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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Situation in Kliniken Was wir von der Corona-Notlage in Belgien lernen können
Bereits im Frühjahr zählte Belgien zu den besonders stark von Corona betroffenen Ländern. Jetzt steigen die Zahlen im Nachbarland wieder dramatisch an. Was könnte das für Deutschland bedeuten?
Mehr als 18.200 Neuinfektionen an einem Tag bei nur 11,5 Millionen Einwohnern: Belgien wird aktuell von einer zweiten Corona-Welle getroffen. Wissenschaftler vermuten, dass sich die Entwicklung auch auf Deutschland übertragen ließe. Was würde das für unser Gesundheitssystem bedeuten?
Wie ist die aktuelle Lage in Belgien?
Bisher (Stand: 26. Oktober 2020) gab es laut Johns Hopkins-Universität insgesamt mehr als 321.000 bestätigte Coronavirus-Infektionen in Belgien, die meisten davon in den Provinzen Lüttich (Liège), Brüssel und Hennegau (Hainaut). Mehr als 10.800 Menschen starben in unserem Nachbarland an Covid-19. Die Todesrate ist laut Johns Hopkins eine der höchsten weltweit.
Für den 20. Oktober wurde ein neuer Höchststand an Neuinfektionen berechnet, 18.217 Menschen haben sich an diesem Tag in Belgien nachweislich mit SARS-CoV-2 infiziert. Das staatliche Gesundheitsinstitut Sciensano vermeldete zuletzt einen Anstieg von 44 Prozent im Vergleich zur Woche davor.
Wie "tagesschau.de" berichtet, mussten zudem allein am 24. Oktober 585 neue Corona-Patienten in belgischen Kliniken aufgenommen werden. Einige davon müssen auf der Intensivstation behandelt werden. Das werde neben Nicht-Corona-Patienten zu einer "Extrembelastung" für das Krankenhauspersonal, Zustände wie im Frühjahr in Italien werden befürchtet. Laut Sciensano sind in Belgien aktuell 4.827 Covid-Patienten im Krankenhaus, 757 davon auf der Intensivstation.
Noch bewegen sich diese Zahlen leicht unter dem Niveau vom Frühjahr, die Kurve steigt jedoch auch hier stark an. Wie "spiegel.de" berichtet, sind jetzt jedoch auch viele der Ärzte und Pflegekräfte selbst infiziert oder in Quarantäne. Das Magazin zitiert den Präsidenten des belgischen Medizingewerkschaftsverbands, der erklärt, dass positiv getestete medizinische Fachkräfte gebeten werden, trotzdem zu arbeiten, sofern sie keine Symptome haben. 87 Prozent der Krankenhauskapazitäten seien in Belgien bereits in der vergangenen Woche belegt gewesen.
Im Kampf gegen die Pandemie traten am 26. Oktober in der Region Brüssel abermalige Verschärfungen der Regeln in Kraft. So gilt dort nun überall Maskenpflicht, die nächtliche Ausgangssperre beginnt bereits um 22 Uhr statt um Mitternacht.
Wie haben sich die Zahlen in Belgien entwickelt?
Während im Frühjahr in Belgien die Infektionszahlen nicht extrem hoch waren, fiel das Nachbarland im März/April vor allem durch besonders hohe Sterberaten auf. An den schlimmsten Tagen starben Anfang/Mitte April in Belgien mehr als 250 Menschen täglich am Coronavirus. Die Infektionszahlen bewegten sich jedoch nur im Bereich zwischen 1.500 und 3.000 täglichen Neuinfektionen.
Seit Anfang Oktober steigen jetzt die Infektionszahlen stark an, während die Todeszahlen unter dem Niveau vom Frühjahr bleiben. Bei mehr als 18.000 täglichen Neuinfektionen liegen die Todeszahlen momentan unter 50 pro Tag. Gleichzeitig sind allerdings die Zahlen der Patienten, die im Krankenhaus behandelt werden müssen, wieder im gleichen Maße angestiegen wie bereits im Frühjahr.
Wie ist die Lage in Deutschland im Vergleich?
Grundsätzlich muss betrachtet werden, dass Deutschland mehr als siebenmal so viele Einwohner wie Belgien hat. Im Vergleich zu Belgiens bisher höchster Tagesrate an Neuinfektionen von mehr als 18.000 hat das Robert Koch-Institut den bisher höchsten Tageswert am 24. Oktober mit vergleichsweise "nur" 14.714 Neuinfektionen vermeldet. Auch mit Blick auf die Gesamt-Infektionszahlen wird deutlich, dass Belgien Deutschland trotz deutlich geringerer Einwohnerzahlen fast eingeholt hat: Mehr als 321.000 bestätigte SARS-CoV-2 Infektionen gab es bisher in Belgien, während es in Deutschland laut Johns-Hopkins-Universität etwas mehr als 443.000 waren.
Reinhard Busse ist Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen an der TU Berlin und Co-Direktor des European Observatory on Health Systems and Policies. Der Wissenschaftler hat bereits Mitte Oktober Vergleiche zur Corona-Entwicklung in Deutschland und anderen europäischen Ländern hergestellt. Auch Belgien diente als Beispiel. Er blickt zunächst auf den Beginn der Pandemie, als es in vielen Ländern besonders viele Covid-19-Patienten gab, die in Krankenhäusern behandelt werden mussten. In Deutschland gab es damals eine Hospitalisierungsrate von etwa 20 Prozent, jeder fünfte dieser Patienten sei beatmungspflichtig gewesen, so Busse.
Um einen Vergleich zu Belgien herstellen zu können, hat Busse vor allem die Sieben-Tage-Inzidenz betrachtet. Belgien ist dabei in den vergangenen neun Wochen von 27 Neuinfektionen (pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche) auf zunächst 209 in der ersten und schließlich 412 in der zweiten Oktoberwoche gestiegen. Mittlerweile liegt die 14-Tage-Inzidenz bei 1.288 und hat sich somit um 220 Prozent gesteigert. Innerhalb von sieben Wochen hätten sich die Zahlen verdreizehnfacht, erklärt Busse.
Mitte Oktober lag die Sieben-Tage-Inzidenz in Deutschland hingegen noch bei Anfang 30. Belgien sei besonders interessant für einen Vergleich mit Deutschland, weil dort Anfang September ähnliche Werte vorlagen wie Mitte Oktober schließlich in Deutschland. Am 8. September hatte Belgien eine Inzidenz von 32.
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Für einen besseren Vergleich hat sich der Wissenschaftler zudem angeschaut, wie viele der Neuerkrankten in den anderen europäischen Ländern wie Belgien stationär behandelt werden müssen. Man sehe, "dass derzeit in allen Ländern der Prozentsatz der Neuinfizierten, die stationär aufgenommen werden, nur etwa bei drei bis sechs Prozent liegt." Ein Grund dafür sei natürlich die Altersstruktur, der aber nicht den "Großteil des einfach sehr unterschiedlichen Geschehens" erkläre.
Zusätzlich zu den Neuinfektionen hat Belgien Anfang September laut Busse auch ähnlich viele Covid-Patienten auf Intensivstationen behandelt, wie Deutschland Mitte Oktober. "Insofern würde ich sagen, wenn wir vorhersehen wollen, was auf uns zukommt, dann können wir uns mit Belgien vergleichen", schließt Busse. "Und man sieht dann, dass in den darauffolgenden Wochen, also in den fünf Wochen nachdem Belgien und die Niederlande so hohe Zahlen hatten, wie wir heute (Mitte Oktober) haben, dass sich die Krankenhausfälle ungefähr um den Faktor sechs beziehungsweise acht erhöht haben und die intensivmedizinischen Fälle um den Faktor fünf beziehungsweise sechs."
Wäre unser Gesundheitssystem mit einem Anstieg der Infektionszahlen wie in Belgien überfordert?
Überträgt man die Zahlen Belgiens von Mitte Oktober auf Deutschland, gäbe es hierzulande ungefähr 16.000 Covid-Patienten in den Krankenhäusern. "Wir haben knapp 500.000 Betten, also das sind drei Prozent unserer Krankenhausbetten. Und es wären 2.700 intensivmedizinisch Betreute, das sind unter zehn Prozent unserer Intensivbetten und immer noch ein paar Intensivbetten-Nutzungen weniger, als wir im April gesehen haben. Wir haben jetzt eine ganz andere Zahlendynamik", erklärt Busse. Er mahnt aber auch: "Aber natürlich, wenn es sich unbegrenzt nach oben entwickelt, werden die Betten auch immer mehr gefüllt."
Momentan wäre Deutschland folglich mit Zahlen wie in Belgien noch nicht direkt überfordert. Es sollte allerdings auch beachtet werden, dass nicht nur die reinen Zahlen der Kranken- und Intensivbetten ausschlaggebend sind, sondern auch die Auslastung des Personals. Das kritisiert beispielsweise auch der bekannte Gesundheits- und Krankenpfleger Alexander Jorde auf dem Nachrichtenportal Twitter:
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Und der aktuelle Tagesreport (Stand: 26. Oktober 2020) vom Register der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zeigt: Aktuell sind fast 1.400 Covid-19-Patienten in intensivmedizinischer Behandlung, 622 davon werden beatmet. Das sind 191 Neupatienten im Vergleich zum Vortag. Insgesamt sind von rund 30.000 Intensivbetten noch 8.400 frei, hinzu kommt eine "Notfallreserve" von etwa 12.000 Betten, die innerhalb von einer Woche bereitgestellt werden können. Momentan sieht es in Deutschland, zumindest was die Kapazitäten in den Krankenhäusern angeht, also noch unproblematisch aus. Steigen die Zahlen allerdings weiter so stark an wie in den vergangenen Wochen, könnte auch das deutsche Gesundheitssystem an seine Grenzen stoßen.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Johns Hopkins University
- Robert Koch-Institut: Situationsberichte
- SMC Press Briefing zum Thema "Wie gefährlich wird Covid19 im Winter?"; 19. Oktober 2020
- Sciensano, belgisches Institut für Gesundheit: Situationsberichte
- tagesschau.de: "Belgische Kliniken am Limit: Dieses Virus ist furchtbar"; 25. Oktober 2020
- spiegel.de: "Infizierte Ärzte sollen in Belgien angeblich trotzdem arbeiten"; 25. Oktober 2020
- Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI)
- Nachrichtenagentur dpa