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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Risiko neuer Corona-Infektionen Kekulé: "Halte nichts davon, jede Variante aufzubauschen"
Die Corona-Zahlen sinken, die Verläufe sind meist milder. Alexander Kekulé erklärt, ob uns das Virus trotzdem noch gefährlich werden könnte.
Die Bundesregierung hat eine neue Impfkampagne angestoßen, aber offensichtlich ist schon jetzt: Sie verfängt nicht. Aktuell empfiehlt die Ständige Impfkommission allen über 60-Jährigen und Risikogruppen die vierte Impfung. Doch die Hausärzte melden bei "Weitem nicht mehr so viele Anfragen der Patienten, wie es laut Ständiger Impfkommission empfohlen wäre". Hat Corona endlich seinen Schrecken verloren? t-online fragte den Virologen Alexander Kekulé.
t-online: Herr Kekulé, wie erklären Sie sich die derzeit rückläufigen Corona-Zahlen?
Alexander Kekulé: Seit der zweiten Oktoberwoche registriert das Robert Koch-Institut einen kontinuierlichen Rückgang der Neuinfektionen, der Hospitalisierungen, der Covid-Fälle auf den Intensivstationen und des Positivenanteils bei den PCR-Tests. Das gilt übrigens auch für München und Bayern: Das Oktoberfest hatte keine nachhaltige Auswirkung auf die Infektionswelle. Das RKI vermutet, dass die aktuelle Entspannung lediglich an den Herbstferien liegt. Ich bin da weniger pessimistisch.
Warum?
Wir hatten im Sommer eine massive Infektionswelle mit der Omikron-Untervariante BA.5 und die ist jetzt einfach durch. Dafür müssen nicht alle bereits immun gegen BA.5 sein. Es genügt auch, wenn sich der sozial besonders aktive Teil der Bevölkerung durchinfiziert hat, der sich am wenigsten vor Ansteckung schützen will oder schützen kann. Nach und nach wird BA.5 jetzt auch die anderen Menschen erreichen, aber das dauert deutlich länger. Deshalb steigen Pandemiewellen jeweils steil an und fallen nur langsam wieder ab.
Kann man bezüglich BA.5 also Entwarnung geben?
Menschen ohne besondere Risikofaktoren, die sich bereits einmal oder mehrmals mit Corona infiziert haben, müssen sich in der Tat keine Sorgen wegen der aktuellen BA.5-Variante machen. Das Risiko einer schweren oder tödlichen Erkrankung ist bei sonst gesunden Geimpften oder Genesenen bis etwa 70 Jahre sehr gering.
Wen kann es trotzdem noch härter treffen?
Die seltenen, schwersten Verläufe in jüngerem Alter hängen sehr wahrscheinlich mit einer genetischen Veranlagung zusammen. Wer einmal einen milden Covid-Verlauf hatte, wird deshalb auch beim nächsten Mal nicht daran sterben, sofern keine anderen Erkrankungen dazukommen.
Alexander Kekulé ist Professor für Medizinische Mikrobiologie und Virologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. In der Corona-Pandemie machten ihn zahlreiche TV-Auftritte sowie sein MDR-Podcast "Kekulés Corona-Kompass" bekannt.
Nun wird über neue Varianten berichtet. Die Buchstaben- und Zahlenkombinationen BQ.1.1., BF.7 und XBB geistern herum. Müssen wir uns wieder Sorgen machen?
Ich halte nichts davon, jede irgendwo auf der Welt entdeckte Variante aufzubauschen und als neue Sau durchs Dorf zu treiben, wie das insbesondere in den sozialen Medien gerade passiert. Klar ist: Das Virus passt sich weiterhin an seinen neuen Wirt an. Dafür muss es ständig jene Bestandteile verändern, die von unserem Immunsystem erkannt werden.
So entsteht das, was wir bei SARS-CoV-2 als explosionsartige Vermehrung von Omikron-Untervarianten beobachten. Wahrscheinlich machen das andere Erreger von Atemwegserkrankungen, wie Schnupfen- oder Erkältungsviren, nicht anders. Nur geben wir uns dort nicht die Mühe, die "Variantensuppe" akribisch zu beobachten wie bei dem neuen Coronavirus.
Das Coronavirus versucht aber offenbar, unseren bisher erlangten Immunschutz zu umgehen, ihn auszutricksen.
Man kann sich die jetzige Phase der Pandemie so vorstellen wie einen Wettkampf zwischen Virus und Wirt: Jeder sucht seinen Vorteil und mal hat der eine, mal der andere die Oberhand. Ob sich eine Variante regional durchsetzen kann, hängt insbesondere von der Immunitätslage der jeweiligen Bevölkerung ab.
In den USA liegt momentan eine Subvariante namens BA.4.6 mit 16 Prozent auf Platz zwei hinter BA.5. In Singapur ist gerade die aus BA.2 hervorgegangene Subvariante XBB durchgelaufen, sie wird jetzt in Australien und Japan vermehrt beobachtet. In Europa versuchen derzeit mehrere Abkömmlinge von BA.5, sich gegen ihren erfolgreichen Vorfahren durchzusetzen, darunter auch BF.7 und BQ.1.1. Wer das Rennen machen wird und ob es für eine massive Infektionswelle reicht, ist noch vollkommen unklar.
Kann es dem einzelnen Erkrankten nicht egal sein, welche Subvariante hinter der Infektion steckt?
Das ist alles superspannend für Virologen und Epidemiologen. Aber für alle anderen sind nur drei Dinge wichtig: Erstens war noch nie eine der neuen Subvarianten als solche stärker krankmachend als ihre Vorgänger. Zweitens führen aufeinanderfolgende Wellen jeweils zu leichteren Krankheitsverläufen, weil die Immunität der Bevölkerung zunimmt. Drittens steht leider fest, dass wir uns noch viele Jahre regelmäßig mit Corona anstecken werden – so wie dies auch bei anderen Atemwegsinfektionen der Fall ist. Die Wissenschaftler sollten sich deshalb wieder auf ihre Rolle als stille Wächter besinnen und nur dann Alarm schlagen, wenn es wirklich nötig ist.
Und wenn die Killervariante kommt, vor der Gesundheitsminister Karl Lauterbach gern mal warnt?
Das halte ich für äußerst unwahrscheinlich. Für das Virus brächte es keinen Vorteil, seinen Wirt kränker zu machen oder gar tödlicher zu wirken. Deshalb besteht kein Evolutionsdruck in diese Richtung. Ein geringes Restrisiko gibt es vor allem deshalb, weil sich SARS-CoV-2 auch in vielen Tierarten vermehren und weiterentwickeln kann.
Warum?
Es könnte etwa eine an ein Nagetier angepasste Variante auf den Menschen überspringen und hier stärker krankmachend wirken. In diesem Fall müssten wir tatsächlich erneut verschärfte Maßnahmen zur Eindämmung ergreifen.
Wie viel Angst müssen wir überhaupt noch vor Corona haben?
Außerhalb der Risikogruppen kann die große Mehrheit das Thema inzwischen entspannt betrachten, auch wenn wir alle uns wohl von Zeit zu Zeit wieder anstecken werden. Corona bleibt aber natürlich für alte Menschen und Immungeschwächte ein Problem. Doch für das Gros der Bevölkerung hat die Pandemie ihren Schrecken verloren.
Dann ist die Pandemie also vorbei, wie Stiko-Chef Mertens und der amerikanische Präsident sagen?
Das würde ja meiner Vorhersage entsprechen, die ich im vergangenen Spätsommer gemacht habe. Bevor wir einen Haken dahinter machen, sollten wir allerdings noch diesen Winter abwarten. Im Falle einer sehr massiven Infektionswelle könnten noch einmal viele Menschen aus den Risikogruppen sterben. Da wäre es zynisch, das Problem für beendet zu erklären.
Und welche Konsequenz sollte die Gesellschaft daraus ziehen?
Aus Solidarität mit den Risikogruppen sollte in engen, öffentlichen Räumen auch weiterhin die Maskenpflicht gelten. Die Pandemie nach epidemiologischer Definition wird übrigens noch eine Weile dauern, aber im Sinne einer nationalen und weltweiten Krisenlage ist die "Pandemie" möglicherweise bereits vorüber.
Dann wird Corona endemisch?
Eine klare Definition für den Übergang zwischen Epidemie und Endemie gibt es nicht. Der Aids-Erreger HIV hat sich in den 1980er-Jahren pandemisch ausgebreitet. Heute ist das Virus leider weltweit endemisch, weil wir es nicht geschafft haben, die Ausbreitung effektiv zu unterbinden. Wenn eine Krankheit in einer Region oder gar weltweit endemisch wurde, ist das also keine gute, sondern eine schlechte Nachricht.
Das gilt auch für Malaria – eine weitere, alles andere als harmlose Infektionskrankheit.
An der Malaria, die in rund 100 tropischen und subtropischen Ländern endemisch auftritt, sterben jährlich über 600.000 Menschen. Für die Bürger und die Politik geht es ja nicht um die wissenschaftlichen Definitionen, sondern darum, wann wir die Krisenlage für beendet erklären und wieder zu einem normalen Leben übergehen.
Nach der Definition, die ich dafür im April 2020 vorgeschlagen hatte, ist dies dann der Fall, wenn die Zahl der Covid-Toten sich nicht mehr wesentlich von der durch die Grippe verursachten Sterblichkeit unterscheidet. Bekanntlich gibt es durch Grippe in Deutschland bis zu 25.000 Tote pro Saison. Mit den Omikron-Untervarianten wird Corona deutlich darunter bleiben.
Nun hört man immer häufiger das unschöne Wort "Twindemie", also die Gefahr einer gleichzeitigen Corona- und Grippewelle. Wie schätzen Sie das Risiko ein?
Das findet eigentlich bereits statt und führt insbesondere in Krankenhäusern zu gefährlichem Personalausfall. Im Moment werden laut RKI bei etwa einem Viertel der Atemwegsinfektionen Influenzaviren nachgewiesen. Danach kommen gewöhnliche Schnupfenviren und auf Platz drei liegt SARS-CoV-2 mit etwa 13 Prozent. Am Anfang der Pandemie wurden – sehr selten – auch Doppelinfektionen mit SARS-CoV-2 und Influenzaviren beobachtet, das waren dann besonders schwer verlaufende Fälle. Ob dies auch für die Omikron-Untervarianten gilt, wissen wir nicht. Auf jeden Fall sollten sich die entsprechenden Risikogruppen rechtzeitig Auffrischimpfungen sowohl gegen Grippe als auch gegen Covid geben lassen.
Herr Kekulé, wir danken Ihnen für das Gespräch!
- Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
- Interview mit Alexander Kekulé
- Nachrichtenagentur dpa