auch künftig einfordern.
Müssen sich Arbeitgeber künftig auf veränderte Ansprüche einstellen?
Der Arbeitgeber würde gut daran tun, sich darauf einzustellen und zu sagen: Wir schaffen neue Formen, in denen sich jeder Einzelne wohlfühlt. Und zwar mit Blick auf die individuellen Bedürfnisse: Was braucht derjenige – vielleicht mehr Homeoffice, flexiblere Arbeitszeiten. Das wird kommen und das wird ganz wichtig sein.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Dr. Wolf.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.