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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krebsexpertin warnt Corona-Krise könnte eine Krebswelle ins Rollen bringen
Rückstaus bei OPs, verzögerte Therapien und späte Diagnosen: Der Lockdown hat gravierende Folgen für die Versorgung von Krebspatienten. Experten sind besorgt, dass es zu einem Anstieg krebsbedingter Todesfälle kommen könne, wenn keine Maßnahmen ergriffen werden und die Krebsvorsorge weiterhin vernachlässigt wird.
Wie wirkt sich die Corona-Pandemie auf die Behandlung anderer schwerer Krankheiten aus? t-online.de hat mit Dr. Susanne Weg-Remers, der Leiterin des Krebsinformationsdienstes am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg, über die aktuelle Situation gesprochen.
t-online.de: Frau Weg-Remers, welche Auswirkungen hatte der Corona-Lockdown auf die Versorgung von Krebspatienten?
Susanne Weg-Remers: Das Deutsche Krebsforschungszentrum, die Deutsche Krebshilfe und die Deutsche Krebsgesellschaft hatten Mitte März ein gemeinsames Frühwarnsystem aufgebaut, um Veränderungen in der onkologischen Versorgung während der Corona-Pandemie zu beobachten. Aus den wöchentlichen Erhebungen der gemeinsamen Taskforce wissen wir, dass die Behandlung trotz Einschränkungen grundsätzlich sichergestellt war und es keine systematischen oder bedrohlichen Versorgungsengpässe für Krebspatienten gab.
Über mehrere Wochen wurden allerdings viele Krebstherapien verschoben, unterbrochen oder verkürzt. Sehr viele Patientinnen und Patienten konnten bereits bewilligte Rehabilitationsmaßnahmen nicht antreten. Auch Termine zur Krebsdiagnostik oder Krebsfrüherkennung wurden verschoben. Das Mammografie-Screening, zum Beispiel, wurde zeitweise gar nicht angeboten.
Wurden auch wichtige Operationen oder Behandlungen abgesagt?
Über die Anfragen an den Krebsinformationsdienst des Deutschen Krebsforschungszentrums sind uns auch Einzelfälle bekannt, in denen eine dringliche Behandlung verschoben wurde. Wir wissen aus den Anfragen ebenfalls, dass sich viele Krebspatienten aus Angst vor einer Infektion gescheut haben, zum Arzt zu gehen, ebenso Menschen mit Warnzeichen für eine Krebserkrankung.
Wie sieht die aktuelle Situation in den Krankenhäusern aus?
Auch wenn die Krankenhäuser nun schrittweise zurück in den Regelbetrieb kehren und sich die Lage am ein oder anderen Standort etwas entspannt hat, sind wir noch nicht wieder ganz in der Normalität angelangt. Das wissen wir durch die Rückmeldungen aus den Comprehensive Cancer Centers in Deutschland.
Nach wie vor wertet die Taskforce auch die Anfragen aus, die die Krebsinformationsdienste der Deutschen Krebshilfe und des Deutschen Krebsforschungszentrums beantworten. Es ist zu erwarten, dass ein Teil der Einschränkungen uns noch eine lange Zeit begleiten wird, da zum Beispiel weiterhin eine bestimmte Zahl an Krankenhausbetten für Covid-19-Patienten vorgehalten werden muss.
Ist ein Anstieg krebsbedingter Todesfälle wahrscheinlich?
Gerade bei Krebserkrankungen stellt das Aufschieben von Diagnostikterminen ein hohes Risiko dar, da sich die Prognose bei Tumoren im fortgeschrittenen Stadium erheblich verschlechtert. Wie viele Patienten in den letzten zwei Monaten nicht behandelt wurden, ist derzeit unklar.
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Es besteht insgesamt die Gefahr, dass sich eine Bugwelle nicht erkannter und nicht behandelter Krebserkrankungen aufgebaut hat und noch weiter aufbaut. Diese muss zusätzlich zu den Patienten, die in naher Zukunft erkranken, sehr rasch abgebaut werden. Krebspatienten müssen jetzt mit Priorität untersucht werden, um spät diagnostizierte Fälle oder schwerwiegendere Verläufe zu vermeiden.
Wann kann man mit konkreten Zahlen rechnen?
Bis wir wirklich verlässliche Daten zu einem eventuellen Anstieg krebsbedingter Todesfälle haben, wird es noch dauern. Aber auszuschließen ist dies als Konsequenz der letzten Wochen tatsächlich nicht. Wenn wir die Bugwelle an aufgeschobenen Untersuchungen und Behandlungen weiterhin vor uns herschieben, dann müssen wir auch in Deutschland mit einer steigenden Zahl von krebsbedingten Todesfällen rechnen.
Menschen mit Krebs zählen zur Risikogruppe bei Covid-19. Doch sind alle gleichermaßen gefährdet?
Wie gefährdet Krebspatienten tatsächlich sind, hängt davon ab, ob sie gerade in Behandlung sind und ob diese Behandlung oder auch die Erkrankung selbst ihr Immunsystem schwächt. Auch gesundheitlich geschwächte Betroffene haben ein höheres Risiko für einen schweren Verlauf – das gilt nicht nur für eine Infektion mit SARS-CoV-2, sondern auch für andere Infektionen.
Wir vermuten, dass auch diejenigen Krebspatienten besonders gefährdet sind, die Probleme mit den Atemwegen haben, sei es wegen ihres Tumors oder wegen anderer Vor- oder Begleiterkrankungen. Da ältere Menschen häufiger an Krebs erkranken, zählen viele aufgrund ihres Alters zu der Gruppe mit höherem Risiko.
Was bedeutet eine späte Krebsdiagnose für die Patienten?
Krebs ist nicht immer ein Notfall. Doch die Verläufe und Therapieverfahren unterscheiden sich je nach Tumorart stark. Es gibt manchmal Erkrankungssituationen, in denen kein schnelles Handeln erforderlich ist. Prostatakrebs ist so ein Beispiel: Ist die Erkrankung noch im Frühstadium, spielt es nach bisherigem Wissen keine schwerwiegende Rolle, ob der Patient die Behandlung einige Wochen früher oder später beginnt. Frühe, langsam wachsende Tumoren kann man sogar nur engmaschig überwachen – die dazu notwendigen Kontrolltermine sollten allerdings gewährleistet sein.
In anderen Fällen ist eine dringende Behandlung geboten, um Heilungschancen nicht zu gefährden. Das würde zum Beispiel Patienten mit einer akuten Leukämie betreffen, die vielleicht Fieber haben, sich akut krank fühlen und deren Zustand sich sehr rasch verschlechtern kann. Daher benötigt auch in der aktuellen Krisensituation jede Patientin und jeder Patient eine Behandlung, die auf die individuelle Situation zugeschnitten ist.
Bei vielen krebsbedingten OPs gibt es schon jetzt einen Rückstau. Müssen die Patienten mit längeren Wartezeiten rechnen?
Es gibt Schätzungen des CovidSurg Collaboratives, eines Forschungsnetzwerks, das sich auf die Auswirkungen von Covid-19 auf die chirurgische Versorgung konzentriert, die deutschlandweit von etwa 52.000 aufgeschobenen Krebsoperationen während einer zwölfwöchigen Einschränkung der onkologischen Versorgung ausgehen.
Weiterhin wurde geschätzt, dass es bei einer 20-prozentigen Erhöhung der Operationen etwa 45 Wochen dauern wird, um eine solche Bugwelle an Operationen abzubauen.
Was wird getan, um diese Situation zu verbessern?
Wir müssen deshalb jetzt dringend einen Plan entwickeln, wie so bald wie möglich zusätzliche Kapazitäten zur Verfügung gestellt werden, um die aufgelaufenen Untersuchungen und Behandlungen bewältigen zu können. Die Politik muss hierzu sehr schnell die Rahmenbedingungen anpassen und regionale Clusterlösungen unterstützen.
Auch die Krebsvorsorge leidet unter der Pandemie. Aus Angst vor Covid-19 meiden viele das Wartezimmer. Wie beurteilen Sie das Aufschieben von Früherkennungsuntersuchungen?
Das ist eine Entscheidung, die Gesunde auf jeden Fall mit ihren Hausärzten oder Fachärzten klären sollten. Nachfragen lohnt sich auch aus einem anderen Grund: Viele Termine, die in den letzten Wochen ausfallen mussten, können jetzt neu vereinbart werden.
Auf jeden Fall gilt: Wer etwas Auffälliges bemerkt oder das Gefühl hat, körperlich stimmt etwas nicht, sollte zeitnah zum Arzt gehen.
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Deutsches Krebsforschungszentrum (DKFZ)
- Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie (DGHO)
- Krebsinformationsdienst (KID)
- Eigene Recherchen